Die Landstraße lang aber geßt eine alte Frau: Nackte Fühc, ein zusammengeschrumpftes Gesicht, Halbdürre Hände, wer weiß, wie alt sie ist! wer weiß, woher sie kommt, wohin sie geht! sie selber weiß das alles nicht. Aber sie hat Hunger, und sie friert. Dort ist ein Schlächterladen. Ein wohlhabender Mann arbeitet dort und viele Leute stehen, die bedient sein wollen. Die Alte will da hinein. Soll er sich stören lassen? Er winkt mit der Hand, kaum, daß sie den Fuß auf die Schwelle gesetzt hat. Er winkt, und sie versteht diesen Wii:?, und sie geht weiter. Sie geht weiter, hungernd und frierend. Es gibt so viel Leute in diesem Lande, die hungern und frieren, warum soll der Schlächter gerade mit dieser Alten sich abgeben? Wenig Menschen gehen die Landstraße, nur wer muß. Und zu denen gehört ein Blinder, der. Von einem Kind geführt, wohl Von weit herkommt. In dem Ort, wo so viel reiche Leute sind, denkt er, wird wohl für ihn etwas abfallen. Das Kind, eine Junge von etwa sechs Jahren, kommt auch zum Schlächter. Er kat keine Zeit. Es gibt so viel blinde Leute im Lande herum. Zufällig ist ein Dienstmädchen hier, das einkauft, eine Fremde, eine Russin oder vielleicht eine Deutsche , die hat Zeit. Sie gibt dem Knaben einen Saldo. Er will dafür etwas Wurst kaufen.»Für einen Saldo gibt's hier keine Wurst, das ist in den Bergen, aber hier nicht." Die Beiden gehen weiter die Landstraße lang. AuS einem Garten klingt fröhliche Musik. Der Blinde horcht auf. Er tritt an die Mauer und an das schöne eiserne Gartentor und bleibt dort stehen eine Weile. Tann koinuit ein Diener von drinnen und sagt »hm, daß er weiter gehen möge. Der Regen hört nicht auf und die Landstraße wird immer schmutziger. Da kommt ein Vettclmönch von Süden her. Er trägt Sandalen an den Füßen, auf dem Kopf ein Tuch- stückchen, kaum so groß wie eine Hand. Um den Leib eine braune Kutte, die er vielleicht schon dreißig bis vierzig Jahre tragen mag, zusammengehalten mit einem Strick. Er geht gebückt und er brummt etwas vor sich hin. Auch er tritt in den Schlächterladen. Alles tritt beiseite. Er kommt ganz vor an den Tisch, obwohl so viele Leute dastehen. Er sagt kein Wort, er holt ein braunes Säcklein hervor, ein Säcklein, bielleicht ebenso alt wie die Kutte. Die Frau wirst eine Münze hinein. Er murmelt etwas, steckt sein Säcklein ein und geht seines Weges weiter. Er geht da und dort hinein, und nirgends kehrt er auf der Schwelle um. Er kommt auch an den Garten, wo die Musik herausklingt. Er schlägt ein Kreuz und geht rascher die Landstraße lang. Fritz Sänger(Nervi). Tie Opium-Manie in Paris . Der Opiumgenuß ist in Frank« reich weit stärker verbreitet, als man gewöhnlich annimmt. Nicht nur in den Hafenstädten vor allem Brest und Toulon sucht er seine Opfer, sondern auch Parts hat Opiumstuben in allen Stadt« teilen. Ein soeben erschienenes Buch:.Der Opium in Paris " von Delphi F a b r i c e zieht den Schleier von dieser verborgenen Welt. Der Autor sührt den Leser in die eleganten wie in die schmutzigen Schlupfwinkel des Opiumlasters denn die Weltstadt har deren für alle Stände und Portemonnaies. Bon.Madame Lea", die meiner zumeist von Theaterleuten und Boulevardflaneuren besuchten Bar ganz nahe vom Boulevard des Italiens, im Zentrum der Stadt thront..Schumschum" zu ö Frank das Glas ausschänkt und dem Gast die Pfeife und den ganzen Rauchapparat zur Verfügung stellt, folgen wir ihm zur.echten" Vikomtesse im teueren Quartier des TerneS, wo namentlich Damen der.Gesellschaft" ver- kehren. Hier zahlt man monatlich, von 600 Frank angefangen. Wohlgcmerkt: angefangen. Ein früherer Rittmeister der afrikanischen Jäger hat in dem Hause in einem halben Jahre B0 000 Frank gelassen, seine Gesundheit und Venninft dazu. Ein anderer Stammgast, die Frau eines hohen ägyptischen Beamten, warf sich aus dem Fenster, weil sie die großen Summen nicht auf- brachte, die sie. um bei der Vikomtesse zu verkehren, entliehen hatte. Ein anderes.vornehmes" Haus wird von einem ehemaligen Sekretär der chinesischen Gesandtschaft gehalten. Hier verkehren Diplomaten, namentlich auch Asiaren. Eine romantisch auf einer Seineinsel gelegene Villa bei Billaucourt sieht Opiumraucher und «trinker aus der Literatur und der Halbwelt. Im Quartier Latin versammelt eine russische Gräfin, die nebenbei Theosophin ist. eine Gesellschaft von mehr oder weniger Intellektuellen". Man zitiert Geister und raucht Benares , ein indisches Opium. Der Verfasser kennt auch ein Opiumhaus, da? mit einer Badeanstalt von einer an das Mittelalter erinnernden Sittenfreiheit verbunden ist. DaS schrecklichste Bild gewährt aber die Opinmhöhle in Saint Oven. Sie ist auf den»kleinen Mann" berechnet, die Masie muß den Profit bringen. Wer das Stichwort sagt:.Zurück von Tonking", wird in einen großen, mit elenden Bnddhastatuetten und jämmerlichenjapanischen" Bildern aus- gestatteten, schmutzigen Raum geführt. Hier liegen in einer feuchten Kelleratmosphäre menschliche Körper nebeneinander ausgestreckt, mit gelüfteten Kleidern, die Pfeife im Munde. Es find Arbeiter, kleine Geschäftsleute. Beamte. Die Saat, die an dieser Stätte gepflanzt wird, hat schon schreckliche Früchte gebracht. Einer der Stammgäste, ein Fleischer, hat vor einiger Zeit in einem Anfalle von Raserei seine Kinder abgeschlachtet, nachdem er in ein paar Monaten durch den Genuß des Giftes körperlich und moralisch zugrunde gerichtet worden war. Wenn man die Entwickelung der Opiumrausche in Frankreich ver- folgt, so bleibt kein Zweifel über ihren Zusammenhang mit de» Kolonialpolitik, von den müßigen Genüßlingen aus derGesell« schast" abgesehen, hat sie ihre Opfer vor allem im Volke. Es find zumeist ehemalige Matrosen und Kolonialsoldaten, die im fernen Osten dieses Laster kennen gelernt haben und der Gelegenheit, eS in der Heimat fortzusetzen, nicht widerstehen können. Die Opium- manie ist jedenfalls ein Kapitel, da? nicht übersehen werden darf, wenn man die vielgerühmte Wirkung der Kolonialpolitik aus die nationale Energie in allen ihren Elementen studieren will. Literarisches. Fritz Reuter -Kalender auf das Jahr 1903. Heran?« gegeben von Karl Theodor Gaedertz (Dietrichscher Verlag Theoder Weicher, Leipzig .) In erster Linie soll dieser Kalender, der nun im zweiten Jahrgang steht, wohl daS Niederdeulschtuin zu­sammen halten, in zweiter aber auch der großen Fritz Reuter-Ge» meinde dienen. Daß sie heute, �darf man sagen, beinahe durch daS ganze deutsche Volk repräsentiert wird, ist eine Tatsache, obwohl der Volks- tümlichkeit des plattdeutschen Dialektklassikers die Dialektzone südlich der Mainlinie diametral entgegen steht. Daß Karl Theodor Gaedertz für dies Unternehmen der rechte Mann ist, braucht bei dem bekannten Renter- Forscher nicht besonders betont zu werden. So bringt deim auch wieder der neue Jahr» gang manches Interessante. Neben Aussprüchen und Ten- tenzen aus Renters Werken, sorsam den einzelnen Monaten zugegeben. treffen wir biographische Beiträge(Luise Reuter in Briese», Reuters Testament, vor fünfzig Jahren totgesagt. Trebbin : wie schuf Reuter seineLäuschen und Rimels"?) mancherlei Art; aber auch den Torso der letzten Geschichte NeuterS:.WoanS Franz Znnkel tau'ne Dochter kämm"; nichts Bedeutendes zwar uno darum unbcendigt liegen geblieben. Bildnisse des Dichterpaares, unter anderen nach Zeichnungen und OelporwätS von Pietsch, Schloepke, photographische Aufnahmen jener und der Stätten, wo die Reuters gewohnt haben, solvie sonstige Originalzeichnnugen, vom Dichter oder von I. Bahr herrührend, erhöhen den ohnehin schon reichen Inhalt des Kalenders noch um ein erkleckliches. So kann man diesem denn eine fröhliche Fahrt wünschen. e. k. Mustk. Der.Berliner Volkschor" wächst immer mehr unk» mehr über das Niveau eines bloßen Singvereins hinaus zu einer wahrhaft musik- und schließlich sozialpädagogischen Einrichtung heran. In der nächsten Woche will er uns daS musikalische Welt- gemälde Haydns,Die Schöpfung", vorführen. Wie schon in früheren Fällen, so veranstaltete er auch diesmal einenEin- sührungsabend" kür seine Mitglieder. Wer da am Montag im Gewerlschaftshause sich den Darlegungen Dr. Zanders an» vertraute, konnte ein gutes Stück von musikalischer Kenntnis unb zugleich von musikalischem Fühlen gewinnen. Mit Recht betonte der Vortragende, daß ein genaueres Erkennen der Bestandteile eines Kunstwerkes das Wohlgefallen keineswegs hemmt, sondern vielmehr fördert. Waren schon bisher diese Einführungsabende des VolkschoreS darauf angelegt, die ausführenden und zuhörenden Teilnehmer in das Verständnis des jeweiligen Werkes und Meisters cinzu- führen, so geschah dies jetzt auf eine mittelbare Weise mit be- sonderem Glück. Es galt, in das Wesen deS Orchesters einzu» dringen, mit dem ja der Chor in Oratorien wie derSchöpfung" zusammenzuwirken hat. Einen solchen Ueberblick verschafft ein Redner oder selbst eine Lektüre nicht schwer. Allein die«ft über- sehcne Trivialität, daß Musik eine Sache des Hörens ist, verlangt auch hier ein Mehr. Unser Musikpädagoge ließ nun zahlreichs Orchestcrinstrumente nach der Reihe und auch im Zusammcnspiele vorführen, mit Erläuterungen des Wichtigsten ihrer Konstruktion usw. und nicht zuletzt der verschiedenen Klangfarben, die auf einem und demselben Instrumente durch mannigfache Mittel hervor» zubringen sind. Diesmal handelte cS sich besonders um die.Holzbläser": wir lernten die Flöte und die Oboe, die Klarinette und das Fagott kennen und weideten uns auch an dem weichen Tone des ihnen am nächsten stehenden BlcchblaSinstrumentes: deS Harnes. Dann vereinigten sich die vier zuletzt genannten Instrumente mit dem Klavier zur Vorführung zweier klassischer Werke, die sonst nicht häufig oder nur in einer schwächeren Umformung als Klavier- quartette zu hören sind. Diese Klavierquintette von Mozart und Beethoven konnten zugleich eine Mahnung sein, wieviel wir heute durch die Vernachlässigung der Blasinstrumente im Kammermusikspiel und in der privaten Musikbildung verloren haben. Ob unter den etwa 25l>(?) Musikschulen Berlins auch nun einige den Zanderschcn Anschauungs- oder Anbörungsunterricht für die breitere Menge der Musikjünger pflegen,»«rf man vorerst bezweifeln. Um so freudiger sehen wir einer weiteren Eni- Wickelung dieses Beginnens und erst recht einem weiteren Auf» nehmen solcher bequemer Bildungsgaben entzegen. Wenn wir überzeugt sind, daß unser Volkschor«uf dem rechten Wege ist und daß an derartigem vorläufig wahrlich nicht genu> dargeboten werden kann, so möchten wir auch noch auf den allbekannten und stets neuen Wert der Wiederholung im Lehren und Lernen auf» mcrksam machen. Erst in fortgesetzter Gewöhnung haftet das Dar» gebotene im Gedächtnis und in der Anwendung auf neue Gelegen« hcitcn des Hörens. u«