Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 223.
Freitag, den 15. November.
( Nachdrud verboten.)
Die Maringotte zog weiter und weiter durch das Land, mit der Kranken in ihrem Bett, die immer schwächer wurde, und der man jezt den Kopf zu ihrem Fensterchen aufrichten und stüßen mußte, wenn er nicht kraftlos wieder auf das Kissen niedergleiten sollte.
1907
einten mit einem Druck die Hände der beiden Brüder zu einem Bunde, den selbst der Tod nicht trennen sollte.
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Das Vertrauen, der Glaube, die Zuversicht, die man jüngere Kinder zuweilen zu ihren älteren Schwestern oder Brüdern hegen sieht, ihre Hingebung in überzeugungsvollster Man versuchte alles, was der Stranken eine Freude Bewunderung an ein Wesen ihrer Verwandtschaft, in dem sie machen konnte. Man wusch ihr nahezu jeden zweiten oder ein Ideal sehen, nach welchem fie fich insgeheim zu bilden, dritten Tag die kleinen Vorhänge vor den Fenstern, damit ihm nachzuftreben und nachzueifern bemüht find: das waren fie dieselben stets recht weiß habe; man pflückte ihr Feld. die Gefühle Nellos gegen Gianni, nur mit noch mehr der und Waldblumen, welche fie gern in einem Glase zu Häupten Wärme, mehr des Enthusiastischen, mehr des beinahe ihres Lagers zu stehen hatte, und die Truppe schoß zusammen Fanatischen, als man es sonst wohl bei jüngeren Geschwistern und kaufte ihr ein Deckbett von Eiderdaunen mit schönem findet. Für ihn war nur das gut, was der ältere Bruder Ueberzuge bon roter Seide: die einzige Gelegenheit, bei der tat. Für ihn nur das wahr, was diefer sagte, und man sah fie ein Zeichen von Dank verriet, durch einen Anflug eines den Jüngeren, wenn der Aeltere sprach, ihm mit jenen gewissen wilden Glückes, der auf ihr marmorenes Ge- beiden wülsten der tiefsten Aufmerksamkeit und des Nachficht stieg. sinnens junger Gesichter oberhalb seiner Augenbrauen zuhören. Gianni hat es gesagt!" war sein steter Refrain, und indem er ihn aussprach, war er der Meinung, daß das Wort feines älteren Bruders aller Welt so wie ihm selber ein Evangelium sein müsse. Nellos Glaube an Gianni war ein schrankenloser. Als er einst von einem kleinen Gymnaftifer- Eleven aus einer anderen Truppe, der größer und stärker war als er, geprügelt worden war, und es Gianni erzählend, von diesem die Antwort erhielt: Morgen nimmst Du diese Bleikugel hier in die Hand, gehst gerade auf ihn los, gibst ihm, siehst Du so, einen Faustschlag mitten auf die Stirn, und er wird am Boden liegen," da nam Nello, wie Gianni ihn gezeigt, und warf seinen Feind zu Boden, Hätte es ihm Gianni geheißen, Nello hätte den Faustschlag so gut dem Herkules Rabastens gegeben, wie dem ungezogenen Jungen. Und bis zur Torheit blieb er sich in dieser Hinsicht gleich. Als Gianni ein anderes Mal in einer bei ihm feltenen Anwandlung, zu scherzen, fich den Spaß machte, den die Hufeisen abgerissen, ging Nello, troß seiner besten Ueberjüngeren Bruder zu beschuldigen, daß er dem Pudel Lariflette zeugung, daß Hunde überhaupt nicht beschlagen werden, nachdem er sich lange verteidigt hatte, hin und suchte an den Pfoten des Pudels nach den Spuren der Nägellöcher, indem er Denen, die ihn darüber verspotteten, hartnäckig weiterfuchend entgegnete:" Gianni hat's gesagt!"
Eines Nachmittags war sie so leidend, daß der alte Bescape abschirren ließ und die Truppe beabsichtigte, dort im Felde zu lagern, als die Kranke, welche an dem Stillliegen ihres Körpers fühlte, daß man die Fahrt ausgesetzt, mit Heftigkeit ein Wort aus ihrem Heimatidiom dort in weiter Ferne äußerte, ein Wort aus der Zigeunersprache , das in einer kurzen, scharfen Silbe, zischend wie ein Peitschen schlag, den Ruf ausdrückt:„ Vorwärts!" Und sie wiederholte das Wort immer von neuem, jede Minute, bis man wieder angeschirrt hatte und sie fühlte, daß der Wagen weiterzog. Die ganzen Tage hindurch eine gewisse Anzahl von Tagen noch war der Blid der Zigeunerin gleichzeitig starr und doch auch weit umherschweifend, beharrlich durch das geöffnete Fenster auf die dort außen vorübergleitende Natur geheftet, wie fie in ihren Szenerien langsam hinter den Wagen zurückfloh, sich in der Ferne verlor, in Undeutlichkeit zerfloß, schütternd verschwand unter dem Rütteln des Wagens auf den schlechten Wegen.
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Die Augen der Sterbenden, schon trübe, konnten nicht Man durfte seinem Gianni nicht zu nahe treten ,. Als scheiden von den weiten Ebenen, den tiefen Wäldern, den Nello eines Tages in Tränen zu Gianni kam und dieser ihn Sonnenbeglänzten Hügeln, dem Grün der Bäume und dem nach dem Grunde derselben fragte, erwiderte er schluchzend, flutenden Blau der Ströme; fie fonnten nicht scheiden von dem er habe gehört, daß man schmähend über ihn, Gianni, geFlaren Licht des Tages, das der Himmel der Erde herab- sprochen, und als der Bruder darauf bestand, daß er ihm sendet dem Lichte des Tages, der außerhalb der Häuser wiederholen solle, was man gesagt, geriet der Knabe beim leuchtet... fie war eine Frau, die, als sie einst vor Gericht Aussprechen der Schimpfworte gegen den geliebten Bruder bernommen wurde, beim Schwur sich von dem Christusbilde in solche Wut, daß ihn ein Krampfanfall befiel. abgewendet und, in das helle Licht eines offenen Fensters des Gerichtssaales tretend, gelobt hatte: Bei dem, was zwischen Himmel und Erde ist, schwöre ich, daß ich mein Herz öffnen und die Wahrheit sagen werde." Und auch ihr Todestampf noch wollte bis zum letzten Augenblick ihres Wanderlebens das Licht über ihr haben, das zwischen Himmel und Erde ist.
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Eines Morgens hatte die Maringotte bei einer kleinen Kirche Halt gemacht, die man neu auszubauen im Begriff war. Das Gefährt hatte, beleuchtet von der emporsteigenden Sonne, wie ein Stück Bühnendekoration die Goldtapete des alten Chors vor sich, das stehen geblieben war, und unterhalb der frisch geröteten, mit Stalt befleckten Gesichter der Maurer und oberhalb der Trümmer bon alten Särgen, umherstolpernd auf dem verstreuten Rüstgerät, einen langen Pfarrer in rundem, mit Flor garniertem Hut, in endlos Langer, schwarzer Soutane, die an den Taschen schäbig grau geworden, mit den Stoppeln eines seit acht Tagen nicht rafierten Bartes im Gesicht, mit einer spiken Nase und scharfen, durchdringenden Augen. An diesem Morgen, in dem Moment, als Maringotte sich wieder in Bewegung setzte, wandte sich der Blick Stepanidas plöglich jäh von dem Fenster ab und heftete sich lange auf die Kindergestalt ihres Jüngstgeborenen, in banger, wilder Zärtlichkeit. Dann, ohne ein Wort, ohne eine Liebfosung, einen Auß, ergriff fie die kleine Hand Nellos, fie legte sie in die Hand seines älteren Bruders, und ihre schon erkaltenden Finger ver
Wenn Nello von außen heimkam, war seine erste Frage: ft Gianni da?" Der jüngere Bruder schien nicht ohne den älteren leben zu können. In der Arena sah man ihn unablässig um Giannis Bein her sich bei allen Produktionen des Bruders mit irgend einer Kleinigkeit zu schaffen machen und diesen jeden Augenblid nötigen, ihn vom Boden aufzuheben oder ihn sanft mit der Hand beiseite zu schieben, wenn er im Wege war. Während der übrigen Zeit, die er sich bei seinem Bruder befand, hing er beständig mit den Augen an ihm, mit jenen langen, wie gefesselten Blicken, in denen fich die bewundernde Sympathie bei Kindern zu zeigen pflegt, und in jener stummen tiefen Betrachtung, in welcher für den Augenblid alle Beweglichkeit des jungen Körpers erstirbt. Und wenn er in Giannis Abwesenheit von irgend etwas trübe oder freudig berührt wurde, so war seine erste Aeußerung zu der nächsten Person, an die er sich wenden konnte: Das muß ich Gianni sagen!"
Gianni füllte einen so großen Teil von den Gedanken des jüngeren Bruders aus, daß dieser selbst in seinen Träumen sich nie ohne ihn fah, sich auch in diesen die Gestalt des älteren Bruders stets mit der seinigen zu allem, was er tat, was geschah, verband.
Stepanidas Tod hatte das Zwillingsleben der beiden Brüder in den Stunden des Tages wie der Nacht noch enger aneinander geknüpft und eine der größten neuen Glücksempfindungen für Nello war, jekt, wo Gianni mit in der Maringotte schlief, morgens zu ihm ins Bett zu kommen