Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 230.

Mittwoch den 27 November.

( Nachdrud verboten.)

18] Die Brüder Zemganno.

Von Edmond de Goncourt  .

Newsome hatte das Brüderpaar mit einer Gage von zehn Pfund Sterling wöchentlich engagiert, und Gianni und Nello, jezt der Gesellschaft einverleibt, lebten in ziemlich gutem Einvernehmen mit ihren Kollegen. Die Männer tvaren gute Kameraden, mit einem bißchen britischer Steifheit Die Damen, durchweg anständig und sämtlich Familien­mütter, waren sanft wie Schafe"; nur an gewissen Tagen, unter dem Einfluß einer durch den Gin" hervorgerufenen Erregtheit, oder wenn Nordost- Wind wehte, fingen diejenigen unter ihnen, welche sich nicht leiden konnten, wohl an, mit einander zu boyen. Es waren das dann nicht französische Frauenkämpfe, bei denen mehr Beleidigungen und zer riffene Hüte fallen, als Schläge, sondern ganz wirkliche, veri­table Borduelle, nach denen die Besiegte zuweilen vierzehn Tage im Bett liegen mußte.

Im Grunde genommen hatten die Brüder ihr früheres Reiseleben in Frankreich   quer durch die drei Königreiche wieder aufgenommen, allerdings unter besseren Bedingungen und in einem Lande, das den körperlichen Künsten ein größeres Interesse entgegenbringt. In England, wo das Eintreffen eines Zirkus in den kleinen Städten ein Ereignis ist und der Zur des Personals mit seinen Pferden, seinen Schaustücken, seinen Käfigen mit wilden Tieren durch die Straßen der Stadt die Einwohner wie an einem Festtage die Läden schließen läßt, wurden die graziösen Produktionen Giannis und Nellos mit Begeisterung aufgenommen und begannen ihren Einfluß auf die Geschäfte des Birkus zu üben.

Von Zeit zu Zeit bewilligte ihnen Newsome, um die Leiden beliebten Künstler an sich zu fesseln, eine jener Bene­fizvorstellungen, bei denen die Benefizianten von Haus zu Haus gehen, um die Billets zu offerieren und eine solche Borstellung pflegte ihnen fünf bis sechs Pfund auf ihr Teil zu bringen. Und der Name der beiden Clowns, der Künstler­name, den sie drüben angenommen, glänzte auf den Zirkus­affichen in den größten Lettern, gedruckt in der rötesten Druckfarbe, die Großbritannien   darbot.

Trotz der günstigen Aufnahme indes, welche ihre Pro­duktionen bei den Engländern gefunden, und trop des Ruhmes, der sich um ihren Namen verbreitete, regte sich doch der junge Franzose in Nello und begann, Englands über drüssig zu werden. Sein romantisches Temperament und das Blut seiner Vorfahren aus heißen Ländern in ihm, ließ ihn allmählig an dem Nebel Großbritanniens   genug haben, genug an seinem granen Himmel, seinen verräucherten Häusern, seiner Atmosphäre von Kohle und Staub, die alles durchdringen und es auf den ersten Blick selbst an Silber münzen, gleichviel ob sie auch im Geldschrank verschlossen gelegen, erkennen lassen, wenn sie einige Jahre hindurch sich in diesem Lande des traurigen finsteren Sohlenstaubes be funden haben. Er war des englischen Heizens müde, der Speisen, der Getränke, der Sonntage, der Männer und der Frauen der drei Königreiche. Außerdem begann er, ohne sich gerade krank zu fühlen, leicht zu husten, und dieser Husten. obgleich er durchaus nichts Beunruhigendes hatte, erweckte in Gianni eine traurige Erinnerung: die Erinnerung daran, daß ihre Mutter an der Schwindsucht gestorben war.

Nello war, ohne daß auf den ersten Anblick eine frappante Aehnlichkeit ins Auge gefallen wäre, doch ganz das Abbild feiner Mutter. Ihr jüngster Sohn hatte viel von ihrer Gestalt, und ein wenig von dem Weiblichen der Zigeunerin: Tag über den ganzen männlichen Gliederbau des jungen Clown ausgebreitet. Was sein Geficht betraf, so war es zwar durchaus nicht dasselbe, aber dennoch rief Nello troß seiner weißen Haut und mit seinen sinnenden dunklen Augen, feinem kleinen lächelnden Munde, seinem Schnurrbart blond wie Hanf, der sanften Anmut des ganzen Antlitzes die Er­innerung das Gesicht der Mutter wach, durch die Nüance einiger Rüge, den Schnitt einer Kontur, durch das physio gnomische Je ne sais quoi eines Blides, eines Lächelns,

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einer Miene des Stolzes, durch tausend Kleinigkeiten, welche in oewissen Momenten, bei gewissen Bewegungen des Kopfes, bei einer bestimmten Beleuchtung in ihm die verschönert wieder aufgelebte Stepanida erblicken ließ, nicht anders als cb der Sohn das getreue Ebenbild der Mutter gewesen wäre. Ta geschah es denn wohl, daß Gianni in den langen Stunden, welche die Brüder auf der Eisenbahn zubrachten, umgeben von Kollegen, die eine andere Sprache sprachen, unter dem Einfluß von Erinnerungen, die ihm in dem Hinträumen einer endlosen Reise kamen, seine Blicke finnend auf Nello Heftete, um sich für einige Augenblicke der Illusion hinzu­ocben, daß seine Mutter zurückgekehrt sei, daß er sie wiedersehe.

Eines Tages, als die Gesellschaft Newsomes von Dorchester abgereist war um nach Newcastle   zu gehen, hatte Gianni den Bruder sich gegenüber im Waggon, schlummernd den Kopf zurückgelegt, den Mund geöffnet und von Zeit zu Zeit leicht hustend, ohne daß der Husten ihn erweckte. Der bend nahte, und mit dem sinkenden Tage fielen Schatten ouf die Augenhöhlen Nellos und auf sein mager gewordenes Antlitz, abendliches Dunkel in seine Nasenlöcher und die Deffnung seines Mundes. Gianni, dessen Blicke auf dent Bruder weilten, empfing den Eindruck, als sehe er den Kopf der Mutter, wie sie schlummernd auf den Kissen der Marin­cotte ruhte. Kurz entschlossen weďte er Nello. Bist Du frank?"

Nein

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,, Nein doch!" machte Nello mit einem leichten Frösteln.

Ja wohl!... Hör mich an, Bruder..! Ah, meiner Treu, es bleibt mir nichts anderes übrig... Ich habe un­nötigerweise zwei Jahre geopfert wegen des Aufzuges an einem Handgelenk... Professor Brady, der Gymnastiker in New York  , hat es darin nur bis auf sieben Aufzüge ge­bracht, ich mache jetzt deren neun, wie Du weißt ich weiß noch nicht, was Du darin leisten könntest... und dasselbe ists mit dem Tragen des Körpers in der Luft zwischen ganz ausgestreckten Armen, das bisher nur die Künstler auf Stuba machen. Nun gut; dieser Tage glaubte ich, die Idee zu einem neuen Apparat gefunden zu haben, einem Apparat, sage ich Dir... aber im letzten Augenblick, hol's der Henker, sah ich, daß das Ding nicht ging, die Sache unausführbar war. Was ich hier wollte. um was es fich handelte Du mußt mich recht verstehen, Bruder.. rar, zu dem, was wir jetzt machen, etwas Neues erfinden, eine neue Produktion aber wirklich neu, nicht etwas Ge­wöhnliches... He, was meinst Du? Das wäre so etwas gewesen, um damit in Paris   im Zirkus herauszukommen!" ,, Gut, warten wir also noch."

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Nein! England behagt Dir nicht... Du hustest.. aum Wetter, ich will nicht, daß Du hustest!... vorwärts alfo, gehen wir nach Frankreich  !..: Unser Erfolg dort wird ein ßchen weniger schmeichelhaft sein pah! was tut's! Seiner­zeit... und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn dies: 3eit nicht fäme... wird man die Sache schon beim Wickel Laben! Gib mir nur noch einen Monat, sechs Wochen... das ist alles, um was ich Dich bitte."

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In Nellos Mißlaune in diesen englischen Kreisen brachte Der Eintritt eines französischen   Prestidigitateurs, welchen Newsome engagierte, eine kleine Erheiterung. Es war ein junger Mann von entschieden vornehmen Allüren, von dem ein dunkles Gerücht wissen wollte, daß er nie wieder nach Frankreich   zurückkehren dürfe: er sei, hieß es, ein Sohn aus vornehmem Hause, der sich zu falschem Spiel hatte verleiter laffen, um das gewonnene Geld einer Dame von Stande in den Schoß zu schütten, in die er sterblich verliebt war. Zwischen den beiden aus Frankreich   Erilierten entspann sich ein näherer Berkehr, ein melancholisches aber wohltuendes Freundschafts­verhältnis, in welches auch der mittätige stille Teilnehmer des jungen Edelmannes mit eingeschlossen wurde: eine arme einsame Taube, der die Rolle zufiel, allabendlich von ihm estamotiert zu werden, und welche in diesem Beruf und ihrem dunklen Leben in den Tiefen der Rocktaschen des Sauberkünstlers ihre liebenswürdige Grazie, ihren Frohsinn und ihre muntere Beweglichkeit verloren hatte, so daß sie,