Verteilen, denn sie rechneten auf die Vögel, die unversehrt von den guten Posten fortfliegen würden. Tonet begrüstte alle und gmg dann, nachdem er wegen der morgen stattfindenden.Mte ein paar Worte niit ihnen gewechselt, in Neletas Schlafzimmer hinauf. Er sah sie im Hemd. blaß, mit verzerrten Gesichtszügen: der Schmerz ließ sie jede Klugheit vergessen, und sie stieß ein Gebrüll aus, das ihre Tante in Angst und Schrecken versetzte. ..Sie werden Dich hören/ rief die Alte. Auf Neletas Rat ging Tonet wieder himmten in die Schenke. Er konnte ihr doch nicht helfen, wenn er oben blieb. Wenn er aber den Männern Gesellschaft leistete, sie durch seine Unterhaltung zerstreute, so konnte er sie vielleicht hindern, etwas zu hören, das ihren Verdacht hätte erregen iönnen. Tonet verbrachte mehr als eine Stunde, um sich an der Asche des Kamins zu wärmen, und sprach mit den Bauern von der vergangenen Ernte und der prächtigen Jagd des folgenden Tages. Einen Augenblick stockte die Unterhaltung. Da hörten alle einen entsetzlichen, wilden Schrei: ein Schrei, als wenn ein Mensch ermordet würde. Doch-Tonets Un- ibeweglichkeit beruhigte sie. „Die Wirtin ist etwas krank." meinte er. Sie plauderten weiter, ohne sich um die hastigen Schritte ver Tante zu Sümmern, unter denen die Diele erzitterte. Nach einer halben Stunde, als Tonet glaubte, jeder hätte den Vor- fall vergessen, ging er wieder in das Schlafzimmer hinauf. Die Mehrzahl der Bauern schlummerte und ließ, von der Müdigkeit besiegt, den Kopf aus die Brust sinken. Oben angelangt, sah er Neleta blaß, unbeweglich auf dem Bett ließen', nur ihre glänzenden Augen verrieten, daß sie noch am Leben war. „Tonet Tonet," murmelte sie schwach. Der Geliebte erriet an ihrer Stimme und an ihrem Blick vlles. was sie ihm zu sagen hatte. Es war ein Austrag, ein unbeugsamer Befehl. Die grausame Entschlossenheit, die Tonet so oft geängstigt, erschien wieder nach der alles vernichteirden Krisis, trotz ihrer Schwäche, mit unerschütterlicher Gewalt. Neleta sprach langsam, mit einer Stimme, die wie ein ferner Seufzer klang. Das Schwerste war vorüber. Jetzt war es an ihm. zu handeln. Nun würde man ja sehen, ob er Mut hatte. (Fortsetzung folgt.) k)onore Oaumier. Geboren 26. Februar 1808, gestorben 9. Februar 1879. In diesen Tagen werden auch in einer ganzen Reihe deutscher bürgerlicher Zeitungen Gedenkartikel über Honore Taumier er- scheinen. Aber das Lob, das man bei dieser Gelegenheit an diesen Mann verschwendet lesen wird, steht genau im umgekehrten Vcr- hältnis zu der Kenntnis, die das deutsche Bürgertum von diesem Manne hat. Auf die Frage: Wer ist Daumier ? würden 99 Proz. der Leser die Amwort absolut schuldig bleiben und das übrige eine Prozent würde höchstens wissen, daß der Träger dieses Namens ein französischer Maler gewesen ist. Welche Bedeutung aber dem Künstler in der Geschichte beikommt, das würden von dem einen Prozent auch neunnndneunzig kaum wissen. Ihre ganze Kenntnis würde sich wohl darauf beschränken, daß Taumier ein bedeutender Künstler gewesen ist. Aber in dieser Ignoranz des Bürgertums offenbart sich nur das unabänderliche historische Geschick, dem jede Klasse anheimfällt, wenn sie einmal das letzte ihrer Jugendideale im Interesse ihrer Profitrate verhökert hat. Tann gebt ihr nämlich auch der Sinn für ihre eigene frühere Größe, für ihren eigentlichen Inhalt, für ihre weltgeschichtliche Rolle verloren. Man braucht gar kein Talent zum Propheten zu haben, um darauf schwören zu können, was die bürgerlichen Gcdenkartikel. die zu Ehren Honore Daumiers erscheinen, enthalten werden. In ihnen wird, teils mit mehr, teils mit weniger Geist, begründet werden, daß Taumier in erster Linie ein ganz hervorragender Zeichner gewesen ist, ein Künstler mit einem geradezu fabelhaften EharakterisierungSvermögcn, und von einer Monumentalität in der Darstellung, die einzigartig in der Kunstgeschichte ist. Man wird lesen, daß er vermöge dieser künstlerischen Gestaltungskraft, selbst im Geringsten das Wesentliche einer Sache, Person oder Situation derart plastisch herausgeholt hat. daß dieses sich immer zum unvergänglich Typischen der betreffenden Erscheinung steigerte. Man wird lesen, daß er ein wunderbarer Phhsiognomiker und ein stets auf den Grund sehender Psycbolog gewesen ist. Die Mutigsten werden vielleicht sogar soweit gehen, zuzugestehen, daß an ihm aemessen, die berühmte preußische Malerexzellenz Menzel künst- lerisch nichts weniger als ein Niese gewesen ist. Zum Schluß wird man bedaucrr finden, daß dieses Genie seine Hanptkraft als Witz- blattzeichner— Daumier war vierzig Jahre, von 1832 bis 1872, Mitarbeiter des Pariser „Charivari". dem damals hoch angesehenen satirischen Kampforgan des demokratischen Bürgertums, und hat als solcher zirka drcieinhalbtausend satirische Lithographien ge» schaffen— verausgabt hat, denn das Bekanntwerden seiner Ge- mälde, auf die man erst im letzten Jahrzehnt aufmerksam wurde, offenbarte, daß Taumier auch eines der größten Malgcnies des 19. Jahrhunderts gewesen ist. Solches und ahnliches wird man vermutlich in den höchsten Tönen zu lesen besommen. Gewiß sind das alles nicht gleichgültige Tinge bei einem Künstler. Aber es sind im letzten Grunde doch nichts mehr als die alten, abgeleierten Phrasen der Kunstchronistik, in denen unsere gesamte moderne Kunstgeschichte heute abgewandelt wird. Indem diese Gedcnkartikel aber nichts mehr enthalten werden als eben derart rein ästhetische Wendungen, erweisen sie das, was wir eingangs sagten, daß jeder Klasse, die sich auf dem absteigenden Aste ihrer historischen EntWickelung bewegt, selbst der Sinn für ihre eigene Größe verloren geht, daß sie überhaupt aushört, historisch zu denken. Wir sagten: Gewiß ist das alles nicht gleichgültig bei der Wertung eines Künstlers. Wir fügen dem hinzu: es ist auch alles zutreffend. Man wird niemals übertreiben, wenn man nur in Worten der höchsten Bewunderung von der künstlerischen Ge- staltungskrast Daumiers spricht. Aber alle derartigen ästhetischen Wertungen verlieren die Hälfte ihres Wertes, und zwar den wichtigsten Teil, solange sie nicht unter den Gesichtswinkel der allgemeinen historischen EntWickelung gebracht werden. Und dieser historische Gesichtswinkel ist vor allem bei Taumier von großer und unentbehrlicher Bedeutung, denn einzig er macht feine geradezu weltgeschichtliche Größe aus. Mit dem siegreichen Aufstieg einer Klasse steigen auch ihre Größen auf, die geistigen Erfüller der historischen Aufgabe der betreffenden Klasse, und zwar auf allen Gebieten: in Wissenschaft, Literatur. Kunst. Die Notwendigkeit dieser Erscheinung kehrt uns der historische Materialismus, der uns zeigt, daß Probleme erst dann, und dann auch unbedingt reif werden, ivenn die materiellen Vorbedingungen ihrer Lösung bereits entwickelt sind. Mit dem siegreichen Aufstieg des französischen Bürgertums erstand auch die große französische Kunst des 19. Jahrhunderts. Als die große französische Revolution des 18. Jahrhunderts in der Julirevolution des Jahres 1830 ihren kür das Bürgertum siegreichen Abschluß fand, trat sie auf den Plan: Delacroix und Honore Daumier . Taumier war der Repräsentant der bürgerlichen Revolution Frankreichs in der Kunst, in ihm gipfelte die bürgerliche Kunst Frankreichs . Und zwar in der Richtung ihres revolutionären In- Halts. Der Inhalt der bürgerlichen Revolution in Frankreich , ihre ungeheure Triebkraft gaben seinem von der höchsten künstlerischen Begabung getragenen Schaffen die Monumentalität, das Heroische, d. h. seinen Stil. Die Eigenart der Klassenentwickelung Frank- reichs, daß es in erster Linie das Kleinbürgertum gewesen ist. das der Träger der revolutionären Ideen, wie nachher der hemmenden Reaktion war. bedingen den gesamten, so riesigen Stoffkrcis seines künlcrischen Schaffcnögcbietes. In diesen Zu- sammenhängen liegt die letzte und höchste Bedeutung Daumiers, d. h. diese Faktoren erhebt sein künstlerisches Werl auf die Höhe weltgeschichtlicher Bedeutung. In Daumier gipfelt künstlerisch die bürgerliche Revolution. In seiner Kunst war alles revolutionärer Inhalt, sie war niemals bloß Form. Aber Daumier war nicht bloß ein unbewußter Er- füller, Daumier war durch und durch bewußter Revolutionär. Er war Revolutionär im Denken, im Fühlen und im Handeln. Im Denken durch die unerbittliche Logik seiner Satire, im Fühlen dadurch, daß die Satire für ihn Mittel wurde, die Gegner der historischen Mission der Grundgedanken der großen französischen Revolution zu überwinden, im Handeln, daß er als Mensch in un- verbrüchlicher Treue bis zu seinem letzten Atemzuge zu ibrer Fahne hielt, als das Bürgertum als Klaffe längst seine revolutio- nären Forderungen preisgegeben batte. Das heutige Bürgertum achtet bei Daumier nur seine künstlerische Form, ahnt aber nicht, daß diese nur der Ausfluß des durch und durch revolutionären Inhalts ist. Honore Taumier entstammte selbst der Klasse, die die bürger- liche Revolution Frankreichs durchführte; sein Vater war ein armer Glascrmeister in Marseille , dort wurde er auch geboren. Aber schon mit«cht Jahren, als der behäbige Ludwig XVIII. gerade anfing, die Last seines erhabenen Bauches auf dem neu ge» zimmerten Bourbonenthron mit Zittern und Zagen zu betten, kam er nach Paris . Die brutale Restaurationöepochc unter dem alt gewordenen Sünder Karl X. wurde seine Schule, und als die Julircvolution strahlend am Horizont aufstieg, da stand er als fertiger Revolutionssoldat auf der Barrikade. Und als echter Rc- volutions�oldat stand er sein ganzes Leben hindurch an dieser Stelle. Wie von einer Barrikade herab bekämpfte er die klein- bürgerliche Engherzigkeit, die am Tage nach ihrem Siege bor nichts mehr eine größere Angst hatte, als vor ihrer eigenen Gottähnlich- keit, d. h. bor der logischen Konsequenz der siegreichen Revolution; von da herab bekämpfte er die brutale imperialistische Reaktion, die mit Napoleon einsetzte. Und dieser Kampf wurde stets mit unerbittlichen und absolut sicher treffenden Geschossen von ihm geführt
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25 (28.2.1908) 42
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