Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 70.
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Mittwoch den 8 April.
( Nachdruck verboten.)
Semper der Jüngling.
Ein Bildungsroman von Otto Ernst O, wie hatte er's dagegen wieder gut getroffen mit seiner neuen Wohnung in der roten Twiete. Diesmal hatte die quecksilberne Frau Rebekka einen guten Griff getan, und sie triumphierte in hellen Tönen. Das Haus selbst war freilich auch nur eine Mietskaserne; aber gegenüber lag ein Part mit uralten Bäumen, und davor stand eine unbewohnte, stroh bedeckte Hütte, und neben dem Park öffnete sich unter hohen Baumkronen, schmal und schattenheimlich, wie ein Weg zur Unterwelt, der Philosophenweg . Onein, es fiel dem Präparanden Semper gar nicht ein, um der Bücher willen solche Dinge stehen und liegen zu lassen; er durchkostete den Park bis in seine fernsten, zartesten Wipfel, wenn auch nur mit den Augen denn im Klettern hatte er's niemals weit gebracht er bevölkerte die Strohdachhütte mit den Gestalten Bestalozzis und Jeremias Gotthelfs, Berthold Auerbachs und Frizz Reuters ; am Eingang des Philosophenweges aber sah er den Laertiaden Odysseus die Opferbräuche vollziehen, die den Schatten des Teiresias dem Hades entlocken sollten. Er war schon hundertmal durch diesen Philosophenweg gegangen und wußte ganz genau, daß nur ein fümmerliches Rinnsal ihn begleitete und daß er auf eine Goldleistenfabrik mündete aber wenn er von seinem Bett aus durchs Fenster nach dem Eingang des Weges sah, dann war es der Ort,
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Wo in den Acheron sich der Byriphlegethon stürzet Und der Strom Kokytos, ein Arm der stygischen Wasser." daran hätten siebzigtausend Goldleistenfabriken nichts zu ändern vermocht.
6. Kapitel.
( Fortsetzung des Beweises, daß Asmus kein Büchertourm, sondern ein Sklave irdischer Luft ist.)
Aber auch derbere Freuden verschmähte Asmus nicht; der Welt- und Sinnenlust war er ergeben wie in seiner Kindheit. Nicht jeden Sonntag und nicht den ganzen Sonntag verbrachte er bei den Büchern, nein, gewöhnlich suchte er am Sonntag nachmittag seine Freunde Knapp und Diepenbrod auf, die ehemaligen Mitdirektoren seines Buppentheaters. Zunächst ging er zu Knapp, den er gewöhnlich mit seinem Bater zusammen im Garten beschäftigt sand. Einmal waren fie bei der Mohrrübenernte, da sagte der alte Knapp: „ Na, Asmus, haust du deine Jungens auch fix?" " Nein," rief Asmus lachend, ich unterrichte überhaupt noch gar nicht."
Ja, hauen mußt du sie, sons wird da nir aus." Und dann zog der alte Knapp eine Mohrrübe aus und gab sie Asmussen. Da
muß deine Kinder mitnehmen un muß sie sagen: So wächsen die Worzeln."
Asmus sah den Bildungswert dieses Verfahrens nicht ohne weiteres ein; aber er dankte höflich und steckte die Wurzel ein.
Und wenn die beiden dann zu Diepenbrod tamen, dessen Eltern ein Logier- und Speisehaus hatten, dann sah er da einen interessanten Mann auf dem Sofa liegen. Er hieß Zöllner, war Zigarrenmacher und lag jeden Sonntag, den Gott werden ließ, auf dem Sofa und las. Er besaß nicht nur den großen Meyer, sondern auch sämtliche Klassiker und Salbklassiker in prächtigen Einbänden. Und wenn er zwölf Sonntage hintereinander auf dem Sofa gelegen und gelesen hatte, dann ging er am dreizehnten hin und betrank sich so vollständig und andauernd, daß er eine Woche lang nicht aus dem Rausche herausfam; dann kehrte er wieder zu Meyer und den Klassikern zuriid. Diepenbrod hatte viele Messer und Gabeln zu pußen, und Ewald Knapp und Asmus Semper halfen ihm dabei, damit er schneller fertig werde; aber Asmus mußte zwischendurch immer wieder nach dem Mann auf dem Sofa blicken, der ein schönes, vornehmes Gesicht mit einem langen braunen Bart hatte.
Wenn sie dann endlich fertig waren, gingen die drei faſt eine Stunde weit nach der Hamburgischen Vorstadt St. Pauli, nach diesem St. Pauli, das in der ganzen Welt bekannt war als ein Stapelplatz irdischer Genüsse und Seligkeiten für
1908
Anspruchslose. Da gab es nicht nur Kuchenbuden, Obstbuden, Bücherkarren, Karren mit Spielsachen, mit Kokusmüssen, die vor den Augen des Publikums geöffnet wurden, mit ambu lantem Käse, der sich alle Düfte der Vorstadt unterwarf, mit Limonaden und Lifören, da gab es auch Kasperletheater, Mordgeschichtenbilder, fliegende Museen, Naturalienhandlungen, Wachsfigurenkabinette, Theater, Singspielhallen o, diese Singspielhallen! Am Abend waren die Portale mit hunderten von bunten Lichtern umfränzt, und wenn eine Tür aufging, sah man durch Rauchwolfen wunderschöne Frauen tanzen wenn ich Lehrer bin und viel Geld verdiene, da geh ich auch hinein," sagte sich Asmus.
Das erste aber, was die drei taten, war regelmäßig, daß sie immer bei demselben Konditor" einen Eisenbahnfuchen kauften. Das war ein Gemisch von zerriebenem Schwarzbrot und Syrup mit einer Zuckerglasur darüber und war vielleicht eher zu den Lariermitteln als zur Gattung der Kuchen zu rechnen; aber es schmeckte um so schöner, als es für 5 Pfennige einen halben Kubikdezimeter gab. Dann gaben sie sich zufrieden dem Genuß des Schauens, Kauens und Staunens hin.
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„ Der siebenfache Raub- und Elternmörder Timm Thode, das größte Scheusal in Menschengestalt!" schrie ein dides Weib und schlug mit einem Rohrstock flatschend gegen ein 12teiliges Gemälde", das die Leistungen des Gefeierten im einzelnen zur Darstellung brachte. Schon von weitem schlug Asmus einen anderen Weg ein, er wußte auf der Welt nichts Widerwärtigeres als diese Bilder und die erklärenden Gejänge der Schausteller.
Aber dann gab es einen Mann auf dem Spielbuden plaze", der war am ganzen Leibe mit Musik bewaffnet. Mit dem Fuße schlug er Becken und Triangel , mit dem Ellbogen eine große Trommel, mit der rechten drehte er einen Leierfasten, mit dem Munde blies er eine Banflöte, und wenn er den Kopf schüttelte, erflangen von seinem Hute, der einer chinesischen Pagode glich, eine Menge von Glöcklein. Die Musit war gewiß scheußlich; aber die Fertigkeit des schwißenden Mannes blieb bewundernswert. Er hatte denn auch immer ein Rudel von Jungen um sich, und darum mußte er die linke Hand frei behalten.
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Käupt, Lüd, fäupt!" schrie mit furchtbarer Schnaps. stimme, die dem Bellen eines heiseren Wüstenwolfes glich, ein Mann, der Datteln verkaufte. Aber es waren keine Datteln mehr, es war nur noch ein unerklärbares Mus, das zu Klumpen geballt auf der Karre lag. ,, Tein Penn dat Bund, Lüd!" schrie der Mann. Idk verfäup se mit Schoden , Lüd; ick sett dor noch bi too! Blos ut Schobernad fäupt mi wat af, Rüd!"
Und einmal kam Asmus an eine Bude, auf deren Vorderseite ein Schwein mit Menschenaugen abgebildet war. Tier hatte einen seelenvollen Blick und schien darüber nach zusinnen, ob es ein Mensch oder ein Schwein sei. Was es in seinem Zweifel noch bestärken konnte, war der Umstand, daß es an den Hinterfüßen fünf menschliche Zehen hatte. Wohl hundertmal drehte Asmus sein Zehnpfennigstück in den Händen herum; aber dann sagte er sich, daß ein zukünftiger Lehrer seiner Bildung jedes Opfer bringen müsse; er gab es hin und trat ein. Er fand in einem Glashafen voll Spiritus ein kleines totes Ferkel, das genau wie jedes andere Ferkel ausfah. Der Schausteller, ein großer Kerl in Hemdärmeln, erflärte ihm, das Ferkelauge jei ein vollkommenes Menschenauge und die hinteren Zehen seien Menschenzehen. Asmus blickte schon lange nicht mehr auf das Ferkel im Glashafen, sondern auf den Mann in Hemdärmeln; er sah ihn mit staunenden Blicken an; denn er begriff nicht, daß ein Mensch so underschämt sein könne.
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„ Das ist ja alles Schwindel!" sagte Asmus. Im nächsten Augenblick fühlte er sich unsanft vor die Bude befördert, und wenig fehlte, so wäre er die Stiege, die zum Eingang hinaufführte, hinuntergefallen. Es war nicht die erste Erfahrung dieser Art, die er im Kampfe gegen das Unrecht" machte; aber noch viel, viel weniger war es die leẞte.
Kopfe.
Nach solchen Erlebnissen gab es einen Wirbel in seinem Wie fonnte so etwas geschehen! Das war doch UnUnd Unrecht brauchte man sich doch nicht gefallen zu Unrecht durfte man sich gar nicht gefallen lassen...
recht! laffen!