Anterhaltungsblatt des Vorwärts Nr. 73. Sonnabend, den 11. April. 1903 (Nachdruck verboten.) »I Semper der JUngling. Ein Bildungsroman von Otto Ernst  . Warum reden wir eigentlich nichts?" sagte Asmus endlich. Hm." machte Herrig,weil wir nichts mehr zu streiten haben. Ich habe nach und nach alle Deine Anschauungen angenommen." Asmus erschrak fast, als Herrig so nüchtern den wahren Sachverhalt feststellte. Er hatte recht: das innere Freund- schastsverhältnis war eigentlich abgestorben. Anschauungen aber, die man von einem anderen angenommen hat, weil man nichts mehr zu erwidern wußte, sind immer ein Zweifel- hafter Reichtum gewesen. Asmus indessen ertrug es nicht, einen toten Freund mit fich herumzuschleppen. Er versuchte, von seinem Blut in die Adern seines kalten, blaßhaarigcn Freundes hinüberzu- leiten. Sie wollten cm den herrlichen Sonnabend-Feierabenden etwas zusammen arbeiten. Und er holte Schillers Briefe über ästhetische Erziehung hervor, an denen er sich schon einmal geärgert hatte, weil er sie nicht verstand. Vielleicht gelang es, sie mit zwei Köpfen zu bewältigen. Aber nach einigen Briefen mußten sie's abermals aufgeben. Nun studierten sie Latein zusammen und lasen den Gallischen Krieg. Auch andere römische Autoren lasen sie? wenn sie ihnen lateinisch zw schwer waren, dann in Uebersetzungen, und in den anschließenden Unterhaltungen fanden die alten Herren eine mehr oder weniger endgültige Beurteilung. Dieser Ovid   ist doch ein fürchterlicher Quatschkopp I" rief Herrig eines Abends aus. Das ärgerte Asmus und er versetzte. Und Dein Sueton ist ein altes Waschweib." Auf solche Weise erwärmte sich nach und nach wieder das Frcundschaftsverhälwis? bald aber sollte es trotzdem für immer erkalten. John Herrig schöpfte nämlich aus seinem Freunde noch einen reelleren Reichtum als den der Weltanschauung. Wenn sie auf ihren Ausflügen einkehrten, um zu ihrem mit- genommenen Frühstück ein Glas Bier zu trinken, so zahlte Asmus regelmäßig die Zeche und teilte die vom Vater er- haltenen Zigarren mit seinem Freunde. Er sagte sich näm- lich: Wenn er Geld hat, so wird er sich natürlich revanchieren? wenn er kcins hat, versteht es sich von selbst, daß der bezahlt, der etwas hat. Und Asmus erwischte hin und wieder Privat- stunden, die mit 50 Pf. bezahlt wurden. Und wenn sie zurückkehrend, hungrig, durstig und müde von der Sonnenhitze, in Oldensund eintrafen, dann fand es Asmus unmenschlich, den Freund noch eine Stunde weit nach seinem Mittagessen gehen zu lassen, und er sagte:Komm mit und mit mir? meine Mutter wird wobl soviel haben." Und Frau Rebekka, die für sieben Menschen kochte, dar- unter fiir fünf Söhne, deren Appetit täglich wuchs und sich nach oben hin jedem Voranschlag entzog, hatte auch noch genug für einen achten, und sie, die nach einem Worte ihres Gatten so sparsam war,daß sie den Flicken eines Flickens flickte", und das so akkurat, daß Herr Aufderhardt, der Schneider, ausrief:Das ist so schön gemacht, daß ich es nicht besser machen kann!" sie, die aus einem Rock eine Weste, aus der Weste eine Mütze, aus der Mütze einen Handschuh, aus dem Handschuh einn Putzlappen machte, und so das arme Tuch in Wahrheit zu Tode hetzte, um es zuletzt noch an den Lumpenhändler zu verkaufen, sie strahlte von Heiterkeit und Stolz, wenn ein Gast an ihrem Tische saß und tüchtig einhieb. DaS war eben eine der leichtsinnigen Anmaßungen, die sie von ihrem Gatten übernommen hatte, daß sie sich für berechtigt hielt, unbeschränkte Gastfreundschaft zu üben. Wer im Augenblick einer Mahlzeit als Freund das Scmperische Haus betrat, der wurde an den Tisch gebeten, das war eine Ueberliesenmg von Semperischen Urvätern her. Und nun merkte Asmus eines Tages, daß dieser Satan. dieser Herrig, doch Geld hatte! Und daß es ihm gleichwohl gar nicht einfiel, sich zurevanchieren". Diese Entdeckung machte Asmussen von oben bis unten gefrieren. Von allen Lastern, soweit er sie bis jetzt kennen gelernt hatte, war ihm eins immer als das häßlichste erschienen: der Geiz. Und mit einem Schlage war er aufgetaut, und aus dem Grunde seines Herzens atmete er auf, als Herrig bald darauf, nachdem er den Freund für die nächste gemeinsame Arbeit in seine Wohnung geladen hatte, hinzufügte:Du kannst ja dann bei mir zu Abend essen." Gott   sei Dank, dachte Asmus, er ist doch nicht geizig. Als Asmus am nächsten Sonnabend in die Stube seines Freundes trat, fiel ihm sofort dessen Verlegenheit auf. Nach einiger Zeit stotterte Herrig: Abend Abendbrot hast Du wohl schon gegessen?" Ja." sagte Asmus,Adieu!" Und nun war er sich klar über lFohn Herrig. Er hatte vorläufig kein Glück mit denFreunden" unter seinen Studiengenossen. 10. Kapitel. (Asmus als Königsmörder und Galeerensträfling, als Tasso und Petrarca  . Er erneuert eine gewisse, für die Folge nicht unwichtige Bekanntschaft). Ob er den Freund in seinem andern Muhospitanten, jenem Jüngling mit der hebräischen Handschrift finden sollte, der seit einiger Zeit mit ihm denselben Weg zur Schule ging? Claus Münz war ein guter Kerl? aber er redete zu viel von seinen Muskeln. Er war nämlich vierschrötig und starkknochig wie ein Arbeitspferd, und wenn er Sempera die Hand gab, drückte er sie zum Beweise seiner Heldennatur so stark, daß Asmus das Gesicht verzog, und dann wieherte Claus Münz aus vollem Halse wie ein Roß. Er entblößte täglich einmal seinen Arm, um den Bizeps zu zeigen, und hatte den sehn- lichen Wunsch, einmal mit einem Athleten vom Spezialitäten- theater ringen zu dürfen. Es sei ein Jammer, sagte er, daß er als Schulineister nur sechs Wochen dienen könne, sonst würde er zu den Gardehusaren kommen, und dann hätte er vielleicht einmal tüchtig in die Franzosen einHauen können. Er hatte als Knabe jenen Geschichtsunterricht empfangen, nach dem die Franzosen   Lumpenhunde sind, die Deutschen hingegen bieder und treu. Asmus machte sich anfangs ein Vergnügen daraus, die Franzosen auf jede Weise heraus- zustreichen? aber bald ward ihm dieser Streit zu dumm. Claus Münz war auch in allen Muskeln und Knochen königstreu? Asmus hingegen war überzeugter Tyranncnmörder. Zwar konnte er kein Tier, geschweige denn einen Menschen leiden sehen, und sein schlimmster Feind hörte auf sein Feind zu sein, sobald er litt? aber so sehr er Cäsarn bewunderte und liebte, an den Iben des März und bei Philippi hatte er's mit Brutus gehalten, sein Herz hatte den Möros, den Har- modius und Aristogeiton, den Tell und ihren Genossen gehört. Nun war es geschehen, daß ein Mann namens Nobiling auf den Kaiser Wilhelm   geschossen und ihn verwundet hatte. Claus Münz war außer sich vor Entrüstung. Asmus, der in der Arbeitsstube der Zigarrcnmacher den ersten Wilhelm kaum anders alsKartätschenprinz" hatte nennen hören, hatte ein lebhaftes Mitgefühl mit dem alten Manne, wenn er ihn sich auf seinem Schmerzenslager dachte, und beklagte die Tat des Mörders? aber er ersuchte doch auch den mit allen Muskeln wütenden Freund, gefälligst nicht zu vergessen, daß Wilhelm I.  und Bismarck Tvrannen seien. Er war der Meinung, daß es Fürsten   und Minister, Herrschende und Besitzende durchaus in der Hand hätten, dem Volke Brot und Freiheit zu geben,- und daß nur Herrschsucht und Habsucht sie daran hinderten. Die Erkenntnis, daß wir alle unter dem Zwange der Not­wendigkeit steherk und daß es keine abhängigeren Menschen gibt als die Herrschenden, daß wir alle an Händen und Füßen, die Herrschenden aber an jedem Finger und jedem Haar von Fäden gezogen und geleitet werden, die aus dem Unendlichen kommen, es sollte noch lange währen, bis ihm j diese Erkenntnis aufging. Die Geschichtsstundcn des Herrn j Stahiner hatten wohl ein leises Ahnen von der ehernen Ver- 1 kettung der Tinge in ihm erweckt? aber dieser Unterricht war I zur kurz gewesen und hätte wohl auch, wenn er länger ge- währt, aus den jungen Keimen einer Jünglingsseele einer ! Kindessecle fast keine Bäume machen können. Die Geistes- ! kräfte des guten Claus Münz aber waren vollends nicht dazu ! geschaffen, den jungen Semper zu überwältigen: dieser gab