Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 77.
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Freitag. den 17 April.
( Nachdrud verboten.)
Semper der Jüngling.
1908
fonntäglichen Schwelgereien in nun bergangenen Tagen ge sehen hatte, von einer weiblichen Stimme anrufen hörte.
..Asmus, sei man nich so stolz!" rief die weibliche Stimme.
Er fuhr aus seinen Gedanken auf und starrte in das Gesicht einer Frau, die ein Kind auf dem Arme trug.
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Ja, war's denn möglich das war ja Adolfine Moses, die mütterliche Gespielin früherer Jahre, die treffliche Sibylle. in deren Herenküche er so manchen Buchweizenkloß gegessen hatte, die ihm die erste Nachricht vom Ausbruch des Krieges mit Frankreich gebracht hatte.
Kenns mich woll ganich mehr?" rief Adolfine und ver zog lachend den Mund bis an beide Ohren.
,, Aber natürlich, Adolfine, natürlich fenn ich Dich!" rief Asmus. Ihre Häßlichkeit war im wesentlichen nicht anders geworden, nur reiser. Wie geht's Dir denn?"
Och. ich bin jeg verheirat't. Dies is mein Jung; mags ihn leiden?"
Ein Bildungsroman von Otto Ernst . Das war Del ins Feuer. Den Kopf in beide Hände bergraben, las er stundenlang mit heißen und heißeren Wangen. Da plößlich sprang er auf, warf die Arme nach beiden Seiten und rief ganz laut: O Gotto Gott !" Er hatte die Stelle gelesen, wo Rousseau sich vor dem Leser zu jenem Diebstahl befennt, den er hartnädig geleugnet hat. Wohl eine Stunde lang stürmte Asmus im Zimmer auf und ab, oder er warf fich ins Sofa, vergrub das Gesicht in beide Hände und atmete schwer. Welch ein Mut, welch ein Wahrheitsmut; Welch eine erschütternde Liebe zur Wahrheit! Asmus wollte weiterlesen; aber faum hatte er das Buch berührt, so schlug er es heftig zu. Er konnte nicht weiterlesen; eine geheimnisvolle Macht verwehrte ihm, die heiligste, größte Stunde seiner Jugend felbst zu töten. Er lief ins Freie, rannte durch Felder und Wiesen und sah von Feldern und Wiesen nichts; er fühlte nur eine unaufhörliche Brandung gegen die Wände seines Herzens schlagen. Gegen Abend kehrte er ruhiger nach Hause zurück. Wieder schlug er das Buch auf, und langsam, zärtlich, mit ferngewandtem Blick machte er es wieder zu. Wie der Bergwanderer, der einen höchsten Grat erstiegen und nun die rief freie und reine Herrlichkeit der Täler und Gipfel erschaut, sich nicht entschließen kann, wieder dort hinabzusteigen, wo alles das ihm entschwinden wird, so konnte es Asmus nicht über sich gewinnen, die Höhe zu verlassen, wo himmlische Luft sein Herz durchbraust hatte.
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Und zu diesem Rousseau würde nun bald im Seminar Pestalozzi kommen und Comenius und die Alten: Plato, Aristoteles , die Kirchenväter er hatte Einblick in den Lehrplan des Seminars bekommen ach: was gab es da nicht alles in der Psychologie, in der Logik, in der Methodik, in Literatur und Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften ihm lief das Wasser im Munde zusammen wie einem Schlemmer, der vom Gastmahl des Trimalchion liest, bon einem jener römischen Gelage, wo ganze Ochsen und Eber auf goldenen Wagen herangefahren wurden und Speisen und Getränke aus der Decke, aus den Wänden und aus dem Boden hervorkamen. Das alles, was da in dem Lehrplan stand, sollte er studieren dürfen, bis in die tiefsten Schachte der Wissenschaft hinein, und zu Hause würde er noch Zeit haben, noch ebensoviel dazu zu lernen-
„ O Erd', o Sonne,
O Glück, o Lust!"
das war der tägliche Text seines Herzensschlages, die immer wiederkehrende Melodie feines Gedankenreigens. Was sich draußen golden und grün über Felder und Hecken breitete und was sich golden und grün über unendliche Fluren in seinem Herzen dehnte: es war derselbe Frühling, derselbe Lerchenfrohe Lebensmorgen.
Der alte Moor fiel ihm ein, der, seines Erstgeborenen gedenkend, erzählt:" Da ihn die Wehmutter mir brachte, hub ich ihn gen Himmel und rief:„ Bin ich nicht ein glücklicher Mann?"
Im Uebermute feines Herzens mußte er es still in sich Hineinrufen: Bin ich nicht ein glücklicher Mann?
Freilich: der alte Moor war dann nichts weniger als glücklich geworden.
Aber ich bin glücklich!" rief Asmus in sich hinein, ich werde glücklich sein, ich weiß es."
Mit solchen Empfindungen überschritt er an einem morgen zum ersten Male die Schwelle des Seminars. Er hörte nicht die Schere klingen, die Schere Gärtners, der herkam, sein Glück zu beschneiden.
Zweites Buch.
Arheit und Kampf.
14. Sapitel.
und
April
des
( Der Gärtner beginnt, seine Schere zu handhaben.) Asmus war erst wenige Tage im Seminar, als er sich auf dem Heiniwege, auf demselben Spielbudenplage, der seine
sie
" Ja, natürlich", sagte Asmus.
Was bist Du denn geworden?" forschte Adolfine. Ich will Lehrer werden", antwortete Asmus. Da Klaffte Adolfinens Mund wie eine Löwengrube, und lachte, daß es über den ganzen Platz hallte.
Schrei doch nich so!"
Bis woll verrüdt!" schrie sic. Asmus sah sich unwillkürlich um. er. Natürlich werd' ich Lehrer." Aber es fostete viel Mühe, sie daran glauben zu machen. Und langsam und gradweise, wie sie ihm Glauben schenkte. öffnete sich wieder ihr Mund.
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„ Aber iett
„ Kanns das denn alles in'n Kopf behalten?" fragte Adolfine. Sie dochte an ihre eigene Schulzeit. Jaa ziemlich", verfette er langsam. muß ich weiter. Adicu, laß Dir's gut gehen!" Er gab ihr die Hand; aber sie war jetzt sprachlos, und als er schon fünfzig Schritte weit war, stand ihr Mund noch immer offen. Hinter der Satyrmäske Adolfinens war das Schicksal verborgen gewesen und hatte gerufen:" Du bist wohl verrüdt!"-
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Das drohende Tabakmonopol und später die erhöhte Tabalsteuer lasteten schwer auf dem Gewerbe der Zigarrenmacher; wenigstens hatten die Fabrikanten die ohnedies bescheidenen Arbeitslöhne noch herabgesetzt. Der Urheber der Steuer nannte sich Bismard, und dieser Bismarck wurde in den Stuben der Zigarrenarbeiter um dessen willen nicht geliebt. Aber dieser Bismarck hatte noch etwas anderes hervor. gebracht, und das war das Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie. Asmussens Bruder Johannes aber war leidenschaftlicher Sozialdemokrat. Nicht als Redner trat er hervor: aber er war im Vorstand der Ortsgruppe und wirkte still und begeistert für die Organisation. In harter Winterzeit machte er Agitationsreisen ins unberührteste Schleswig- Holstein , dorthin, wo die Landbevölkerung den" Dezimalkroaten" Unterkunft und Nahrung weigerte und sie nicht selten mit Hofhunden an Leib und Leben bedrohte.
schieber" oder wie ihn Ludwig Semper ob feiner sturmEinmal aber trat Heinrich Moldenhuber, der„ Wolkengeschwellten Rockschöße gewöhnlich nannte: Heinrich der See fahrer ins Arbeitszimmer der Semper und sagte mit stoischem
Lächeln:
ch bin ausgewiesen."
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Man glaubte anfangs, er scherze. Aber er zeigte lächelnd den Ausweisungsbefehl. Und man begriff noch immer nicht. Wie? Dieses neunundzwanzigjährige Kinderdieser Mann, der zu den besten Stücken meiner Jugend und herz sollte gemeingefährlich" sein? Wie? dachte Asmus, meiner Heimat gehört den verbannt man aus seiner Seimat? Gewiß würde Moldenhuber auch auf der Barrikade seine Schuldigkeit getan haben; aber nie würde er aufgefordert haben, eine zu bauen; er würde vielmehr versucht haben, den Fürsten Bismarck oder den das Standrecht ausübenden General von seinem Irrtum und von der Richtigkeit der sozialistischen Lehre zu überzeugen.
Aber alles Verwundern half nichts gegenüber der brutalen Tatsache.
Wohin willst Du denn?" fragte Ludwig Semver.