Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 78.

14)

Mittwoch den 22 April.

( Nachdrud verboten.)

Semper der Jüngling.

Gewiß," fagte Asmus.

1908

Schreib mir sobald als möglich, wie es Vater und Mutter geht sie werden allmählich alt."

Ja, ja," sagte Asmus nachdenklich.

" Mach' ihnen nur recht viel Freude. Sowie ich etwas übrig habe, schick' ich auch Geld."

Aber überarbeite Dich auch nicht," fügte Johannes noch hinzu. Dann schwiegen sie wieder. Und wieder hub in Asmus die sanfte, traurige Weise an:

Je vais donc quitter pour jamais Mon doux pays

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Ein Bildungsroman von Otto Ernst . Amerikal Asmussens Brüdern, Johannes und Alfred, hatte dies Land schon oft vor der Seele gestanden als ein Bereich, wo man aus dem ewigen Schuften und Sorgen herauskomme, wo brauchbare Arbeit einen reichlichen Lohn finde. Der Entschluß, dahin auszuwandern, war immer wieder verschoben worden; denn diese Heimat mit all ihrem Schuften und Sorgen übte ihre stille Kraft. Aber die Polizei tam ihrer Unentschlossenheit zur Hülfe. Ein Beamter, der Ludwig Sempern freundlich gesinnt war, teilte ihm unter der Hand mit, daß auch sein Sohn Johannes auf der Pro­striptionsliste stehe und demnächst drankomme". Vielleicht es gern oder ungern taten, was sie erhofften und was sie siehe er es vor, noch vordem auszuwandern.

Das gab einen Aufruhr im Hause Semper! Frau Rebekka sprach sich über Thron und Altar, über Bismard und die Polizei in einer Weise aus, die ihr gegebenen Falles 100 Jahre Gefängnis gesichert hätten, und im stillen weinte fie. Ludwig Semper trug das Unglück schweigend wie immer, nur warf er öfter als sonst das linke Bein über das rechte und bewegte heftig die Lippen, und nur einmal rief er: Die Narren, wenn sie glauben, daß ihnen das was hilft!"

Am muntersten nahm Alfred die Neuigkeit auf. Er wollte sofort mit seinem Bruder nach Amerika , obwohl ihn niemand forttrieb und obwohl er sich ein Sümmchen erspart hatte. Aber er wollt' es zu was bringen" und erbot sich, feinem Bruder das Geld für die Ueberfahrt zu leihen.

Und Johannes schlug ein. Entschlossen, nach Amerika zu gehen, war auch er. Aber seine Entschlossenheit hatte zwei Gefichter, die in den nächsten acht Tagen oft miteinander wechselten. Das eine pflegte mit unternehmendem Blick durchs Fenster nach Westen zu sehen, das andere die Blicke wandern zu lassen über Wände und Winkel, Gassen und Felder in Haus und Heimat, von denen er scheiden sollte.

15. Rapitel.

( Asmus hört ein französisches Lied von deutschem Heimweh, gibt Privatstunden bei Lachtauben und Häschen und erhält sein erstes Dichterhonorar.)

Endlich waren sie am Landungsplaß, und da griff der Anblick der vielen Hunderte von Zwischendeckspassagieren wie mit Krallen in Asmussens Herz. Er wußte ja von all diesen Leuten gar nicht. warum sie auswanderten, ob sie berließen; aber er sah in dieser ganzen Masse von Männern, Weibern und Kindern mit ihrer in Bündel geschnürten Habe nur ein großes, bitteres Elend, und zum ersten Male in diesen Tagen des Abschiedes traten ihm heiße, reichliche Tränen ins Auge. Er trocknete sie schnell; denn es galt, Abschied zu nehmen und den Brüdern ein fröhliches, er munterndes Gesicht zu zeigen. Der guten Frau Rebekka wollte fast das Herz brechen, und sie empfahl ihren Söhnen noch hundert Dinge, die sie nicht vergessen sollten; sie knöpfte Alfred den Nod zu und knotete Johannes den Schal fester um den Hals, um sie gegen die rauhe Seeluft zu schüßen, die indessen von Hamburg noch fünf Stunden weit entfernt ist. Endlich fuhr das Schiff unter Hurrarufen und Winken der Zurückbleibenden davon.

Als Asmus wieder daheim war, ging er heimlich ins Schlafzimmer, wie er von jeher getan, wenn er mit sich allein sein wollte. Er trat ans Fenster und blickte nach Westen Wo werden sie jetzt sein, dachte er.

Je vais donc quitter

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Die Melodie schlang sich wie ein Gewinde von Orangen blüten durch alle seine Gedanken.

Das Lied paßte ja eigentlich gar nicht so recht zu diesem Tage: es war ein französisches Lied, und hier handelte es sich um eine deutsche Heimat; auch der Sinn der Worte paßte nur halb; aber die Töne, die Töne sangen ein wunderbares Heimweh, und sie folgten ihm bis in den Traum und bis in manchen folgenden Tag.

Schon acht Tage später bewegte sich durch die Straßen von Oldensund und Altenberg ein Trupp von Auswanderern Biel Zeit war indessen für wehmütige Stimmungen und dem Hamburger Hafen zu. Außer Moldenhuber und Gedankenspiele nicht übrig; das Leben schickte sich an, unserem Johannes Semper waren noch andere ausgewiesen worden: Seminaristen mit realen Forderungen hart auf den Leib zu Europamüde hatten sich ihnen angeschlossen, und zahlreiche rücken. Mit den beiden Söhnen hatten die alten Semper Verwandte und Freunde gaben ihnen das Geleite bis zu den zwar zwei beträchtliche Esser, zugleich aber einen für ihren Landungsbrücken. Man war auf gewisse Weise heiter; Haushalt noch beträchtlicheren Geldzuschuß verloren. Bor einige hatten ihrer Heiterkeit mit Alkohol auf die müden übergehende Arbeitslosigkeit fam hinzu, und die fetten Jahre Beine geholfen. Man fonnt' es Heiterkeit nennen, wie man der dreihundertundsechzig Mark pro anno waren vorbei; es Sonnenschein nennen fann, wenn durch unaufhörlich im ersten Seminarjahr gab es nur einhundertundzwanzig ziehende Wolken hin und wieder auf Minuten die Sonne Mark Stipendien, im zweiten zweihundert, im dritten zwei­mit stechenden Glanze hindurchblickt. Man sang sogar, man hundertundvierzig. Aber wie sollten nun die Semper ihren sang lustige Lieder; aber kein Mensch nahm sie lustig. Asmus Studenten durch drei endlose Jahre hindurchschleppen?! ging eine Weile allein neben seinem Bruder Johannes. Sie fangen beide nicht mit; aber plößlich sang etwas in Asmus. Er hatte es oft, daß plößlich eine Melodie in ihm aufwachte, die er nur einmal gehört und die er dann wochenlang, monatelang bergeblich in seiner Erinnerung gesucht hatte. Vor mehr als einem Vierteljahr hatte er mit dem blinden Bianisten zusammen die Fantastische Sinfonie, Op. 14" von Berlioz gehört. Und da hatte ganz besonders ein Gesang gedämpfter Geigen sich wie ein weicher, warmer Herbsttag ihm in das Herz gelegt. Er hatte sich die Worte gemerkt, die den Komponisten zu diesem Gesange angeregt hatten; aber die Melodie hatte er doch vergessen. Heute mit einem Male schlug jene wundersame, süß- traurige Weise die Augen auf.

Je vais done quitter pour jamais mon doux pays, ma douce amie( So werd' ich denn meine füße Heimat, meine süße Freundin auf immer lassen) sang es in ihm. Dann hörte er seinen Bruder sprechen.

Sobald ich drüben bin, schick' ich meine Adresse; dann mußt Du mir fleißig schreiben."

Frau Rebekka verzagte an diesem Unternehmen. Durch den Spalt einer angelehnten Tür belauschte Asmus eines Tages ein Gespräch seiner Eltern.

,, Dann muß er eben den Lehrer an den Nagel hängen und Bigarrenmacher werden," sagte die Mutter.

Ach, Unsinn!" klang die Stimme Ludwig Sempers. " Ja, Unsinn! Weißt Du, woher das Geld kommen soll Ich weiß es nicht. Wir riechen nach Geld wie die Gänse nach Franzbranntwein."

,, Na ja, das findet sich," sagte Ludwig.

Ja, das sagst Du immer," meinte Rebekka. Wozu auch?" fuhr sie fort. Die anderen Kinder sind auch alle begabt und sind auch keine Lehrer geworden."

Sie sagte das nicht lieblos; fie sagte es mit jener Re­fignation des Armen, der das Gefühl hat, daß das Talent für den Mittellosen ein Unglüd ist."

Aber obwohl sie das Wort nicht lieblos gesprochen hatte, ging es Asmussen wie ein Messer durchs Herz. Sie hatte Wahrheit gesprochen, die Mutter. Seine Brüder waren wohl ebenso begabt wie er, vielleicht begabter, und mußten