Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 80.
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Freitag, den 24. April.
( Nachdruck verboten.)
Semper der Jüngling.
Ein Bildungsroman von Otto Ernst . Asmus war's, als ob ihm siedendes Wasser über den ganzen Leib liefe. Wie sollte er denn dazu kommen, sich an einer Flasche Wein zu vergreifen, die andren Leuten gehörte, und diesen Wein einer Dame anzubieten, einer Dame furcht bar prächtig wie blutiger Nordlichtschein"! Wenn er auch in der Theorie noch Königsmörder war und wußte, daß es schlechte Könige und Minister gebe, in der Praxis glaubte er noch fest, daß ein Mensch, der Frau Senator" heiße, auch wirklich etwas Hervorragendes und Feines sein müsse.
1908
Der Kopfhänger Asmus richtete sich hoch auf, und zu Hause angelangt, schrieb er sofort an Stadtratens", daß er durch Privatstunden und andere Pflichten leider verhindert sei, fernerhin zum Essen zu kommen, und daß er für die er. wiesene Güte danke.
Bei dem reichen Lederhändler aber, der Senator werden wollte, hielt er's nur eine einzige Mahlzeit aus. Als man zum Essen ging, wollte Asmus schon seinen Stuhl vom Tisch abrüden, um sich darauf zu setzen, da bemerkte er, daß alle hinter ihren Stühlen stehen blieben zum Gebet. Er trat schnell ebenfalls hinter feinen Stuhl, faltete aber weder die Hände noch senkte er den Kopf, um nicht den Anschein zu erwecken, daß er mitbete. Der Hausvater tat, als habe er nichts bemerkt; aber gegen Ende der Mahlzeit flocht er in sein erbauliches Gespräch ein Sprüchlein ein, das lautete: Wer ungebetet zu Tische geht Und ungebetet vom Tisch aufsteht, Der ist dem Dechs- und Eslein gleich Und hat nicht teil am Himmelreich."
Da war aber auch noch jedesmal ein Kandidat, der bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf die Juden schimpfte, sonst aber keine geistige Regiamkeit erfennen ließ. In Asmussens Herzen war die Stelle noch Sonnenwarm, an die er vor Jahren Lessings Gedicht von Nathan dem Weisen gedrückt hatte. Der Kandidat war Durch diese liebevolle Weltanschauung fühlte sich indessen ihm furchtbar zuwider. Er fonnt' es begreifen, daß man Asmus nicht einmal so weit überzeugt, daß er beim Gebet einzelne Menschen haßte, wenn sie schlecht waren; auch er nach Tisch die Hände faltete, vielmehr sagte er sich auf dem tonnte hassen, o gewiß, leidenschaftlich, wenn auch nicht lange; Nachhausewege: Kann ich erwarten, daß die Leute meinetaber daß man eine ganze Menschenklasse hassen, verdammen, wegen nicht beten? Ganz gewiß nicht. Können sie verbeschimpfen und ihr alles Leid an den Hals wünschen konnte, langen, daß ich aus Dankbarkeit für das Mittagessen mitdas empörte ihn wie eine Roheit des Herzens, und diese bete? Ebensowenig. Ich bete nicht. So nicht. So nicht!" Empörung schwoll eines Tages so gewaltig in ihm auf, rief der Jüngling, der nach der Ansicht des Lederhändlers daß er, über und über errötend, dem Kandidaten erwiderte: feinen Teil am Himmelreich hatte, laut vor sich hin, so laut, Vergessen Sie doch nicht, wie man die Juden be- daß ein kleiner Junge ihn anstarrte und ihm eine Weile handelt hat." nachschaute. Und merkwürdig, wieder fiel ihm ein steifnadiges Wort Theodor Storms ein:
O, das war nicht so schlimm," meinte der Gottesgelehrte spöttisch.
" So? Haben Sie Freytags" Bilder aus der Deutschen Vergangenheit gelesen?"
Nee."
Nun, da können Sie's nachlesen; Freytag ist gewiß unparteiisch. Und ich muß fagen: Wenn man mich so behandelte, würde ich nur eine Antwort kennen: Haß, unausLöschlichen Haẞ."
Man ging schnell über die Taktlosigkeit des Freitischlers hinweg, und als Asmus zehn Minuten später eine bescheidene Bemerkung an die Frau Senator" richtete, tat fie, als hätte fie nichts gehört.
Das nächste Mal war ein Professor von der Familie zugegen. Er zog den jungen Semper fehr wohlwollend in ein Gespräch über die Schule, und im Laufe dieses Gesprächs erklärte Asmus die allgemeine Volksschule für sein Ideal. Ja, mein lieber Herr Semler, nicht wahr?" Semper."
Semper! Bardon!- sehen Sie, das macht sich in der Theorie ja alles sehr schön; aber wie wollen Sie das durchführen? Wir können doch unsere Kinder nicht mit Rrethi und Blethi zusammen erziehen lassen. Wenn unsere Töchter mit den Töchtern unseres Grünframhändlers auf derselben Schulbank fizen, woher sollen wir denn unsere Frauen nehmen?"
Asmus empfand eine deutliche Ohrfeige. Für Krethi und Plethi und Grünhöfer konnte man auch Bigarrendreher" fagen. Uebrigens hatte der Professor Asmussen nicht nur eine feine Zigarre gereicht, sondern ihm sogar Feuer gegeben. Als der Seminarist eine Viertelstunde später die mit dicken Teppichen belegte Treppe hinabstieg und das Dienstmädchen ihm mit Herablassung den Ueberzieher reichte, fragte er fich: Durfte ich dazu nun schweigen? Durfte ich sozusagen meine Eltern beschimpfen lassen für ein feines Diner? Darf ich überhaupt zu all diesen schrecklichen Ansichten schweigen und den Anschein erwecken, daß ich sie teile?
Natürlich mußte er schweigen; denn dreinzureden, wäre sehr unbescheiden gewesen. Aber er konnte das nicht mit anhören, ohne jeden Augenblick aufzuzuden. Und ihm fiel das schöne Aristokratenwort seines Landsmannes Th. Storm ein: Wo zum Weib Du nicht die Tochter
"
Wagen würdest zu begehren, Halte Dich zu wert, um gastlich In dem Hause zu verkehren."
Auch blieb der Priester meinem Grabe fern; Zwar sind es Worte, die der Wind verweht; Doch will es sich nicht schiden, daß Protest Gepredigt werde dem, was ich gewesen, Indes ich ruh im Bann des ew'gen Schweigens!"
18. Rapitel.
( Wie Asmus schlafwandelte und die Gedankenivelt des Herrn Quasebarth auf den Kopf stellte.)
Als obendrein der Architekt nach Süddeutschland übersiedelte und auch diese Speisung ihr Ende fand, fah Asmus fich wieder ganz auf dem alten Punkte. Es galt, eifriger denn je nach Privatstunden auszuschauen, und er fand auch immer wieder neue; aber da sie meistens schlecht bezahlt wurden, so mußte er ihrer so viele geben, daß er an gewissen Tagen mit einer dreiviertelstündigen Unterbrechung von sieben Uhr morgens bis elf Uhr abends bei der Arbeit oder auf dem Marsche war. Um sechs Uhr abends kam er dann zum Mittageffen. Das Diner war in zehn Minuten erledigt, und dann lehnte er sich ins Sofa zurück, um 35 Minuten lang nichts, gar nichts zu tun. Solche Bedürfnisse hatte er früher nicht gekannt. Mit dem Blid auf die Uhr genoß er die Minuten einzeln, und die Zeit schien dadurch länger zu werden.„ Noch ficben schöne Minuten," dachte er, noch sechs, noch vier," und die legten Minuten fostete er, wie man Tropfen eines kostbaren Weines einzeln auf der Zunge zergehen läßt. O weh, dann war er doch ins Träumen geraten und hatte fünf Mimuten über die Zeit genossen! Nun hieß es rennen.
Eines Abends auf dem Heimwege stieß er mit dem Kopfe gegen den Mauerpfeiler eines Gartenportals. Wie konnte denn das angehen? Hatte er denn im Gehen geschlafen? Nein, das war nicht möglich. Er blutete an der Wange, und am anderen Tage nedte man ihn in der Klasse, er sei bekneipt gewesen.
Wenige Tage später, auf demselben Wege, erwachte er plößlich auf einem freien Platze. Er mußte sich lange befinnen, eh' er begriff, wo er war. Er war in einer ganz verfehrten Richtung gegangen und hatte nun noch einen weiteren Weg nach Hause als sonst. Er war so erschöpft, daß er nach zehn Schritten immer wieder einschlief; aber der einstündige Weg mußte gemacht werden, da half nichts. Er nahm ein heftiges Tempo an und stampfte den Boden wie ein Grenadier beim Parademarsch; aber nach wenigen Minuten wurden feine Schritte langsamer- langsamer- langsamer. Am