Pessimismus er sich natürlich als Achtzehnjähriger nicht an- schließen konnte. Seine Glanznummer aber war der„Faust", den er aus dem Kopfe vortrug, und nur das eine betrübte ihn ein wenig, daß seine Freunde, so beifällig sie auch die ernsten Partien der Dichtung aufnahmen, doch immer am un- händigsten über die Sauferei in Auerbachs Keller und über das „verdammte Aas" und die„verfluchte Sau" in der Hexen- küche jubelten. Fühlten sie denn nicht, daß der Prolog im Himmel, die Monologe, die Gretchenlicder, die Kerkerszene viel gewaltiger und schöner waren? Das schlimmste war aber doch, daß bei einem Bereinsfeste, bei dem auch Gäste zugegen waren, ein dicker Magazinverwalter auf ihn zutrat und sagte: „Djunger Mann, Sie haob'n jao'n kullosaoles Gedächt- nis! Mit dem Gedächtnis können Sie'ne Frau mit achtzig- tausend Mark kriegen." Er dachte sich dies Gedächtnis in einem Magazin an- gestellt. Und das, nachdem Asmus den Tasso rezitiert hatte — man denke: den Tasso I In etwa siebenundzwanzig Vorträgen sprach Morieux sehr stilvoller Weise— über Voltaire, und bei jeder Spitz- büberei des Herrn Arouet(Familienname Voltaires ) mußte er vor unbezähmbarem Vergnügen feixen.' Die Vorträge und Rezitationen wechselten mit Musik, gesungen, gegeigt und gehämmert, und unter den Musikanten waren solche, die einst- mals echte und namhafte Künstler werden sollten und in diesen Stunden, wenn nicht ihr Bestes, so vielleicht ihr Heiligstes gaben. Auch gemeinsame Ausflüge unternahmen sie, und einer dieser Ausflüge führte sie in den Sachsenwald. (Fortsetzung folgt.) (Nachdruck»erboten.) Cm Keamter. Von Vicente BlaSco Jbanez, autorisierte Uebersetzung von Albert Cronau. Der Journalist Juan Dauez, der einzige Gefangene in der poli- tischen Abteilung, lag ausgestreckt auf seinem elenden Lager und während er mit vagen Blicken die Risse der Decke betrachtete, dachte er daran, daß er mit dem heutigen Abend im dritten Monat ein- gesperrt war. Neun Uhr.... Das Horn hatte im Hof die langgedehnten Töne erschallen lassen, die Stillschweigen geboten.... Aus den Korridoren hallten mit monotoner Gleichmäßigkeit die Schritte der Aufseher und aus den mit Menschenfleisch angefüllten Schlafsälen ertönte ein gleichmäßiges Geräusch, das dem einer fernen Schmiede oder dem Atmen eines eingeschlafenen Riesen ähnelte: es schien un- möglich, daß in diesem alten, stillen Kloster, dessen Verfall bei dem grellen Gaslicht noch sichtbarer wurde, tausend Menschen schliefen. Der arme Dauez, der gezwungen war, sich um neun Uhr schlafen zu legen, dabei fortwährend Licht vor den Augen hatte und von einer niederdrückenden Stille umgeben war. die glauben machen konnte, daß die Welt gestorben wäre, dachte daran, wie hart seine Rechnung mit den Institutionen ausgefallen war! Verdammter Artikel I Jede Zeile kostete ihm eine Woche Gefängnis, jedes Wort einen Tag. Dabei sah Dauez, dem einfiel, daß diesen Abend die Opern- saison mit seiner LieblingSoper„Lohengrin " anfing, die Logen mit nackten Schultern und anbetungswürdigen Nacken besetzt, die zwischen den blitzenden Edelsteinen zum Vorschein kamen, er sah den Glanz der Seide und das anmutige Hinundherwogcn von gekräuselten Federn. Neun Uhr.... Jetzt war der Schwan erschienen und der Sohn Parsifals würde vom Publikum mit den Zeichen der Erwartung be- grüßt, nun seine ersten Töne hinausschmettern I Und nun bin ich hier! O Gott! Die Oper, die ich habe, ist auch nicht schlecht! Ja, in der Tat, sie-war nicht schlecht I Aus dem Kerker da unten kamen wie aus einem unterirdischen Gewölbe die Geräusche her- vor, womit ein bestialischer Mensch aus den, Gebirge, dessen Hin- richtung wegen unzähliger Morde bevorstand, sein Dasein aus- dehnte. Die Ketten klirrten, als ob das Geräusch von einem Haufen Nägel und alter Schlüssel käme, und von Zeit zu Zeit wiederholte eine schwache Stimme:„Vater... unser, der Du bist im Him... mel... Hei... lige Maria", mit dem furchtsamen, bittenden Ausdruck eines Kindes, das im Arm der Mutter einschläft. Er wiederholte den monotonen Singsang immer wieder, es war unmöglich, ihn zum Schweigen zu bringen. Die meisten meinten, er wolle sich hierdurch wahnsinnig stellen, um den Hals zu retten: vielleicht hatten auch vierzehn Monate Isolierung in einem unter- irdischen Kerker seinem aeringen Verstands einer vom Instinkt ge° leiteten Bestie ein Ende gemacht. ?!anez verfluchte gerade die Ungerechtigkeit der Menschen, die ür eiiiige Zeilen, die er in einem Augenblick schlechter Laune hingekritzelt hatte, zwang, jede Nacht vom Delirium eineö zum Tode Verurtettten in den Schlaf gelullt zu werden, als er laute Stimmen und eilige Schritte in demselben Stockwerk hörte, in dem seine Abteilung war. .Nein, hier schlafe ich nicht/ schrie eine zitternde Diskant« stimme.„Bin ich vielleicht ein Verbrecher? Ich bin ein Beamter der Gerechttgkeit und der Justiz, ebenso wie S,e l Dabei habe ich dreißig Dienstjahre hinter mir I Fragen Sie nur nach NicomedeS..., jederinann kennt mich, sogar die Zeitungen haben von mir gesprochen. Nicht allein, daß Sie mich im Gefängnis einlogieren, nun wollen Sie auch, daß ich in einer Dachkammer schlafe, die nicht einmal für die Gefangenen gut genug istl Ich danke dafür! Dafür ließen Sie mich kommen? Ich bin krank... und schlafe hier nicht. Holen Sie mir einen Arzt... Trotz seiner Lage lachte der Journalist nun doch, da ihn die weibische, lächerliche Tonart, worin der Mann mit den dreißig Jahren Dienst nach dem Arzt verlmigte, belustigte. Das Stimm- gemurmel wiederholte sich� man diskutierte, als ob man beratschlagte, man hörte Schritte, die immer näher kamen; nun öffnete sich die Tür der politischen Abteilung, und es kam darin eine goldbetreßt« Mütze zum Vorschein.... .Don Juan", sagte der Beamte mit einer gewisien Schüchtern« heit,.heute Nacht werden Sie Gesellschaft haben.... Entschuldigen Sie, es ist nicht meine Schuld, die Not.... Mit einem Wort, niorgen wird der Direktor schon andere Anordnungen treffen.... Treten Sie herein, mein Herr l" Nun kam der Herr(es war das ironisch gesprochen) über die Türschwelle: zwei Gefangene folgten ihm, wovon einer einen Handkoffer und ein Bündel Decken und Stäbe trug und der andere einen Sack, in dessen Stoff sich die Kanten einer schmalen, nicht sehr hohen Kiste abzeichneten. .Guten Abend, gnädiger Herr I" Er grüßte demütig und mit der zitterigen Stimme, die Dauez zum Lachen gebracht hatte, und als er den Hut abnahm, entblößte er einen kleinen, grauhaarigen, sorgsam ge- sworenen Kopf. Er war ein wohlbeleibter Fünfziger mtt roter Gesichtsfarbe: der Mantel schien ihm von den Schultern zu fallen, und ein Bündel Uhrgehänge, das an einer dicken, goldenen Kette hing, schlug bei jeder Bewegung auf seinem Bauch klirrend zu- sammen. Seine kleinen Augen hatten den bläulichen Glanz des Stahl? und der Mund schien wie erdrückt von einem gekrümniten Schnurrbart, der herabfiel wie zwei Fragezeichen. .Entschuldigen Sie." sagte er, sich setzend,.daß ich Sie so sehr belästigen muß, aber es ist nicht meine Schuld. Ich bin mit dem heutigen Abendzuge gekommen und nun will man mir eine Dach« kammer voller Ratten geben. DaS heißt sich eine Reise!" „Sind Sie Gefangener?" „In diesem Angenbick, ja," sagte er lächelnd,„aber ich werde Ihnen mit meiner Gegenwart möglichst wenig zur Last fallen." Dabei zeigte sich der dickbäuchige Bürgersmann so ehrerbietig und demütig, als ob er um Verzeihung dafür bitten wolle, daß er seinen Platz im Gefängnis eingenommen habe. Dauez blickte ihn fest an: so große Furchtsamkeit erschreckte ihn. Wer war dies Subjekt? Dabei huschten durch sein Gehirn einige unzusammenhängcude, kaum skizzierte Ideen, die sich zu suchen und einander zu verfolgen schienen, um schließlich zu einem Gedanken zu werden. Als von fern wiederum das klägliche„Vaterunser" der ein- geschlossenen menschlichen Bestie ertönte, richtete sich der nervös gewordene Journalist rasch«uf, als ob er soeben die flüchtige Idee erwischt hätte, wobei er den Blick fest auf den Sack heftete, der zu Füßen des Neuangekommenen lag. „Was tragen Sie da bei sich?... Ist eS die Kiste mit den Werkzeugen?" Der Mann schien unschlüssig zu sein, aber schließlich wurde er von der Energie, die in der Frage lag, iiberwälttgt und er neigte den Kops bejahend. Nun herrschte ein langes, peinliches Still- schweigen. Einige Gefangene stellten das Bett des Menschen in eine Ecke des Saales. Dauez sah den bei ihm einquartierten Gefährten. der den Kopf gesenkt hielt, als ob er den Blicken des anderen sich entziehen wollte» fest an. Als das Bett gemacht war und die Gefangenen sich zurückgezogen hatten, als dann der Beamte die Tür durch den äußeren Niegel ge- schloffen hatte, setzte sich das peinliche Stillschweigen noch fort. Schließlich nrachte das Jndividium eine Anstrengung und begann zu sprechen. „Ich werde Ihnen eine schlechte Nacht verursachen, aber eS ist nicht meine Schuld. Die da haben mich hierher geschleppt. Ich widersetzte nnch dem, da ich weiß, daß Sie ein anständiger Mann sind, der nteine Gegenwart als das schliinnistc empfindet, das ihm in diesem Hause passieren könnte." Durch soviel Demut fühlte sich der junge Mann entwaffnet. „Nein, ich bin an alles gewöhnt," sagte er ironisch.„Man macht in diesem Hause so schöne Bekanntschaften, daß eS aus eine mehr nicht ankommt. Auch scheinen Sie mir kein schlechter Mensch zu sein." Nun fand der Journalist, der den Eindruck seiner romanttschen Lektüre noch nicht losgeworden war, diese Znsammenkunst sehr originell, ja, empfand sogar ein gcwiffeS Vergnügen daran. „Ich wohne in Barcelona ", fuhr der Alte fort,„aber mein Kollege in diesem Bezirk starb vor kurzem, als er sich zum letztenmal betrunken hatte, und gestern, als ich im Gerichtssaal erschien, sagte mir ein Gerichtsdiencr: „NicomedeS... denn ich bin Nicomedes Terruno, haben Sie nicht von mir gehört? Das ist seltsam, die Presje hat
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25 (28.4.1908) 82
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