Inlerhaltungsblatt des vorwärts Nr. 105. Mittwoch den 3 Juni. 1903 (Nachdruck verboten.) � Semper der IungUng. Ein Bildungsroman von Otto Ernst . Das Blatt war seinen Händen entfallen. Er sah nach der Tür — sie war noch offen— schnell ging er hin und drückte sie ins Schloß. Nur allein sein. Dann ließ er sich auf einen Stuhl fallen. Merkwürdig, wie ihn das traf. War es denn nicht selbst- verständlich, daß Hilde Chavonne sich einmal verlobte? Und hatte er denn je geglaubt, sie werde sich mit ihm verloben? Nein, nicht einmal im Traum hatte er das gehofft. Darum hatte er ja auch nie die geringste Anstrengung gemacht, sie zu gewinnen. Er war ihr während des letzten Jahres fast völlig ferngeblieben, nicht eigentlich mit Absicht; aber da es sich so gefügt hatte, daß sie sich nur selten und flüchtig sahen, war es ihm recht gewesen. Vor einem Vierteljahr hatte er sie zu- letzt gesehen, an einem Festabend der„Treue von 1880", als er mit einem hübschen Mädchen zusammen ein Duett gesungen hatte. Das Fräulein Chavonne war an jenem Abend sehr füll, sehr ernst, und obwohl freundlich, doch sehr zurück- haltend gewesen. Und jetzt— verlobt!— Er war längst wieder aufgesprungen und hatte instinktiv zu seinem Beruhigungsmittel gegriffen: zum Wandern. Auf und ab gehen, immer auf und ab, dann hat man das Gefühl «der Bewegung, das Gefühl: Es geht vorUber— es geht vorüber. Sie ist verlobt! Wie konnte sie ihm daS antun! Haha — im selben Augenblick mußte er laut auflachen. Hatte sie Venn die geringste Verpflichtung, auf ihn zu warten, auf ihn? Hatte er ihr das geringste Zeichen gegeben, daß sie auf ihn warten solle? Hatte er überhaupt ans Heiraten gedacht? Nein, er, der als Präparand alles heiraten wollte, was ihm in den Weg kam, er hatte in den letzten Jahren das Heiraten als ein Ding angesehen, das noch in weiter Ferne liege; ja, es war ihm eine gewisse Beruhigung gewesen, daß es mit i>em Kniefall und mit der langen Liebeserklärung in Periodenform noch gute Weile habe. Seine Arbeit, sein Be- ruf hatten sein ganzes Interesse aufgesogen. Jetzt, jetzt mit einem Male wußte er's: Nur an Hilde hatte er gedacht, wenn er überhaupt an eine Frau gedacht batte. Wenn er sich das Weib an sich gedacht hatte, das hehre Weib, das edle Weib, das holde Weib— nur an Hilde Chavonne hatte er gedacht, nur an sie. Wenn er Liebes- gedichte gemacht hatte, platonisch-elegische Liebesgedichte in weinenden Odenstrophen— hatte er an sie gedacht.- Jetzt wußte er's, daß er sich nur eine als sein Weib denken konnte: Hilde— und er begriff nicht, daß er das nicht gewußt hatte, bevor er diesen Brief geöffnet. Er begriff es nicht, weil er sich seiner Unreife nicht bewußt war. In ehrlicher Gedanken- arbeit war sein Hirn über seine Jahre gereift; aber sein Herz war noch unreif wie ein Apfel im Frühling, und unreif war die Liebe in diesem Herzen. Jetzt, da das Schicksal einen tiefen Schnitt in dieses Herz getan hatte, entdeckte er die Liebe darinnen. So fühlte er nicht den rasenden Schmerz des Betrogenen, Zurückgestoßenen; denn er hatte nicht die rasende Lust des Liebenden und Hoffenden gefühlt; er empfand die Wehmut eines Mannes, der eines Morgens ein zartes Bäumchen seines Gartens erfroren findet und erkennt, daß es sein schön- stes Bäumchen gewesen; er empfand eine Trauer, wie sie junge Eltern empfinden, denen ein kaum Geborenes gestorben ist; er empfand den dumpfen, unbefreiten Schmerz um ein Werdendes, das, zu großer Schönheit bestimmt, im Keime vernichtet war. Mechanisch griff er nach dem zweiten Briefe; mechanisch öffnete er ihn— er war von Rumolt— mechanisch überflog er die ersten Zeilen, aber nur die ersten. „Mein lieber Freund! Von Ihnen hätte ich mündlich Abschied nehmen mögen. Aber es durfte nicht sein; denn Sie würden versucht haben, mich zurückzuhalten. Sie sind von festerem Stoff als ich und werden, das weiß ich, den Kampf besser bestehen, den gegen der Menschen Stumpfsinn, Trägheit und Niedrig» keit. Meiner Hand entsinken die Waffen. Damit Sie eS nicht in gehässiger Entstellung hören, was mich zu meinem Scheiden veranlatzt, will ich es Ihnen selbst sagen. Ich habe einem meiner Schüler— ich glaube, ich habe Ihnen von ihm gesprochen— einem Untersekundaner, der zum zweiten Male hoffungslos vor dem Examen stand und dessen Qualen ich nicht mehr mit ansehen mochte, in un- erlaubter Weise geholfen, habe ihm die Examenaufgaben vorher mitgeteilt. In seiner Freude hat es der Junge nachher selbst ausgeplaudart. So bracht' die Sonn' es an den Tag. Hätte er das Examen nicht bestanden, war' er aus der Welt gegangen: nun gehe ich, und das ist besser. Leben Sie wohl, teurer Freund; unsere Freundschaft war kurz, aber wahr. Ich danke Ihnen schöne Stunden, von denen ich dort erzählen will, wohin ich gehe. Rumolt." Asmus hatte die letzten Zeilen mit fliegendem Atem ge» lesen; jetzt sprang er nach der Tür. „Wo willst du hin?" rief Frau Rebekka,„dein Essen ist fertig!" „Ich esse nichts— ich muß—" „Junge, du hast ja keinen Hut auf! Was ist denn los—?" Er entriß ihr den dargebotenen Hut und stürmte mit dem Rufe:„Ich muß weg!" hinaus. Ohne Besinnen stürzte er über Stock und Stein nach Rumolts Wohnung. Die Wirtin bestätigte ihm weinend das Schreckliche. Am Ufer des Kanals hatte man den Rock und Hut gefunden, die Leiche war noch nicht gefunden worden. Aber am nächsten Tage fand man auch sie.— Das war eine denkwürdige Post gewesen. Zwei Briefe, und jeder ein Schlag. An einem Tage Freund und Geliebte verloren: denn von nun an war sie ihm Geliebte. 45. Kapitel. (Wenns kommt, dann kommts in Haufen.)' Was wird nun kommen? dachte Asmus. Denn er glaubte an sein heimatliches Sprichwort:„Wenn't kummt, denn kummt't in Hupen." Und ein drittes Unglück kam, aber nicht von außen, sondern ganz heimtückisch aus dem tiefsten Innern richtete es sich auf wie eine Natter aus dunklem Dickicht. Ihm kamen Zweifel am Wert seines Berufes. Mit dem jähen Optimismus der Jugend war er an diesen Berus herangetreten. Jeder Jüngling, auch der be» scheidenste, hat, wenn auch kaum bewußt, das Gefühl: Wenn ich in die Welt eingreife, wird es anders, wird es schneller vorwärtsgehen— wie ein ungestümer Reisender, dem der Zug zu langsam fährt, das Gefühl hat: Könnt' ich aus» steigen und nachschieben! „Hätt' ich tausend Arme zu rühren! Äonnt' ich brausend die Räder führen! Könnt' ich wehen durch die Haine! Könnt' ich drehen alle Steine!" und wenn er sich auch sagt, daß vor und mit ihm Bessere und Stärkere wirken und gewirkt haben— er glaubt nicht, daß einer so viel Lust und Mut gehabt wie er. vor allem nicht, daß einer so viel Glück gehabt, wie er haben wird! Und nun erreichte er nicht mehr als die anderen! Nun ja, er leistete vielleicht etwas mehr als dieser und jener, und' seine Kollegen und Freunde rühmten zuweilen seine Leistun- gen; aber ganz etwas anderes hatte er gehofft, ganz etwas anderes! Er wußte ja freilich von früher her, daß Unter» richten kein ununterbrochener Sieges- und Eroberungszug sei; aber doch hatte er sich Erziehung und Unterricht im stillen als eine Fleischwerdung des Lehrwortes gedacht. Aber daS Wort ward nicht Fleisch: Seine Jungen konnten am Ende de» Jahres etwas mehr als zu Anfang: aber sie waren dieselben Menschen geblieben, wenigstens merkte er keine Aerrderung. Die Guten. Offenen, garten waren zwar offen, zart und gut
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25 (3.6.1908) 105
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