Nnterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 110. Donnerstag, den 11. Juni. 1903 lNachdruck verboten.) Semper der jfUngUng. Ein Bildungsroman von Otto Ernst . :,Wenn ich ehrlich sein soll." sagte Asmus,ich freue mich noch heute auf die Wolfsschlucht, und jeden Tag mächt' ich mir wieder ein Puppentheater bauen und damit spielen. Frei- lich: auf die Musik freu' ich mich noch ganz anders. Wenn die ganze deutsche Nation zugrunde ginge und nur derFrei- schütz" erhalten bliebe, könnte nian aus dieser Oper alle Eigentümlichkeiten der deutschen Seele erkennen." Sie hatte denFreischütz " noch nicht gehört, war über- Haupt noch nicht oft im Theater gewesen; ihre Kindheit hatte ihr solche Freuden nicht gewährt, und nun beglückte es ihn, wie sie mit frommer Begierde Musik, Wort und Bild in sich einsog, und er war grenzenlos stolz, ihr Führer sein zu dürfen. Als sie den Heimweg durchs Dunkel antraten, bot er ihr seinen Arm. Das durfte man wagen. Wie leicht sie an seinem Arme hing! Er hätte gewünscht, dasi sie sich ganz auf ihn stützte, sich ganz von ihm tragen ließe. Während er ihr von Oberon, Eurianthe und Preziosa erzählte, dachte er un- unterbrochen: Soll ich ihr's sagen? Nein, nein, lautete die Antwort. Wenn es sie erschreckte, bekümmerre, beleidigte? In welcher Pein würde das arme Mädchen den Rest des Weges zurücklegen; in welcher Pein würdest du dich selber stürzen! Du hast heute die Pflicht des Ritters, du hast dafür zu sorgen, daß sie unbehelligt und ans möglichst angenehme Weise nach Hause komme es wäre ein unzarter Mißbrauch der Gelegenheit, sie jetzt mit einer Liebeserklärung zu überfallen. Beim Abschied vor ihrer Tür, dann willst du's ihr sagen. Und beim Abschied sagte er: Haben Sie tausend, tausend Dank für den wunder- schönen Abend!" Ich habe Ihnen zu danken!" rief sie.Der Abend wird mir unvergeßlich sein." Sie zögerte einen Augenblick. Gute Nacht." Gute Nacht." Unmittelbar darauf dachte er: Das war eine Gelegen- heit! Sie ist unwiederbringlich verpaßt. Unwiederbringlich? Wie er es zuvor mit der Methode der Wetten versucht hatte, so versuchte er es jetzt mit der Methode des gemeinsamen Theaterbesuchs. Eine Woche später sollte derVampyr" von Marschncr gegeben werden. Er hatte eine Schwäche für diese Oper, gerade wegen ihres verschrieenen schaurig-romantischen Stoffes. Er liebte das Düstere, Grausenvolle wie das Sonnig-Bchagliche, das starrend Erhabene wie das Komisch-Gemütliche, bis zum Putzigen und Ulkigen herab, wie er alle Tage und Nächte, alle Lichter und Schatten der Welt liebte. Er liebte Dante Alighieri und Fritz Reuter , und er haßte die flachköpfigen Aesthetiker, die beim Aufbau ihrer Systeme immer eines der- gaßen, entweder den Dante oder den Reuter. Frau Mansfeld mochte es im stillen unpassend finden, daß ein junges Mädchen mit einem ihm nicht verlobten jungen Manne allein ins Theater ging und sich von ihm nach Hause geleiten ließ. Aber solche Aengste kannte Hilde nicht; sie hatte nur die feine Erziehung, die ein feines Herz gibt. Also holte sie jubelnd ihr Portenionnaie und zahlte Asmussen eine Mark zwanzig auf den Tisch; denn soviel kostete der Eintritt zum dritten Rang. Aber derVampyr" hatte genau dieselbe Wirkung wie derFreischütz", insofern, als Asmus sich wieder vor Hildens Tür mit nichts als einem(zwar bewegten Herzens ge- sprochencn) Danke verabschiedete und sich dann auf dem ein- samen Heimwege mit Vorwürfen und nicht gerade schonenden Titulaturen überhäufte. Und auch der Verfasser kann nicht umhin, hier zum Ent- setzen aller Literaturaufseherdie Kunstform zu durchbrechen" und der Leserin zu versichern, daß er ihre Entrüstung iiber diesen Herrn Semper vollkommen teilt. Aber was soll der Verfasser tun? Er kann seinen Helden nicht anders machen als er ist. Endlich brachte ein trüber, wolkenschwercr November- abend die Entscheidung 61. Kapitel (Von rauschenden Bächen im Winter.) Heute soll es sich entscheiden." hatte sich Asmus ge« sagt. Er hatte sie eingeladen, mit ihm in Zacharias Werners Martin Luther oder die Weihe der Kraft" zu gehen. Er liebte das Stück durchaus nicht, fand es schwülstig, verworren und langweilig: aber jetzt war ihm schon jedes Mittel recht; er wäre mit ihr ins Theater gegangen, und wenn man dort den Jahresbericht der Handelskammer rezitiert hätte. Auf dem Heimwege sprachen sie nur wenig; jede Unterhaltung kam bald ins Stocken; wie eine Vorahnung lag es auf beiden. Sie waren der Wohnung Hildens schon ziemlich nahe, als Asmus, das Herz im Halse, mit leiser Stimme fragte: «Sind Sie mir eigentlich böse, Fräulein Chavonne?" Warum sollte ich Ihnen böse sein?" fragte sie ebenso leise, mit starren Augen geradeaus blickend. Und alles, was sie noch sprachen, klang leise wie der Regen, der gleichmäßig herabtroff und gegen den sie keinen Schutz begehrten. Sie haben mir eigentlich kein Wort über mein letztes Gedicht gesagt," begann Asmus wieder.Da glaubte ich, daß Sie mir zürnten." Wie wäre das möglich?" sprach sie noch leiser, mit bebender Stimme. Wiederum schwiegen sie eine kurze Weile. Ihr Kopftuch hatte sich verschoben, und um es zu ordnen, zog sie leise ihren Arm aus dem seinen. Im selben Augen- blick ließ er seinen Arm sinken; ihre Hände berührten sich, und Asmus faßte Hildens Hand. Nun ist es ein seltsames Ding: Arm in Arm gehen die fremdesten Menschen miteinander; aber Hand in Hand gehen nur Kinder und Liebende. Ein höherer Wille hatte ihre Hände ineinander gelegt und gesagt: Ich will, daß ihr euch findet. Das gab Asmus Sempcrn einen heiligen Mut, und zitternd sprach er: Fräulein Chavonne haben Sie mich lieb? Sie blieb stehen und schien zu wanken. Sie konnte nicht sprechen. Da legte er den Arm um sie, damit er sie stütze, und sprach noch leiser: Hilde, hast Du mich lieb?' Ihr Kopf sank an seine Schulter, und sie sagte: Ja." Und er wagte nicht, ihr den Kopf aufzuheben; denn es schien ihm, daß sie ruhte. Aber dann hob sie von selbst den Kopf und sah ihn aus leuchtenden, weinenden Augen an. Und er zog sie fester an sich und preßte seine Lippen in einem langen, langen Kusse aus ihren edlen, frischen, roten Mund. Sie waren nur noch zehn Minuten von Hildens Hause entfernt: aber sie brauchten zu diesem Wege noch zwei Stunden. Denn immer wieder gingen sie in weitem Bogen um das Haus herum, obwohl ein unaufhörlicher feiner Regen herabrieselte. Sie freuten sich unbewußt dieses Regens; er kam herab wie sanfte Linderung einer langen Sehnsucht. Es schien ihnen auch, als brauche man nun um nichts mehr zu sorgen, als hätten sie nun des Glückes genug und brauchten nichts mehr als solch ein stilles, seliges ewiges Wandern. Sie sprachen nur wenig, und wenn sie sprachen, so war es fast immer dasselbe: Hast Du mich lieb, hast Du mich wirklich, wirk- lich lieb?" Ja. ich Hab' Dich lieb so lange schon, ach, wie lange schon." Ganz, ganz anders waren sie schon wenige Tage darauf. Frost und Schnee waren hereingebrochen mit Macht, und As.nus schlug ihr einen Ausflugins Grüne" vor. Nach demOucllcntal" wollten sie wandern und die Elbe hinab. Ludwig Semper würde zu diesem Ausflugbei dieser Kälte" lange den Kopf geschüttelt haben, wenn er darum gewußt hätte; aber darin folgte sein Sohn ihm nicht; Winterwande- rungen, die liebte er vor allen anderen; da gab es einen Kampf mit Frost und Wind, und wenn er dann durch- gekämpft war, dann glühte in Wangen und Herzen eine ganz besondere, eine ganz wundersame Wärme auf, die war ganz anders als Lenz- und Sommcrglut. Es war eigenes, i'elbstcntzündetes Feuerl Und wie beilia lckön die Winter«