WaZ   nun schließlich die in ihren Ursachen alS bekannt boraus- gesetzte Ebbe und Flut angeht, so ist eS klar, daß diese erhabenste und großartigste Erscheinung des Meeres an der Ostsee  , alS einem geschlossenen Meere, sich weniger bemerkbar macht als an der Nord­ see  . Ja, bor einen halben Jahrhundert hat man überhaupt erst das Vorhandensein von Ebbe und Flut in der Ostsee   sestgestcllt, deren Gezeiten sich aus der eigenen unbedeutenden Flutwelle und den durch den Großen Belt   und Sund vom Kattegat   her eindrin- genden Gezeitenströmungen der Nordsee   zusammensetzen. Wir be- gnügen uns hier damit, nach Walther einige Daten über die Höhe der Fluten anzuführen. In Helgoland   ist der durchschnittliche Unterschied zwischen Hoch- und Nicdrigwasser 2,06 Meter. Auf den westlichen Inseln von Wsngeroog bis Borkum   ist der Unterschied 2,4 bis 2,6 Meter, Bei Westerland  ..... 4,6 Meter. # Cuxhaven  ...... 2,8 f Brunsbüttel..... 2,7# , Hamburg  ...... 1,9, Harburg  ...... 0,9, Daß die Gezeitenerscheinungen bei der Ostsee   immer mehr abnehmen, je iveiter nmn nach Osten gelangt, beweist folgende Auf- stellung. ES beträgt die Flnthöhe in Kiel  ......... 7 Zentimeter. Travemünde  ...... 6, Thiessow....... 2,2, Slrkona........ 2, Swinemünde  ..... 1,1, Reufahrwasser..... 0,7, Pillau  ........ 0,6, Memel.  ,...... 0.5 v Kleines f euülcton* Literarisches. L e o n i d Andrejew  . Reben Maxim Gorki   ist Leonid Slndrejew unzweifelhaft der bedeutendste Dichter deS modernen Rußland  . Im Jahre 1871 in Orel  (Südrußland) geboren, verlebte er dort feine Kindheit und Jugend und besuchte daS dortige Gym­nasium. Er lernte schlecht, so daß er in der Prima sogar der letzte Schüler war. Nach seinen Worten waren für ihn die Zwischenpausen die angenehmste Zeit, die er im Gymnasium verbrachte. Nach Absolvierung deS GymnafiumS studierte er erst an der Petersburger Univerfität ein Semester die Rechte, dann ging er nach Moskau  , wo er sein Studium fortsetzte. Roch während seiner Schulzeit war seil, Vater gestorben, so daß ihm das Studieren nicht leicht wurde; in Petersburg   führte er ein wahres Hungerleben; in Moskau   ging es ihm etwas besser, weil er von seinen Kameraden und dem Hilfskomitee unterstützt wurde. Als Student schrieb er feine erste Erzählung von einem hungernden Studenten. Sie wurde nicht angenommen, Andrejew   wurde zudem auf der Redaktton noch ausgelacht. Run versuchte er es mit der Malerei: er fertigte Porträts an. die erst mit sechs bis zehn Mark bezahlt wurden, später stiegen die Preise bis auf fünfundzwanzig Mark. Sein Studium beendete Andrejew   ,m Jahre 1897 und wurde RechtSanwaltSgehilfe, doch eine juridische Praxis zu erwerben glückte ihm nicht. Außer einigen Kriminalprozessen, in welchen er umsonst verteidigte, hat er nur einen Zivilprozeß geführt und den überdies in allen Instanzen verloren. So beschränkte er sich darauf, für eine neu entstandene Zeitung, , Kurier", Berichte über Gerichtsverhandlungen zu schreiben. AlS Schriftsteller ist Andrejew   zehn Jahre tätig im Jahre 1398 wurden im.Kurjer" seine ersten Novellen abgedruckt. Aber zuerst wurde von niemand sein Talent beachtet, und seine Kollegen hielten eS nicht einmal für notwendig, ihm dem Reporter beim Gruß die Hand zu reichen. Und erst als Maxim Gorki   eine dieser Erzählungen zufällig zu Gesicht bekam, ging Andrejews Stern auf. Es war die ErzählungDer große Schlein", die Gorki ver- anlaßte, bei der Redaktton telegraphisch anzufragen:Wer steckt hinter dem Pseudonym Leonid Andrejew  ?" Man antwortete: Leonid Slndrejew." Seit jene», Tage drückten die Kollegen jeden Morgen Andrejew   ehrfurchtsvoll die Hand. Nach einiger Zeit wiederholte sich diese Begebenheit: Dimitri Merrschkowski. ein bekannter Dichter und Krittler, stürmte in die Redaktion und fragte mit erregter Stimme:Wer schreibt unter dem Pseudonym Leonid Andrejew Gorki oder Tschechow  ?" Run ging eS schnell vorwärts, und es dauerte nrcht mehr lange, bis der sogenannteGorki-Andrejew-KreiS" entstand. In vielen Werken behandelt Andrejew   joziale Fragen und an den Schicksalen seine? Vaterlandes nimmt er den regsten Anteil. In seinem WerkeDas rote Lachen" schildert er die Schrecken und den Wahnsinn der Greuel wählend des letzten Krieges mit Japan  . Zum Dank wurde er verhastet, doch nach einiger Ze,t wieder freigelassen. Sn der NovelleDer Gouvernenr" erzählt er vom Seelenleben eine? ouverneurs, der aufs Volk schießen ließ, von der Stimmung de? Volkes, vom Tode des Gouverneurs. InSo war's" gibt er ein mit den Augen eines Modernen gesehenes Stimmungsbild der französischen   Revolution. Sein DramaZu den Sternen" ist ein RevolutionSdrama; mit diesem Werke wurde die Freie Volksbühne in Wien   eröffnet unter endlosem Jubel und stürmischem Beifall der Zuschauer. Sein DramaIziüs sanat" behandelt die, Schicksale eines Anarchisten, undKönig Hunger  " die Revolution und Konter« Revolutton. Sein letztes WerkDie Geschichte der sieben Gehängten" ist ein ergreifender Protest gegen die Todessttafe voll wunderbarer psycho» logischer Tiefe. Ein Teil bieser Novelle ist vor einigen Tagen in Nußland erschienen. Bollständig erscheint sie hier in der Ueber- setzung zum ersten Male. Erziehung und Unterricht. Die Wortblindheit. Die tiefere Kenntnis seltener Formen seelischer Störung trägt mit jedem neuen Fortschritt dazu bei, Fehler und Irrtümer aus der Erziehungskunst auszuschalten. Nur zu oft erscheint dem Lehrer als schlechter Wille und Trägheit, was in Wirklichkeit Krankheit ist. Eine gerade vom Standpunkt des Erziehungswesens sehr interessante Krankheit ist zum erstenmal bor etwa IVi Jahrzehnten von dem Engländer Morgan als«an- geborene Wortblindhcit" beschrieben worden. Es handelte sich bei dem ersten Fall um einen vierzehnjährigen Knaben, der, obfchon im übrigen normal, nicht fähig war, richtig zu lesen oder auch nur zu buchstabieren. Nur einsilbige Wörter vermochte er leicht aufzufassen, während er mehrsilbige nur mit Mühe oder falsch las. Geschriebenes und Gedrucktes war ihm völlig unverständlich, während er Ziffern vollkommen gut lesen konnte. Dieser auf« fallende Mangel hing nicht mit vorhergegangener Krankheit oder Verletzung zusammen, und Morgan verlegte seine Ursache in? Gehirn. Gleichzeitig wurden in England auch von anderer Seite analoge Fälle beschrieben und der Ansicht Morgans entsprechend als Entwicklungsstörungen gekennzeichnet. In den folgenden Jahren wurden immer neue Einzelfälle beschrieben, bis im Jahre 1902 unabhängig von einander zwei Forscher, Thomas und Fischer, auf das familiäre Vorkommen der angeborenen Wortblindheit hin» wiesen. Stephenson hat dann später daS Auftreten des Leidens sogar in sechs Fällen durch drei Generationen nachweisen können. Seltsamerweise stammte bisher alles Material aus dem Ausland, und jetzt erst hat Professor Peters-Rostock in einem in der Münchner   Medizinischen   Wochenfchrift abgedruckten Vortrage einen Fall aus Deutschland   beschrieben. Er berichtet von einem zwölf- jährigen Knaben auS gesunder Familie, der wegen schlechter Fortschritte im Lesen vier Jahr lang in derselben Volksschulklass« geblieben war. Bei der Untersuchung stellte sich auch hier heraus, daß Schriftproben nur schwer und zögernd aufgefaßt wurden. während die arabischen Ziffern keine Schwierigkeit machten. Ab- schreiben aus einem Buche wurde fehlerlos ausgeführt, dagegen war bei Niederschrift eines kurzen Satzes nach Diktat fast jedes Wort falfch. Auch traten beim Lesen eines solchen Satzes, das nach etwa zwei Minuten geschah, erhebliche Störungen auf. ES bestand somit mangelhaftes Gedächtnis für geschriebene und gc- druckte Wortbilder. Da der Knabe Notenlesen nicht gelernt hat, konnten nach dieser Richtung keine Erfahrungen gesammelt werden. Er benahm sich sehr gedrückt und schüchtern; wohl infolge vieler Neckereien und Strafen und des peinlichen Druckes, unter viel jüngeren Schulkameraden sitzen zu müssen. Bei einer Uebersicht über alle Fälle ist es zunächst auffallend, daß die weitaus über» wiegende Mehrzahl der Fälle in England oder bei englischsprechen- den Amerikanern beobachtet worden sind, sowie daß zumeist Augen- ärzte auf die angeborene Wortblindheit aufmerksam wurden. Jener Umstand könnte sich daraus erklären lassen, daß die eigen. artige Aussprache des Englischen daS Lesen der Worte erschwert. Eine Bestätigung dafür ist eine spätere Beobachtung, daß lateinische Worte leichter gelesen wurden als englische. An sich dürfte die Häufigkeit des UebelS jedoch nicht an Ländergrenzen gebunden sein; auch ist das Leiden wahrscheinlich überhaupt gar nicht so selten, denn nach der englischen Statistik kommt auf je 2000 Schul» kinder ein derartiger Fall. Hinsichtlich des Geschlechtes handelt eS sich in 75 Proz. der Fälle um jknaben. Was die Ursache deS Leiden» anlangt, hat sich bisher nichts ergeben, was der ursprünglichen Erklärung Morgans, daß eS sich um einen örtlich begrenzten Hirndefekt handelt, widersprechen würde. Die Behandlung ver- mag gelegentlich recht gute Erfolge zu erzielen. So ist eS Wernicke gelungen, bei einem Patienten die Störung soweit zu meistern« daß dieser Advokat werden konnte, während in einem anderen Falle eine neunzehnjährige Dame besseren Stande? sehr unglücklich darüber sein mußte, daß sie bei ihrer Verheiratung noch nicht lesen konnte. Die englischen Autoren halten die Schulerziehung bei Kindern, die an der Wortblindheit leiden, nicht für angebracht. da sie besonderer, dort nicht zu erzielender Fürsorge beim Lese- Unterricht bedürfen. Andererseits gehören sie auch nicht in die Schulen für geistig Minderwertige, da ihr» Intelligenz im allgc« meinen mcht beeinträchtigt ist. Es könnte also durch die Gewährung privater Nachhilfe seitens der sozialen Hilfstätigkeit von Philan» thropen viel Gutes getan werden. Die Kinder leiben moralisch sehr unter ihrer Schwäche und dürfen dem Gespött ihrer Kameraden nicht preisgegeben bleiben. Daraus folgt, daß jeder Lehrer nach dieser Richtung scharf lxwbachten sollte, damit in verdächtigen Fällen ärztliche Begutachtung Platz greifen kann. Berantw. Redakteur: Georg Davidsobn. Berlin.   Druck u. Verlag-Vorwärts Buchdr. u. Verlagsanstalt Paul Singer Sc Co., Berlin   SW«