Unterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 116.
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Freitag, den 19. Juni.
Semper der Jüngling.
1908
( Nachdrud verboten.) ist sie die Sängerin der Liebenden. Denn mit Sinnenkraft und Herzensmilde die Welt ergreifen, von höchster Geisteswonne bis zu tiefen Zuges trinkender Sinnlichkeit die Welt ausmessen: das ist Liebe. Horch", sagte Asmus, wie lang. sam und klagend sie auch ihr Lied beginnen mag, immer endet sie mit jubelndem Geschmetter. Sie ist eine Optimistin; fie glaubt an das Leben. Glaubst Du auch daran?"
Ein Bildungsroman von Otto Ernst . 56. Stapitel.
( Ein längeres Kapitel, weil darin von einem Leuchtturm, einer Nachtigall, einem Kinde, einem Rosenberg und von noch einem Kinde berichtet werden muß.).
Ja, wenn sie bei ihm war, glaubte sie daran; wenn sie allein war, fonnte sie noch immer nicht fassen, daß das Leben nicht mehr ihr Feind sei. Sie konnte noch immer dem neuen Gesicht des Lebens nicht trauen; ihr Vertrauen war in einem langen Winter bis auf den Grund gefroren, und jahrelangen Sonnenscheines bedurfte es, diesen See wieder bis zum Grunde zu erwärmen.
Noch blieb ihnen die Sonne treu. Herrgott, wie es sich arbeitete in diesen ewig sonntäglichen Näumen! Und als er eines Mittags aus der Schule tam, sah er es Hildens Gesicht an, daß etwas Gutes passiert sei.
Wieviel erwartest Du noch vom„ Leuchtturm"?" fragte
Fünfundsiebzig Mark."
Menn Semper der Ehemann sich einen neuen herzerquickenden Kunstgenuß bereiten wollte, dann lustwandelte er durch seine zwei Stuben, seine eine Kammer und seine Küche. Sie schimmerten und flimmerten, daß er sich nicht fatt schauen konnte, und der phantasievolle Schloßherr der bayrischen Königsschlösser konnte mit seinen ungezählten Millionen feine tiefere Befriedigung gewonnen haben als der junge Schloßherr in der westlichen Vorstadt. Als Knabe hatte er einst geträumt, wenn er reich werde, wolle er sich ein großes Schloß bauen mit hohen Bogenfenstern und sie gespannt. Marmorsäulen und Marmortreppen. Das war nun Wirklichkeit geworden, ohne Marmor und Bogenfenster, und doch alle Luftschlösser übertreffend. Wenn er auf dem Sofa lag und die Blicke über Wand und Decke, Schrank und Bücherbrett wandern ließ, und wenn er sich dann den ärmlichen Hausrat des Elternhauses vorstellte, dann dachte er: ich bin ein Emporkömmling; mit rasender Geschwindigkeit bin ich emporgekommen. Er erinnerte sich, gelesen zu haben, daß innerhalb desselben Geschlechtes nach einem Aufstieg mit einer gewissen Regelmäßigkeit eine„ Decadence" der folgenden Generationen eintrete, und mit Wehmut erfüllte ihn der Gedanke, daß spätere Nachkommen von ihm gezwungen sein könnten, diese strahlende Höhe wieder zu verlassen. Er wußte freilich noch gar nicht, ob er überhaupt Nachkommen haben werde.
Nun war aber an seiner ganzen Wohnstatt ganz gewiß nichts Kostbares im alltäglichen Sinne, und manche Frau trug in einem Ohrläppchen ein weit größeres Vermögen, als dieses ganze Schmuckkästchen mit allem, was darin war, gekostet hatte. Was dieser Heimstatt für die Seele des jungen Mannes den unnennbaren Glanz gab, das war sein Glück; was ihr aber auch für das Auge Schönheit verlieh, das war Hildens Hand. Nicht umsonst war sie die Jahre hindurch, als die Mutter frank lag, das alles umsorgende, alle betreuende Hausmütterchen gewesen. Und die Mutter war wie die Mutter des Goetheschen Gretchens gewesen. Bei der Frau Chavonne fann man vom Fußboden essen," hatte es bei den Nachbarinnen geheißen, und Nachbarinnen sind streng. Diese Tradition hielt Hilde aufrecht. Und wie es nun einmal wahr ist, daß die Grazien den, den sie liben, in feiner Lage und zu feiner Stunde verlassen, so blieb ihre Anmut ihr auch bei den gröbsten Verrichtungen treu. Und sie durfte vor grober Arbeit nicht zurückscheuen; denn fremde Dienste konnten sich die jungen Semper nur als seltene Aushilfe gestatten. Aber sie dachte auch nicht daran, vor irgendeiner Arbeit zurückzuschrecken; in lächelnder Ruhe stand sie über jedem beschränkten Hochmut. Arbeit hatte sie geadelt, und fie adelte die Arbeit.
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Und wenn man nun bedenkt, daß jeden Abend, wenn sie zur Ruhe gegangen, die Nachtigall in ihr Geplauder, in ihre Träume, in ihren ersten Schlummer sang! Hinter den Fenstern ihres Schlafgemaches standen blühende Apfelbäume und andere Bäume, auch ein Goldregen, dessen Blüten herabhingen wie goldene Lampen in einem dämmergrünen Dom. Und aus einem der Bäume sang Abend für Abend die Nachtigall. Mitten in ihrem Liebesgeplauder verstummten sie oft entzückt und sagten:„ Hör' nur hör' nur!" Ja, oft horchten sie fast erschrocken auf; denn es hatte geflungen wie eines Menschen weinende, schwellende, verhauchende Klage; dann wieder war es wie ein plätschernder Quell, durch den das Mondlicht glänzt. Alle Vögel haben ihre wiederkehrende Weise, dachte Asmus; nur sie hat immer neue Weisen; nie fingt sie zweimal dasselbe; sie ist das Genie, dem die Welt immer neu erscheint, das immer neues erkennt und neues fingt. Aller Bogelgesang ist lieblich; aber sie allein hat Straft und Milde, fie allein hat Lust und Tiefe zugleich. Darum
„ Er schickt hundert!" Asmus riß den Begleitbrief auf und las:„ Es entfallen auf Ihren Beitrag eigentlich nur fünfundsiebzig Mark; aber wir schicken Ihnen mit Vergnügen hundert, wenn Sie uns bald wieder bedenken wollen." Er schlang Hilden den Arm um die Taille und tanzte mit ihr durchs Zimmer. In solchen Augenblicken tanzte er sogar gut.
Fünfundzwanzig Mark wie vom Himmel gefallen! Sie kamen ja noch immer so eben, eben aus; aber sie konnten es schon brauchen.
Aber es war doch noch eine ganz winzige Freude, eine wahre Lumpenfreude gegen die Freude eines anderen Tages, jenes Tages, da sie ihm verriet, sie habe sichere Anzeichen dafür, daß sie nicht immer allein bleiben würden. Da tanzte er nicht mit ihr, da zog er sie sacht auf seine Knie herab und hielt lange, lange ihren Kopf an seiner Brust, als müßt' er sie nun behüten auch vor dem leisesten Leid der Welt. Ja, das Schicksal war ihm in diesen Tagen hold gesinnt, und manchmal schon hatte er sich im stillen gefragt, wieviel es ihm abziehen werde, und was, und wann? Aber es schien an keinen Abzug zu denken; im Gegenteil; es schenkte ihm in dieser Zeit zu allem Glück noch einen neuen und echten Freund. Er hatte in einem Lehrerverein einen Vortrag über Hamerling gehalten und damit unter anderen den Beifalt eines jüdischen Lehrers gefunden, der ihm nach dem Vortrag als Dr. Rosenberg vorgestellt wurde. Asmus fand sofort an dem ganzen Manne ein großes Gefallen, an seinem sympathischen Gesicht, an seinem offenen und doch bescheidenen und bei aller bescheidenen Zurückhaltung dennoch bewußten Wesen, an seinen Interessen und seinen Erlebnissen. Rosenberg war Philologe, war in Paris und London gewefen und erzählte, wie er in London lange vergeblich seinen Unterhalt durch Stundengeben gesucht und wie, als er eines Tages wieder von einem vergeblichen Gange heimgekehrt sei und auf dem Rücken eines Buches den Namen„ Schiller " gelesen habe, bei diesem Namen die Tränen des bittersten Heimwehs unaufhaltsam hervorgebrochen seien. Es war der erste Jude, mit dem Asmus in nähere persönliche Berührung kam, und diese Begegnung war ihm so interessant und erfreulich, daß er den neuen Bekannten einlud, ihn zu besuchen. Rosenberg fam; Asmus erwiderte den Besuch, und auf die lebendigste Weise erwuchs nun ein Freundschaftsverhältnis, das fast alle früheren Freundschaften Asmussens an Dauerhaftigkeit übertreffen sollte.
Als Rosenberg zum ersten Male bei Sempers gewesen war und die junge Frau Semper nur flüchtig gesehen hatte, da hatte er, wie er später gestand, im stillen gedacht: Er hätte doch so jung nicht heiraten sollen. Beim zweiten Besuche lernte er ganz anders denken und sah doch die junge Frau überhaupt nicht. Und das hatte alles seine guten Gründe.
Als Rosenberg seinen zweiten Besuch machte, war es wieder ein Maientag, der Tag vor Pfingsten, und in grauender Frühe dieses Tages hatte Hilde ihren Gatten geweďt und ihn gebeten, daß er die Wehmutter hole. Und dann folate ein Tag, für Asmus wohl nicht viel leichter als für