MnterhalwngsSlatt des Horwiirts Nr. 113. Dienstag, den 23. Juni. 1908 (Nachdruck verboten.) w] Semper der Jüngling. Ein Bildungsroman von Otto E r n st. Da verbreitete sich noch einmal von diesen Augen aus über das ganze Gesicht des Leidenden das große, unerschöpf- lich gütige Lächeln, das über Asmussens ganzer Kindheit wie eine treulich wiederkehrende Sonne geleuchtet hatte, und dann schlössen sich die Augen wieder, und der Kranke war wieder entschlummert. Die Besucher schlichen hinaus, und draußen nahm Asmus seine Mutter auf die Seite und fragte:Was sagt denn der Arzt?" Da konnte sich Rebekka nicht mehr halten: laut jammernd rief sie:Ach Gott  , der schreckliche Mensch sagt, es wäre viel- leicht Magenkrebs  , ich werd' ja verrückt, wenn ich bloß daran denke!" Das machte Asmus vom Kopf bis zu den Füßen er- starren. Ueber all seine Befürchtungen hatte immer wieder die Hoffnung gesiegt, es werde vorübergehen. Dieser Schlag betäubte ihn. Aber nur für einen Augenblick. Er schickte Hilden   und das Kind nach Hause und rannte zum Arzt. Ja", sagte der,alle Anzeichen sprechen dafür. Ich habe keine Magensäure gefunden, das ist das sicherste Symptom." Herr Doktor," stammelte Asmus.Sie dürfen mir nicht zürnen, Sie sind ja auch nur ein Mensch, Sie müssen sich in meine Lage versetzen, es ist mein Vater, würden Sie es mir übel nehmen, wenn ich noch einen zweiten Arzt befragte?" Durchaus nicht." versetzte der Arzt,Sie machen sich freilich unnötige Kosten; aber wenn es Sie beruhigt" Asmus eilte zu einem Altenberger Arzt, der ihm als besonders tüchtig empfohlen war. Der ließ ihn kühl an. Wer denn seinen Vater behandele? Der Doktor Soundso. Ja, das sei ja ein sehr tüchtiger Arzt. Er wisse nicht, was er da solle. Asmus flehte ihn an, er möchte doch kommen. Nun ja, ich kann ja hinkommen." Und Asmus ging mit neuer Hoffnung: Der wird viel- jeicht zu einem anderen Ergebnis kommen. Als er anderen Tages ins Elternhaus kam, war der zweite Arzt noch nicht dagewesen. Der Kranke aber delirierte und konnte nur mit größter Mühe im Bette festgehalten werden. Da kam Asmussen der Gedanke: Ins Kranken- haus. Hier, in diesen ärmlichen, beschränkten Verhältnissen konnte ja der Vater nicht gepflegt werden wie im Kranken- hause, und wenn eine Operation nötig war, mußte er doch dorthin. Und dort waren die besten Aerzte. Er besorgte die Aufnahme ins Krankenhaus, nahm eine Droschke und fuhr vors Elternhaus. Nun holte er seinen Vater in der Droschke! Aber nicht im Triumph, ach Gott, nicht im Triumph! Ohnmächtig lag ihm sein Vater im Arm wie ein Kind, und als er so mit seinem Vater im Wagen allein war, rannen seine Tränen unaufhörlich. Als er den Vater endlich wohlgebettet sah. eilte er zum Arzt des Krankenhauses und erstattete ihm Bericht über den Kranken. Dieser Arzt war ein feiner und milder Mann; er hörte den Sohn, aus dessen Worten er wohl die fliegende Angst des Herzens vernahm. mit großer Teilnahme an und entließ ihn mit neuer Hoff- nung. Nun kann noch alles gut werden, dachte Asmus. Dieser Arzt ist ein vortrefflicher Mann, und im Kranken- hause hat man alles zur Hand, was man zur Pflege eines schwer Erkrankten braucht. Anderen Mittags, als er aus der Schule heimkam, war sein erstes Wort: Ist Nachricht vom Krankenhause da?" Ja", sagte Hilde ernst,der Bote war hier." Und?" rief er begierig. Du weißt es doch schon, nicht wahr?" sprach Hilde sanft. Er starrte sie an.Ist er?" Er brachte das Wort nicht heraus. Sie nickte stumm und legte den Arm um seinen Hals. Er aber fiel mit einem einzigen, lauten Aufschluchzen in die Sofaecke. Das also hatte er mit allen Mühen und Aengsten er- reicht, daß sein Vater nun einsam gestorben war. Zwar: Ludwig Semper war n,ch dem Bericht der Wärter nicht wieder zum Bewußtsein erwacht, und morgens um zwei Uhr war er gestorben. Aber wenn er nun doch noch einen lichten Augenblick gehabt und wenn er Weib und Kinder gesucht hatte mit diesem Gedanken zerfleischte sich Asmus das Herz, während er durch die Straßen rannte und die Forma- litäten für die Bestattung erledigte. Dabei lief er oft stunden- lang durch Gegenden, in denen er nichts zu suchen hatte; er wußte nicht, womit er sonst seine Zeit ausfüllen sollte. Als er dann an der Bahre seines Vaters stand und den starren, tränenlosen Blick auf das weiße Haupt des Toten heftete, da mußte er unaufhörlich denken: König Lear König Lear. Dieser Mann hatte nicht aus Torheit ein Kind verstoßen, war kein Tyrann gewesen und war seine Liebe vergolten worden, wie sie's verdiente? Die Liebe ylnes Vaters kann man nicht vergelten, dachte er; jeder Vater ist ein König Lear. Und als er seine arme, gebeugte Mutter sah, als er daran dachte, daß ihre Kinder von ihr gegangen waren und das beste Teil ihres Herzens an andere gegeben hatten, da fügte er hinzu: und jede Mutter ist eine Niobe. Er riß sich gewaltsam aus seinem Brüten und sah sich um. Von seinen Freunden war nur einer erschienen: Dr. Rosenberg. Und das war die erste Freude in all diesem Leid. Als er am Grabe stand, war es wieder wie immer; er konnte nicht weinen. Er dachte, was müssen die Menschen von dir denken, daß du am Grabe deines Vaters ohne eine Träne stehst. Aber als er das dachte, konnte er um so weniger weinen. Er hatte seit jenem Aufschluchzen in Hildes Armen nicht geweint; auch als er heimgekommen war, weinte er nicht. Erst am Abend des folgenden Tages, als Hilde zu einer Besorgung das Haus verlassen hatte und er allein an seinem Schreibtisch saß, legte er den Kopf in den SLssel zurück und weinte, weinte unaufhaltsam wie ein kleines Kind, das im Gewühl und Gedränge der Menschen die Händ des Vaters verloren hat. 68. und letztes Kapitel. (Astnus bekommt einen Preis, einen Wolfram   und eine Welt- anschauung, und da dies dem Verfasser genug dünkt, übrigens auch die Weltanschauung den Mann macht, so schließt er diese Geschichte eines Jünglings.) Warum suchte Asmus in diesen schweren Tagen nicht Trost bei seiner Hilde? Wer am Schlüsse dieses Buches noch so fragen würde, der würde das Wesen von Ludwig Sempers Sohn nicht ganz verstanden haben. Leute wie dieser Asmus können den Trost nicht bei anderen, sondern immer nur in sich selbst finden, und wenn sie auf den Trost anderer hören, so ist es, weil sie ihn schon in sich selbst gefunden haben. Zu- nächst suchte er auch keinen Trost; er wühlte vielmehr in seiner Wunde. Nicht alle Menschen rufen im Schmerze so- fort nach Linderung wie das Kind nach dem Schnuller. Er fand es recht und gut, daß er litt, wo sein Vater so schwer und so lange geduldet hatte; er bildete sich nicht ein, ein An- recht auf ein schmerzloses Dasein zu haben, wenn solche Menschen litten. Dann aber, als er sich recht in Nuhe und Einsamkeit sattgeweint hatte, trat feine angeborene Philo- sophie wieder in ihr Recht: Mit unabänderlichen Tatsachen nicht zu hadern und den Kampf des Lebens in Hoffnung und Vertrauen immer wieder aufzunehmen. War es doch in- zwischen eine Hoffnung und ein Vertrauen geworden, die weit über den Kreis eines Einzeldaseins hinausreichten. So oft er auch an den frühen Hingang seines VaterS mit Schmerzen gedenken mochte er konnte dessen auch in weit, weit späteren Jahren nur mit tiefer Wehmut gedenken dieser Verlust gehörte, als er mit ihm abgeschlossen hatte, nicht mehr zu den Dingen, die sein Wirken und seine Ent- Wickelung hemmen konnten. Er hätte auch keine Zeit gehabt zu melancholischen Meditationen: er erfuhr wieder einmal den Fluch und den Segen der Armut. Er hatte schließlich doch einsehen müssen, daß 1809 Mark und selbst 3000 Mark nicht ausreichten, we�ll man Eltern davon unterstützen unp