Und wenn man in ihre Zelle einen Sarg hineinbrächte, in Kem ihr eigener verwesender, die Luft verpestender Körper läge und man sagte ihr: Sieh! Das bist Du!" Tann würde sie hinschauen und antworten: «Nein. Das bin ich nicht." Und wenn man sie durch diesen abscheulichen Anblick der Ver- wesung erschrecken und ihr einreden wollte, daß sie es dennoch sei, sie und keine andere dann würde Mußsa lächelnd antworten: »Nein. Ihr meint, daß ich das da sei, aber das bin ich nicht. Ich bin die, mit der Ihr jetzt redet, wie kann ich dann das da sein?" Aber Du wirst sterben und wirst das werden.' Nein, ich werde nicht sterben." Man wird Dich hinrichten. Dort liegt schon der Strick." Man wird mich hinrichten, aber ich werde nicht sterben. Wie kann ich sterben, wenn ich schon jetzt unsterblich bin?" Und die Gelehrten, Philosophen und Henker würden von ihr ablassen und zitternd sprechen: Rühret nicht an diesen Ort! Dieser Ort ist heilig." Worüber dachte Mußja sonst noch nach? Ueber gar vieles dachte sie nach denn der Lebensfaden war für sie mit dem Tode nicht abgerissen, sondern spann sich ruhig und gleichmäßig weiter. Sie dachte an die Genossen an die in der Ferne, die unter Kummer und Schmerz ihre Hinrichtung mit durchlebten, und an die in der Nähe, die mit ihr gemeinsam das Schafott besteigen würden. Sie wunderte sich über Wassili was ihn wohl so eingeschüchtert haben mochte? Er war immer sehr tapfer gewesen und konnte sogar scherzen mit dem Tode. So hatte er noch an jenem Diens- tagmorgen, als sie beide die Höllenmaschinen an ihrem Gürtel befestigten, die wenige Stunden später sie selbst zerreißen mutzten, gescherzt und seine Spaße gemacht, während Tanja Kowaltschuk vor Aufregung so gezittert hatte, daß man sie beiseite führen mußte. So unvorsichtig hatte Wassili sich benommen, daß Werner ihm streng zurufen mußte: Man darf mit dem Tode nicht familiär werden." Wlas hatte ihm jetzt wohl diese Furcht eingejagt? So fremd trar Mutzjas Seele diese unbegreifliche Furcht, daß sie es bald aufgab, darüber nachzudenken und ihre Ursache zu ergründen. Da- für wandelte sie plötzlich das leidenschaftliche Verlangen an, Sere- scha Golowin zu sehen und mit ihm gemeinsam über irgend etwas zu lachen. Und noch leidenschaftlicher verlangte sie danach, Werner zu sehen und ihn von irgend etwas zu überzeugen. Und wie sie sich so vorstellte, daß Werner in seiner bestimmten, abgemessenen Gangart, immer die Absätze fest gegen den Boden stemmend, neben ihr hergehe, da sprach Mußja im Geiste zu ihm: Rein, Werner, mein Lieber, das ist alles Unsinn, das ist durchaus gleichgültig, ob Du den N. N. getötet hast oder nicht. Du bist ein kluger Mensch, aber Du spielst sozusagen immer Schach: erst eine Figur nehmen, dann die zweite und dann hat man gewonnen. Die Hauptsache, Werner, ist, daß wir selbst bereit sind zu sterben. Verstehst Du? Was denken denn diese Herren? Daß es nichts Schrecklicheres gibt als den Tod. Sie haben ihn selbst ausgeklügelt, diesen Tod, haben selbst Angst vor ihm und schrecken uns damit. Ich hätte sogar Lust zu folgendem Wagnis: ganz allein möchte ich mich vor ein ganzes Regiment Soldaten stellen und aus meinem Browning auf sie schießen. Ganz allein will ich dastehen, und ihrer mögen ruhig Tausende sein, und auch töten will ich keinen. Das eben ist die Hauptsache, daß ihrer Tausende sind. Wenn Tausende einen Einzelnen töten, so heißt das, daß dieser Einzelne gesiegt hat. Das ist die Wahrheit, lieber Werner." (Fortsetzung folgt.) HcdlHerfdbftrnorcle und Scbuliiinden. Von Otto Rühle  . I. In der Psychologischen Gesellschaft in Berlin   hat kürzlich Dr. Gremzow in einem Vortrage über die Psychologie des Selbst« mordes erklärt,daß die modernen Schülerselb st morde weit weniger auf pädagogische Mißgriffe, deren Be« streben allerdings nicht hinweggeleugnet werden kann, als auf das ganze gegenwärtige soziale Milieu zurück- zuführen seien". Die Behauptung ist in dieser Form entschieden falsch. Richtiger dürste es sein zu sagen, daß die außerordentliche Häufigkeit der Schülerselbstmorde zu erklären ist aus dem Lebens- milieu deS Kindes, in dem die Schule eine große und infolge ihrer natur- und vernunftwidrigen Erziehungsmethode verhängnisvolle Rolle spielt. Denn darüber kann bei unvoreingenommener Prüfting der Sachlage gar kein Zweifel mehr bestehen, daß die Schule in der ziemlich abwechsclungsvollen Reihe der Motive, die in dem Kinde den furchtbaren Entschluß zu gewaltsamer Vernichtung des Lebens reifen lassen, eine Hauptrolle spielt. Welch ein unbegreifliches, in seiner widerspruchsvollen Tragik erschütterndes Bild: die Schule, die alles Edle, Große, Reine in den Geist und das Gemüt des Kindes senken, den noch leitsamen Willen zu Festigkeit und Tatkraft für den Daseinskampf erziehen, überhaupt den werdenden Menschen durch harmonische Entwickelung aller seiner physischen wie psychischen An- lagen zu entschiedenster, kräftigster und freudigster Lebensbejahung befähigen soll dieselbe Schule als Ursache verzweifelter Daseins- Verneinung, als unerbittliches- Motiv bedingungsloser Lebens- Vernichtung! Man begreift, daß die Pädagogen sich entrüstet und erbittert gegen ein Eingeständnis ihrer Schuld wehre» und Argumente aus den Wänden kratzen, um der Wucht dieser Anklage nicht zu erliegen. Noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts kannte man Kinder» selbstmorde kaum; aus fast allen Ländern Preußen, Frankreich  , England. Italien   usw. wird dies bezeugt. Nur ganz ver- ein zelte Fälle, die als etwas Unerhörtes galten, kamen vor; so in Berlin   von 1783 bis 1787 ein einziger Fall. Im nächsten Jahrzehnt waren es schon drei. Ouetelet. einer der Begründer der Moral- und Sozialstatistik, war der erste, der auf die allmähliche Zunahme der Ki n d'ers e l b stm o r d e hinwies, und schon um das Jahr 1825 klagte Dr. Casper in seinenBei- trägen zur mediz. Stat.": Nirgends zeigt sich die Schattenseite der Kultur wohl greller, als wenn wir die fast unglaublich scheinende Zunahme der Kinderselbstmorde in der neuesten Zeit betrachten. Und 1346 schrieb er in seinenDenkwürdigketten": Die Kinderselbstmorde sind überall in der Monarchie in der neueren Zeit in so steigender Häufigkeit vorgekommen, daß es ermüdend wäre, auch nur einen Teil solcher Fälle hier bekannt zu machen. Auch anders Statistiker heben bis in die neueste Zeit herauf die Zunahme der Kinderselbst- mordziffern hervor, so Heyselder, Griesinger, Prinzing, Siegerl u. a., während Guttstadt. Rehfisch und Baer   nicht ohne weiteres diesen Standpunkt teilen, sondern mehr oder weniger der Anficht zuneigen, daß die Selbstmordhäufigkeit gewiß bedeutend zugenommen habe, der Anteil der Kinderfelbstmorde hingeben im allgemeinen der gleiche geblieben sei. Dieser Auffassung steht allerdings die offizielle Statistik entgegen, ganz zu schweigen davon, daß schon die regel- mäßige Verfolgung der Tagespreffe ohne weiteres eine unzweifelhafte Steigerung der Selbstmordhäufigkeit bei Jugend- lichen erkennen läßt. Nach der Statistik kamen in den Jahren 186973 im jährlichen Durchschnitt auf 666 623 Kinder ein Selbstmord, während bis zur Periode 1894 bis 1898 diese Ziffer auf 497 815 zurückgegangen ist. Dies bedeutet offenkundig eine Zunahme der Kinderselbstmorde. In den drei Jahrzehnten 186993 sind allein in Preußen insgesamt 1763 Kinder(1346 Knaben und 362 Mädchen) durch Selbstmord aus dem Leben geschieden. Eine ganz ungewöhnlich hohe Ziffer in dieser trüben Statistik weist das Königreich Sachsen auf. Nach Dr. Krell kamen hier in, Jahre 1966 schon auf 166 Selbstmorde ein Kinder- selbstmovd, 1962 sogar schon auf 42 Selbstmorde. Dabei gilt für die Statistik der Kinderselbstmorde, wie Dr. Baer betont, ganz be- sonders,daß ihre Zahl in Wirklichkeit größer ist, als die osfiziell ermittelte". Ungleich interessanter als die Ermittelung der Selbstmord- Häufigkeit ist die Ergründung der Motive, die zum Selbst- mord führen. Besonders die Kinderselbstmord« stellen ein der wissenschaftlichen Erschließung und Durchforschung noch dringend be- dürstiges Gebiet dar; der Psychiatrie und Psychologie, Soziologie und Pädagogik eröffnen sich hier weite Felder zur Betätigung. Ein gesundes, widerstandsfähiges, wohlerzogenes Kind dürfte wohl nur in den allerscliensten Fällen den Gedanken des Selbstmords fassen, aber nach Hunderttausenden zählen die geschwächten Schößlinge. die mit vernnnderter Lebensenergie zur Welt kommen, in denen Alkoholismus  , Ausschweifung. Krankheit, Art und Ueberorbeitung der Eltern eine geringere Widerstandskraft fiir den Lebenskampf erzeugten. Oftmals können sorgfältige, liebevolle Erziehung, gute äußere Um« stände einen Ausgleich herbeiftihren, oft auch bleibt wenigstens der Anstoß zu einem tragischen Abschluß fern. Treten aber an solche Kinder mit den reizbaren Nerven, dem ausgeglichenen, oft über- empfindlichen Gemütsleben weitere Schädigungen und Kümmernisse heran, so ist der Weg zur Tragödie vorgezeichnet." Es liegt in der Natur des Selbstmordes im allgen, einen wie in seiner gesellschaftlichen Beurteilung im besonderen begründet, daß an ihm mancherlei Momente dunkel zu bleiben pflegen, nicht zum letzten die Ursachen, die sich der nachträglichen Erforschung am leich- testen zu entziehen vermögen. In allen Statistiken über Selbstmord- Ursachen findet sich denn auch die Rubrik:Unbekannte Motive" und zwar durchgängig mit hohen Ziffern. So waren zum Bei- spiel unter 936 in den Jahren 1884 bis 1898 im Alter von 16 bis 15 Jahren ausgeführten Selbstmorden 337(37,4 Proz.) mit unbekannten Ursachen, und Morselli berechnete auf je 1666 Selbstmörder im Alter von unter 15 Jahren in Preußen für die Jahre 1869 72 nicht weniger als 434 Knaben und 319 Mädchen, bei denen die Motive des Selbstmordes nicht zu ermitteln waren. Nun meint Baer  , der zwar nicht wie Esquirol eine spezifische Jrrsinnsform als Selbstmordmotiv annimmt, aber leicht geneigt ist, Geistesstörung  , psychopathische Minderwertigkeit und krankhafte Affekte als Hauptursachen der Kinderselbstmorde gelten zu lassen, auchvon den Fällen ausunbekannten Uriachen" dürfe ohne jedes Bedenken ein großer Teil als solche angeschen werden, welche den minderwertigen, zweifelhaften, psychopathischen Motiven zugerechnet werden, deren wahrhafter Geisteszustand während des Lebens nicht erkannt worden ist." Dem entgegen ist Durand-Fardel der Meinung, daß Mißhandlung die häufigste