Nnterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 123. Dienstag, den 30. Juni. 1903 (Nachdrutl verboten.). Vie Verurteilte. Von BlaSco Jbanez. Autorisierte Uebersetzung hon A. Cronau. Vierzehn Monate befand sich Rafael in der engen Zelle. Er hatte jene vier Wände von einem traurigen Knochenweiß, deren Risse und Abbröckelungen er auswendig kannte, zur Welt; seine Sonne war das hohe, mit Eisenstäben kreuzartig vergitterte Fensterchen, wodurch er nur ein kleines Stück vom blauen Himmel sehen konnte, und von dem acht Schritt langen Boden gehörte»hm nur dje Hälfte, woran jene schändliche, rasselnde Kette schuld war, deren Ring ihm den Fußknöchel dermaßen einschnitt, daß er fast eins mit seinem Fleisch ge- worden war. Er war zum Tode verurteilt, und während man in Madrid zum letzten Male die Akten seines Prozesses durch- blätterte, blieb er hier einen Monat nach dem anderen lebendig begraben, verfaulte er in diesem Mörtelsarg als beseelter Leichnam, wünschte er als ein Uebel, das nur einen Augenblick dauerte und größeren ein Ende machte, die Stunde herbei, in der man ihm den HalS zusammenschnürte, so daß alles auf einmal zu Ende war. Am meisten quälte ihn die Reinlichkeit, dieser Boden, der alle Tage gefegt und gut gescheuert wurde, damit die Feuchtig- keit, die durch den Bettsack hindurchdrang, ihm in die Knochen zog, diese Wände, worauf man kein Stäubchen ließ. Selbst die Gesellschaft des Schmutzes nahm man dem Gefangenen. Vollkommene Einsamkeit... Hätte es hier Ratten gegeben, so hätte er den Trost gchabt, mit ihnen die kärgliche Mahlzeit zu teilen und wie mit guten Kameraden zu ihnen zu sprechen: hätte er in den Ecken eine Spinne gefunden, so hätte er Unter- Haltung darin gefunden, sie zu zähmen. In diesem Grab war kein anderes Leben als das seine. Eines Tages o, wie gut erinnerte Rafael sich dessen I zeigte sich ein kleiner munterer Spatz am Gitterfenster. Der Zigeuner des Lichts und deS Raumes piepste, als ob er seiner Verwunderung darüber Ausdruck geben wollte, da unten dieses arme, bleiche, magere Geschöpf zu sehen, das im Hochsommer vor Kälte zitterte, obschon es einige Tücher um die Schläfen gebunden hatte, und einen zerlumpten Mantel um die Lenden trug. Dieses knochige, bleiche Gesicht, das die Weiße von Papiermache hatte, mußte ihn erschrecken, der seit- same rote Fellanzug flößte ihm Furcht ein, und er flog von bannen, indem er sein Gefieder schüttelte, als ob er sich von dem Dunst deS Grabes und verfaulter Wolle, den das Grab ausströmte, befreien wollte I Das einzige Geräusch des Lebens war das der Gefängnis- geführten, die über den Hof gingen. Diese sahen wenigstens den freien Himmel über ihren Häuptern, atmeten die Luft nicht durch eine Schießscharte ein: sie hatten die Beine frei und hatten jemand, mit dem sie sprechen konnten. Sogar hier drinnen hatte das Unglück seine Abstufungen. Rafael ging eine Ahnung auf von der ewigen mensch- lichen Unzufriedenheit. Er beneidete die Leute, die auf dem Hof waren, betrachtete deren Lage als eine der begehrens- wertesten, die Gefangenen beneideten wiederum jene, die draußen waren, und die Leute, die um diese Zeit durch die Straßen gingen, waren vielleicht auch nicht mit ihrem Schick- sal zufrieden und sehnten sich nach wer weiß wie vielen Dingen! Dabei ist die Freiheit doch so schön! Sie verdienten im Gefängnis zu sein! Er befand sich auf der untersten Stufe des Unglücks. Er hatte die Absicht zu fliehen: in einem Verzweiflungsanfall wollte er den Boden durchbohren, aber die Bewachung er- drückte und belästigte ihn in einem fort. Er wollte sich da- durch unterhalten, daß er in einem monotonen Singsang die Gebete hersagte, Lie seine Mutter ihn gelehrt hatte und wo- von er nur noch Bruchstücke kannte aber man hieß ihn schweigen. Wollte er sich vielleicht verrückt anstellen? Nur recht ruhig! Sie wollten ihn ganz haben, gesund an Körper und Geist, damit der Henker nicht an beschädigtem Fleisch sein Werk täte! Verrückt! Nein, das wollte er nicht sein, aber die Einzelhaft, die Bewegungslosigkeit und das knappe, schlechte Futter brachten ihn um. Er bekam Halluzinationen; manche Nächte, wenn er die Augen schloß, da ihn das vor, schriftsmäßige Licht belästigte, denn während 14 Monate hatt« er sich nicht daran gewöhnen können, quälte ihn die sonder» bare Idee, daß ihm seine Feinde, die ihn töten wollten und die er nicht kannte, den Magen umgedreht hätten. Er wurde da« durch von schmerzhaften Stichen gequält.- Tagsüber dachte er immer an das Vergangene, aber selck Gedächtnis war dabei so verwirrt, daß er die Geschichte eine? anderen durchzugehen glaubte. Er dachte an seine Rückkehr in seinem kleinen Zeimats- ort, nachdem er wegen geringes Vergehen zum erstenmal im Gefängnis gewesen war, an seinem Ruhm im ganzen Bezirk, an die Versammlung im Wirtshaus des Ortes, die ihn enthusiastisch bewunderte. Das war ein Kerl, dieser Rafael! Das beste Mädchen des Ortes entschloß sich, seine Frau zu werden, mehr aus Furcht und Achtung, als aus Zuneigung: der Gemeinderat schmeichelte ihm, gab ihm die Flinte des Landgendarmen, spornte seine Brutalität an, da- mit er sie bei den Wahlen gebrauche: er herrschte im ganzen Distrikt ohne ein Hindernis zu finden, er hatte die anderen, die von der gestürzten Partei, so ins Bockshorn gejagt, daß sie schließlich, als sie dessen müde waren, sich unter dem Schutze eines Raufboldes stellten, der soeben aus dem Zuchthaus ge« kommen war und den sie nun Rafael gegenüberstellten.> Jesus Christus ! Die professionelle Ehre war in Gefahr; er mußte dieses Individuum, das ihm das Brot wegnahm, bei den Ohren kriegen! Als unvermeidliche Folge kam nun daS auf die Lauer liegen, der sichere Flintenschuß und der letzte Schlag mit dem Kolben, damit er nicht mehr schreien oder strampeln konnte. Mit einem Worte... Mannesangelegenheiten! Als Schluß kam das Gefängnis, wo er alte Kameraden traf, der Prozeß, wobei alle, die ihn früher fürchteten, sich für die aus- gestandene Angst rächten, indem sie gegen ihn aussagten, der furchtbare Urteilsspruch und diese verfluchten 14 Monate Wartezeit, bis von Madrid der Tod kommen würde, der, nach» dem wie er sich erwarten ließ, sicherlich im Leiterwagen kommen würde. Es fehlte ihm nichk an Mut. Er dachte an Juan Porlela, an den tapferen Francisko Esteban, an alle jene unverzagten Helden, deren Taten in Romanen erzählt wurden, die er immer mit Begeisterung angehört hatte, und er wußte, daß er ebensoviel Mut'wie sie hatte, um der Todesstunde ins Ge- ficht zu sehen. In einigen Nächten sprang er allerdings doch von seinem Bettsacke auf, wie von einer geheimen Feder in die Höhe ge- schnellt, wobei seine Kette traurig klirrte. Er heulte wie ein Kind und empfand zugleich Reue, wobei er sich vergeblich an- strengte, seine Seufzer zu ersticken. Der in seinem Innern aufschrie, war ein anderer als er, einer, den er bisher nicht ge- kannt hatte, der Angst hatte und greinte, der sich nicht eher beruhigte, bis er ein halbes Dutzend Tassen jenes heißen Ge- söffS aus Johannisbrot und Feigen getrunken hatte, da» man im Kerker Kaffee nannte. Von dem Rafael. der den Tod herbeiwünschte, damit schnell ein Ende gemacht würde, ver- blieb nur die Hülle. Der neue, der in diesem Grab ent« standen war, dachte mit Schrecken daran, daß schon 14 Monat« verflossen waren und daß das unvermeidliche Ende nahe war» Er würde sich gern darin ergeben haben, noch weiter« 14 Monate in diesem Elend zu verbleiben. Er wurde mißtrauisch, er ahnte, daß das Unglück sich ihm näherte: er sah es überall, an den neugierigen Gesichtern. die sich am Fensterchen der Tür zeigten, am GefängniSgeist- lichen. der jetzt alle Abend zu ihm kam, als ob diese stinkige Zelle der beste Ort wäre, um mit einem Menschen zu sprechen oder eine kleine Zigarette zu rauchen. Schlimm, sehr schlimm l Die Fragen waren beunruhigend genug. Ob er Christ wäre? Ja, Pater. Er ehrte die Priester und hatte sich ni« ihnen gegenüber auch nur das Geringste zuschulden kommen lassen. Auch gegen seine Familie war nichts zu sagen, waren doch all' die Seinen in die Berge gezogen, um den recht- mäßigen König zu verteidigen, da der Pfarrer deS Ortes e» so befahl. Um sein Christentum zu bestätigen, zog er auR