Se8 Beckens lassen die ArnauteN ihre Eimer an Stricken hinunter. Die Stricke haben in den Marmor im Laufe der Jahrhunderte -spannenweite Rillen eingeschnitten. In der Basarstratze bietet man mir eine alte Pistole zum Kauf jan— fÜD eine türkische Lira(19 Mark). Als ich mich stumm ab» wende, läuft mir der glückliche Besitzer der Pistole nach.„Essen - düml Effendüml Ich geb' sie für eine halbe Medschidiel"(1 Mark vv Pf.) Aber sie ist auch das nicht wert, überhaupt nichts wert. Auf einem Hügel im Osten der Stadt baut man eine neue Kaserne für die kleine Garnison — schon seit vielen Jahren. In der Karaula nebenan hält eine kleine Abteilung von Nizams Wache. Diese abgerissenen, abgehärmten Gesellen, an deren Ausrüstung -nichts blank ist als die Gewehre, haben vor drei Jahrzehnten dem großen Rußland Halt geboten und erst vor kurzem wieder das Sterbelager deS„kranken Mannes" mit griechischem Lorbeer ge- schmückt. Der Posten hockt schlaftrunken vor der Karaula und blinzelt weit über die Minaretts und Maucrzinnen von Dratsch aufs Meer hinaus und auf die schneebedeckten Kuppen der Tomor- berge. m. San Giovanni di Medua. Platsch! fällt der gewaltige Anker in die See. DaS Wasser ist hellgrün, vom letzten Sturm aufgewühlt und trüb wie Milch. Die gelbe Quarantäneflagge ist gehißt, zum Zeichen, daß die Hafen- beHürde noch nicht die lidcra prstics erteilt hat, und schon erklettern von allen Seiten geschwätzige Händler das Deck, auf dem sich binnen einigenMinuten ein schwungvoller Handel mit Brot, Kür- bissen. Orangen, Tabak und hundert anderen Dingen entwickelt. Wer eine Handvoll Tabak kauft und mit österreichischem Geld zahlt, bekommt auf ein Zwanzigkronenstück einen halben Napoleon, zwei Medschidien und drei schmutzige griechische Papicrdrachmen— oder ähnlich•— zurück, denn hier kursieren alle Münzen. Streit gibt es immer und betrogen wird man auch immer—- wenn nicht anders, dann wenigstens mit falschem griechischem Geld. Wer zehn Drachmen hat und nur fünf zahlen soll, zerreißt die Note der „Joniki Trapeza"(Ionischen Bank) einfach in zwei Stücke. Ein Arnaut, dessen volkstümliches Kostüm durch eine euro- (wische Damenjacke ergänzt wird, bringt Steinhühner und Eier an Word. Auf die legt der Schiffskoch sogleich seine schwere Hand. Denn Geflügel und Eier hat er die ganze Küste entlang nicht auf- treiben können. In Italien herrscht nämlich die Hühncrcholera— itiid was die italienischen Händler hier nicht aufkaufen, schleppen !die Engländer nach Malta weg. Miß Blanche verlangt an Land zu gehen. Sie ist Malerin, äußer mir die einzige Person, die verrückt genug ist, Liistfahrten auf albanischen Frachtdampfern zu machen, daher auch außer mir ber einzige Passagier der ersten Klasse. Ich hege den Verdacht, daß sie einen letzten Versuch machen will, wie einst Miß Stone von interessanten Balkanräubern entführt zu werden. So gut es in meinen schwachen Kräften steht, will ich abenteuerlustig sein und steige mit in die Barke, die mit den Schiffspapiercn und der Post Dem Hasen zusteuert. Schon nach einer Viertelstunde hat sich Miß Blanche über- zeugt, daß in Medua nichts zu holen ist als der Anblick von vier oder fünf elenden Häusern und— das Fieber. Wir gehen an Word zurück. Je mehr wir uns den Grenzen Montenegros nähern, desto lebhafter werden unsere Zernogorzen. Sie jubeln und jauchzen, baß es eine Art hat. Bald schlingen ihrer ein halbes Dutzend ein- ander die Arme um die Schultern und tanzen zu melancholischen Melodien und epischen Texten ein lustiges Kolo— dann stellen sie sich einander einzeln gegenüber und springen schreiend taktmätzig hin und her. Das nennen sie„slcalcati"—„springen". Mit sichtbarem Hohn unter den ernsten Brauen sehen ihnen die Türken zu, denen solches Tun lächerlich erscheint. Im Zwischendeck hocken Albancsen aller möglichen Stämme— Gegen, Tosken und Miri- diten— gruppenweise durcheinander. Vier Dalmatiner haben sich um eine Kerze versammelt und spielen Karten— dort läßt ein Zigeuner seine Geige kreischen und bettelt dann herum. Eiue� babylonische Verwirrung der Sprachen. Italienisch, Serbisch,' Arnautisch, Türkisch, Griechisch— alle Zungen und Dialekte des Balkans haben ihre Vertreter entsendet. Sogar vermummte Dürkinnen sind da— mit blitzgrünen Sonnenschirmen, die sie im Zwischendeck aufgespannt halten, um sich, vor den neugierigen Blicken der Giauren zu schützen. Und was die Leute alles an Gepäck mitschleppen! Petrolcumkannen, Bettzeug, Truthühner, Baum- sägen, Maultiersättel, Fischnetze, Kaffee, Sohlenleder, Kinderwagen und Pendeluhren. Wenn es wieder regnen sollte» müssen all die Hunderte mit ihrem unermeßlichen Gepäck ins Zwischendeck flüchten. Im letzten Augenblick vor dem Ankcrlichten legt noch eine Barke an. Der österreichische Konsul von Durozza kommt mit seinen Kawassen und einem Zaptich(Gendarm) an Bord. Der Konsul, der Kapitän und der wachhabende Offizier stecken die Köpfe zu- sammen, wispern geheimnisvoll und blicken rundum. Der Konsul sucht nämlich einen Korfioten, der seine schöne Heimatinsel um eines schnöden Diebstahls willen fliehen muß.(ft soll just mit unserm Schiff durchgebrannt und darum an Bord zu finden sein. Lange, lange dauert die Durchsicht all der vielen Pässe. Eh ein Zinzare begreift, was man von ihm will, oder ein Walache seine Dokumente auS sieben Säcken herborwickelt, werden Nervöse rasend und Gesunde nervenkrank.— Endlich ist das Zwischendeck abgesucht Den korfiotischen Gauner hat man nicht gefunden. Wieder stecken Konsul,'Kapitän und Offiziere die Köpfe zu« sammen. Der Konsul plant irgend was, wovon ihn die anderen abzuhalten suchen. Er hat für alle Einwände nur ein bedauerndes Achselzucken und>— schreitet plötzlich mit verlegenem Lächeln>— aus mich zu. Er prüft den Paß und ist recht enttäuscht, Ich bin nämlich auch nicht der gesuchte Gauner. kleines Feuilleton. Hygienisches. Die Gesundheitskarte. Während früher ausschließlich da? Musterungsgeschäst Gelegenheit bot, über den körperlichen Zu- stand eines großen Bruchteiles der Bevölkerung statistische Angaben zu sammeln, haben neuerdings eine Reihe sozial-hhgienischer Einrichtungen es ermöglicht, unsere Kenntnisse über d,e Gesundheits« Verhältnisse breiter Volksschichten zu vervollständigen. So sind zunächst die Krankenkassen zu nennen, bei welchen fortlaufend auf besonderen Karten für jedes einzelne Mitglied Aufzeichnungen über die Erkrankungen, Spitalaufenthalt usw. gemacht werden, die sich oft auf Jahrzehnte erstrecken; da ist ferner die moderne Schulhygiene, die dem Schulärzte Gelegenheit gibt, für die ganze Schulzeit Karten für jeden Schüler anzulegen, auf denen Größe, Gesundheitszustand usw. verzeichnet werden. Endlich sind hier auch die Säuglingsfürsorgeeinrichtungen zu erwähnen; in den Fürsorge- stellen wird bekanntlich der Säugling regelmäßig gewogen und fort- laufend konrrollicrt; ja, das Jmpfgeichäst wird nmncherorts, z. B. in Bayern , zur Eruierung mancher Verhältnisse benutzt, so. ob der Säug- ling gestillt wurde oder nicht. So entsteht für den einzelnen Staats- bürger fortlaufend ein sehr wichtiges Material zur Beurteilung seiner körperlichen Verhältnisse. Bedauerlich ist nur, daß eS bis jetzt völlig zersplittert ist, daß die eine ärztliche Stelle ohne jeden Zusammen- hang mit der anderen arbeitet. Es ist daher der beachtenswerte Vorschlag gemacht worden, es solle eine Zentralstelle, ein soziale? Gesundheitsamt errichtet werden, welches alle diese zerstreuten Notizen zu sammeln und nutzbar zu machen hat. Der Wert einer derartigen Gesundheitskarte liegt auf der Hand, denn es würde alsdann das Material gesammelt zur Stelle sein, das oft später nur mit den größten Schwierigkeiten beschafft werden kann. Sozialstatistische Beobachtungen mannigfachster Art würden dadurch ermöglicht. Aus dem Pflanzenleben. Die Mistel auf der Mistel. Die Erscheinung, daß die Mstel auf Gewächsen der eigenen Gattung ihr Schmarotzerdasein führt, ist wenigstens in einzelnen Bezirken gar nicht selten. Dr. Fr. Müller aus Oberstein hat ihr in den Seitentälern der Nahe im Fürstentum Birkenseld, dessen Wälder die Laubholzmistel in reichem Maße beherbergen, nachgespürt und darüber in der„Natur- wissenschaftlichen Zeitschrift für Forst- und Landwirtschaft" in ein- gehender Weise berichtet. Er hat besonders an alten Mistel- stöcken, die auf wilden Apfelbäumen standen, solche? para« sitische Vorkommen recht oft beobachten können. Die ursprünglichen Mistclpflanzen, die in der Gegend der Beob- achtung, dem Südhange des Hamelberges bei Obertiefenbach , einen Durchmesser von l'/e- 2 Meter erreichten, waren nicht allein von zahlreichen Keimlingen, sondern auch von ausgebildeten jüngeren und älteren Mistelpflanzen bestanden. Für diese ichlägt Müller den Namen„Mistelfresser"(ViscopbaA) vor. Oft saß ein Dutzend da- von an einem Stock. Man erkennt sie namentlich dann leicht, wenn sie sich nicht an Verzweigungsstellen, sondern dort angesiedelt haben. wo die Nährpflanze bereits ihre Blätter abgeworfen hat. Sie fallen durch die hellere Farbe ihrer Zweiglein und durch ihre oft angefressenen und in Form und Größe schlecht ausgebildeten Blätter auf. Ein Anschwellen, wie es beim Schmarotzen der Mistel auf Gewächsen anderer Art an der Ansatzstelle oft in sehr erheblichem Maße zu bemerken ist, findet beim Wuchs von Mistel auf Mistel nur in sehr undeutlicher Weise statt, so daß bisweilen der Parasit des Parasiten leicht übersehen werden kann. Dies ge- schieht natürlich besonders dann, wenn Wirt und Schmarotzer gleichen Geschlechtes sind. Andernfalls ist die Erscheinung häufig sehr aus- fallend und ein Stück männlichen Mistelstrauches, das um Weihnachten leuchtende Beeren trägt, zieht ohne weiteres die Aufmerksamkeit auf sich. Der Mistelfrcsser verniag bisweilen eine Verkümmerung des Nährzweiges der Mistel, auf der er sich ansiedelt, zu bewirken. Er entnimmt der Wirtspflanze die Stoffe, die zum Ausbau seiner Zellen dienen, ohne ihr Assimilationsprodukte abzugeben, während er sich im allgeincincn wie ein richtiger Zweig verhält und die Rährpflanze auch seinerseits ernährt. Dies Verhalten bildet den prinzipiellen Unterschied zwischen der Ansiedelung der Mistel auf Gewächsen ihrer eigenen Art und der auf andern. Er erklärt es mich, daß im ersteren Falle keine Rindenwurzeln gebildet werden und daß die Nährmistel keine erheblichen Anschwellungen erfährt. Berantw. Redakteur: Georg Davidsohn , Berlin.— Druck u. Verlag: Vorwärts Buchdr. u. Verlagsanstalt Paul Singer& Co., Berlin SW.
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25 (11.7.1908) 132
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