Mnterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 250. Freitag den 25 Dezember. 1908 (Nachdrui! berbolen.) Gin Weihnachtsmärchen. Von Peter Nansen . Es war einmal ein ungeratenes Kind. Man kann wohl mit Bestimmtheit annehmen, daß die Erziehung cm wenig schuld daran hatte, denn die war, gelinde gesprochen, höchst mangelhaft gewesen: aber trotzdem, ein zehnjähriges Kind ist nicht durch Erziehung allein so mißraten: es muß von Geburt an etwas Gottloses an ihm gewesen sein. Das ungeratene Kind ging am Tage vor dem heiligen Abend die Vimmelskaft(eine der Hauptstraßen Kopen- Hägens) hinab. Natürlich waren die Kleider des Kindes zer- rissen und zerlumpt, es war unglaublich, was das Kind an Zeug verbrauchtet Hatte es doch erst zum letzten Weihnachten eine von des Oberlehrers abgelegten Hosen erhaltenl Und jetzt war, mit Erlaubnis zu sagen, nicht so viel mehr davon übrig, daß das Hinterteil bedeckt wurde! Man konnte sich wahrlich versucht fühlen, zu glauben, daß sich das Kind so wie der unartige kleine Tordenskold auf einen Schleifstein gesetzt habe. Es war nicht gerade sommerwarm an jenem Abend, aber doch mild und angenehm für gesunde und wohlgekleidete Leute. Wenn man aber den Jungen ansah, hätte man glauben können. Kopenhagen sei Sibirien . Er stellte sich an, als sei er auf dem besten Wege zu erfrieren: Er hielt die Hände vor den Mund und ließ die Tränen an seinen schmutzigen, auf- geschwollenen Wangen herunterlaufen. Daß da? Verstellung war, sah man am besten daran, daß er jeden Augenblick stillstand und die erleuchteten, aufgeputzten Ladenfenster anstarrte: hätte ihn wirklich gefroren, so würde ihm das schon Beine gemacht haben. Wer ihn beobachtete, wenn er vor einem weihnachtlich ge- schmückten Laden stand, der gewahrte einen gierigen, boshaften Ausdruck in seinen kleinen, schlauen Augen. Das war nicht wie bei andern Kindern, die auch auf den Einfall kommen können, alles Haben zu wollen, was sie sehen. Wie entzückend war es nicht, die kleinen appetitlichen Bälge die Hände aus- strecken zu sehen und sagen zu hören:Das will ich zu Weih- nachten haben, Mama!" Sobald die Mutter sie nur küßte und sagte:Ja, wenn Baby artig ist, soll Baby es haben," gleich waren sie zufrieden und lachten übers ganze Gesicht. Aber das ungeratene Kind sah so gierig aus, daß man ganz bange vor ihm werden konnte. Und einmal, als eine niedliche Kleine, der sein Anblick Ekel einflößte, zu ihrer Mutter sagte:Pfui, was fiir ein Straßenjunge!" da spuckte er nach ihr und sagte ein häßliches Wort. Glücklicher- weise besaß die Mutter die Geistesgegenwart, ihm. che er Reißaus nahm, einen tüchtigen Schlag mit ihrem Regenschirm an den Kopf zu geben. Es war sehr schön und anheimelnd in der Oestergade. So hell wie am lichten Tag, und aus den warmen Läden strömte der Duft von leckeren Sachen. Da konnten die Leute denn auch nicht umhin, fröhlich auszusehen: sie gingen so lächelnd und höflich zwischen einander umher, als seien sie alle die besten Freunde. Man sagte:Ach entschuldigen Sie!" wenn man einander stieß, und sogar gegen ältere Damen war man galant. Der unartige Junge schlich mit seinem mürrischen, un- angenehmen Gesicht zwischen allen diesen liebenswürdigen Menschen hindurch. Vor einem Bäckerladen blieb er stehen und schnüffelte den fetten, süßen Geruch des Christstollens auf. Die Tür eine schöne Glastür mit blauen seidenen Gardinen wurde alle Augenblicke geöffnet, und feine Damen mit roten und weißen Päckchen gingen aus und ein. Jedes- mal, tvcnn die Tür sich öffnete, strömte der anregende warme Duft heraus, und der Junge konnte seine Nase nicht davon halten. Er kam näher und näher, und einmal, als die Tür ein klein wenig offen geblieben war, schlüpfte er hinein und stellte sich neben zwei große Körbe mit frisck'aebnckenem Wienerbrot. Die Damen standen vor dem Ladentisch, und niemand beachtete ihn. Es war auch kein schöner Anblick, ihn mit den bösen, unruhigen Augen, vor Begierde zitternd, dastehen zu sehen. Da kam eine große, schöne Dame mit einem wunder- hübschen, goldlockigen kleinen Mädchen, so einem rechten Engelskinde, herein. Große fromme Augen in dem aller- weichsten kleinen Gesicht. Als die Kleine den schmutzigen, schlechtgekleideten Jungen erblickte, füllten sich ihre schönen Äugen mit Tränen, und sie sagte zu ihrer Mutter:Ach, wie arm der Junge aussieht! Darf ich ihm mein Fiinförestück geben, Mama?" Die Dame musterte den Jungen und schüttelte, waS ja sehr begreiflich ist, den Kopf über sein wenig anziehendes Aeußere. Zu ihrem Töchterchen aber sagte sie:Mein liebes, süßes Knd, wenn es Dir Freude macht, so kannst Du dem Knaben gern Deinen Sparpfennig geben." Das kleine Mädchen suchte in seinem Muff und fand daÄ Fünförestück. Und während es sich mit der einen Hand vor- sichtig an der Mutter festhielt, reichte es dem Jungen das Geldstück und sagte:Das sollst Du haben!" Der Knabe sah nur das Geldstück an und riß es so gierig an sich, daß daS kleine Mädchen sich ganz erschreckt an die Mutter anschmiegte. , Das ist gewiß ein unartiger Junge, Mamal Er hat gar nicht einmaldanke" gesagt!" Mein Junge." sagte die Dame ernst und eindringlich zu ihm,denke daran, daß man immerdanke" sagen muß, wenn man etwas bekommt." Dann trat sie mit ihrem kleinen betrübten Tochterchen t.n den Ladentisch und schenkte ihm einen Kuchen, um es über seine kindliche Enttäuschung zu trösten, während sie selber ihre Weihnachtsbestellungcn machte. Aber das kleine Mädchen konnte den unartigen Knaben nicht vergessen und schielte unverwandt verstohlen zu ihm hinüber. Der Knabe blieb stehen: er konnte sich nicht losreißen von den beiden Körben mit Wienerb rot. Seine Hände tasteten an dem Rand des einen, während seine Augen unruhig umher- schweiften, und als er sich unbeachtet glaubte, griff seine Hand in den Korb hinein. Im selben Augenblick rief das kleine Mädchen entsetzt: Ach, Mama! er stiehlt!" Und ehe der Junge zur Türe hinausschlüpfen konnte, hatte ihn ein resolutes Dienstmädchen gepackt. Er hatte die ganze Hand voll Wiencrbrot. Es entstand ein großes Entsetzen im Laden, und die auf« geschreckten Damen riefen durcheinander:Ein Dieb! Wi» entsetzlich! Mitten in der Hauptstraße! Wo ist denn nur di« Polizei!"-- Das kleine Mädchen weinte, und als ein Schutzmann rn> den Laden trat, jammerte es laut:Ach Mama. Mama!"- Es bedurfte keiner langen Erklärung, denn der Jung« war auf frischer Tat ertappt. Die hübsche, rundliche Laden« mamsell mit der weißen Latzschürze lvar gutmütig genug, zu sagen, daß die paar Stücken Wienerbrot doch nicht wert seien, daß man solch Aufheben davon machte. Da aber trat die groß« Dame mit dem weinenden Kinde an der Hand vor und sagte: Ich fühle mich verpflichtet, den Herrn Schutzmann darüber aufzuklären, daß dieser Knabe nicht aus Not ge, stöhlen hat. Meine kleine Emmy hier brach das Kind in ein krampfhaftes Schluchzen aus hat ihm noch vor einem Augenblick Geld gegeben." Währenddes hatte der Junge verstockt und, wie es schien. ganz gleichgültig dagestanden. Er versuchte sogar, heimlich ein Stück von dem Wienerbrot abzubeißen, das ihm weg» zunehmen niemand bedacht gewesen war: aber das hintertrie» denn doch das Dienstmädchen, das ihn festgehalten hatte, in» dem sie seinen Arm schüttelte, so daß das Brot zur Erde fiel, Der Schutzmann packte den Jungen dann bei der Schulte« und, die Damen grüßend, ging er mit ihm ab, indem er sagt«: Ja, ja, dem kann ein kleiner Aufenthalt im Brummloch nicht schaden!" Das kleine Mädchen war untröstlich. Es weinte um den diebischen Knaben.