„Ich kann nid) mehr!" Ihre schneebleichen Lippen zucktenkvie von verhaltenem Weinen.Die junge Frau hob den Kopf. Ein paar Augenblickestarrten sich die beiden Frauen stumm an. Durch das un-verhängte Fenster flutete jetzt vollstes Sonnenlicht mit un-barmherziger Klarheit— da gab's nichts mehr zu verbergen.„Was fehlt Ihnen?" stotterte die junge Frau.Keine Antwort. Mit einem Aechzen, das fie unter einemHüsteln zu verstecken suchte, kauerte sich Mine nieder undtastete wie blind auf dem Boden herum. Sie konnte nichtaufstehen, sie lag wie niedergeschmettert, wie ein Tier aufallen Vieren.„Sind Sie krank?"Keine Antwort.„So antworten Sie doch!"Kein Wort, nur ein Wimmern.„Aber— Anna— 1" Das weiche Kindergesicht derjungen Frau war plötzlich wie zu Stein erstarrt. Ihrenblauen Morgenrock an sich raffend, damit er den Schmutznicht streife, verließ sie das Zimmer.lIortsctzung folgt.)Gottfried Sckadow.Dem feudalen Zeitalter des Rokoko wurde durch die große fran-zösische Revolution ein Ende gemacht. Ein« Art von bürgerlicherKultur löste die aristokratische ab, die während des 18. Jahr-Hunderts namentlich in Frankreich zur höchsten Blüte gebracht undzugleich dem sicheren Verfall entgegengeführt war. Die fundamentalen Umwälzungen, die in den wirtschaftlichen Verhältnissen, inden politischen, religiösen und gesellschaftlichen Anschauungen Platzgriffen, mußten natürlich auch auf die Kunst einwirken. Der deka-dente, bis zum Uebermaß verfeinerte und versüßlichte Rokokostil.dessen Meister als die treuesten Vertreter aller feudalen und revo-lutionsfeindlichen Instinkte erschienen, konnte der ernsten Würdedes Zeitalters nicht mehr genügen. Man suchte nach neuen lünst-lerischcn Ausdrucksformen und fand oder vielmehr glaubte diese zufinden in der römiscben Antike. Dem alten Römertum ent-nahmen sowohl die bürgerlichen Helden als auch die Künstler derRevolutionszeit ihre Vorbilder, und Napoleon benutzte dann die intheatralischen Pomp umgewandelten Formen des antikisierendenKlasfizismus, um seinen Kaiserthron damit zu dekorieren. Der„E m p i r e st i l"(d. h. der Stil des Napoleonischcn Kaiserreiches)entstand und breitete sich als„Klassizismus" von Frankreich überden europäischen Kontinent aus. In Deutschland hatte die Wissen-schaft diesen neuen Kunstanschauungen bereits vorgearbeitet. Durchden Archäologen Winckelmann war das Gespenst der Antike mittenin die lebendige EntWickelung der bildenden Künste hineinverpflanztworden, und die ersten Geister Deutschlands vor allem Goethe,waren der neuen Modeströmung zum Opfer gefallen. Die„klassische" Antike galt als die höchste Lehrmeisterin der Künstlerund wer es wagte, allein der Natur und den Eingebungen deseigenen Genies zu folgen, wurde als„Naturalist" und„Manierist"verworfen. Im Jahre 18l>1 veröffentlichte Goethe in der Zeit,schrift„Propyläen" einen Artikel, der in diesem Sinne eine„flüch-tige Uebersicht" über den damaligen Stand der bildenden Künstein Deutschland gab und namentlich an den Berliner Künstlernals� den Hauptbcrtretern des Naturalismus scharfe Kritik übte.Auf diese Angriffe antwortete der Berliner Bildhauer Gott-fried Schadow in einem Artikel, der den„charakteristischenKunstsinn" im Gegensatz zu dem nach formaler Schönheit streben-den Klasfizismus verteidigte. Nicht durch die Nachahmung derAntike— das war die Quintessenz seiner theoretischen Ausfüh-rungen— sondern allein durch treue Nachahmung der Natur lassesich etwas Wertvolles und Eigentümliches schaffen.„Homeridesein wollen, wenn man Goethe ist! Hätte ich doch die Macht, dieseunverzeihliche Bescheidenheit zu verbietenl" Schadow war damals88 Jahre alt. Auch er hatte seine künstlerischen Studien, wie esüblich war, in Rom betrieben, aber seine gefunden Instinkte be-wahrten ihn davor, sich der klassizistischen Mode mit Haut undHaaren zu verschreiben. Er wurzelte als Künstler zum Teil nochim Rokokozeitatter, ging im wesentlichen aber seine eigenen Pfade.Ein starkes Quantum rücksichtsloser Derbheit stellte seine Kunstin scharfen Gegensatz zu der tändelnden Grazie und spielerischenPhantastik der Reifrockzeit, und eine nüchterne und unbestechlicheBeobachtungsgabe lenkte ihn, trotz gelegentlicher Abirrungen,immer wieder auf das ehrliche Studium der Natur zurück. Gott-fried Schadow war sicherlich kein überragendes Genie, aber er� wareine eigenartige, rückgratstarke Persönlichkeit und ein sehr ge-wandter und solider Techniker, der sich noch im Besitze der damalsschon vielfach mißachteten Ausdrucksmittel der alten künstlerischenTradition befand.Obwohl Schadow eS während seines langen Lebens(er starberst 18Sl> als Scchsundachtzigjähriger) zu mancherlei äußerenEhren und offiziellen Würden gebracht hat und obwohl er fast46 Jahre lang die Berliner Akademie als Rektor und Di-rcktor leitete, so wurde doch seinem Schaffen die Anerkennung derZeitgenossen und namentlich der zeitgenössischen Künstle» nicht«Uverdienten Maße zuteil. Seine Kunstanschauungen, die uns heutein gewissem Sinne„modern" anmuten, erschienen dem damalsherrschenden Klassizismus als längst überwundene Verirrungen.Der an die Antike sich eng anlehnende„Idealist" Christian DanielRauch war der rechte Mann der Zeit, dem die großen bildhaue-rischen Aufträge zufielen. Der alte Schadow wurde vergessenund nur Schuljungen lernten in der patriotischen Geschichte, daßdie von Napoleon entführte und in den sogenannten Freiheits-kriegen wieder zurückeroberte Viktoria auf dem BrandenburgerTor sein Werk sei.Eine von der Akademie der Künste veranstaltete Aus-stcllung gibt jetzt Gelegenheit, das gesamte Schaffen des eigen-artigen Mannes wenigstens in seinen charakteristischen Grund-zügen kennen zu lernen. Etwa 100 plastische Arbeiten und zahl-reiche Zeichnungen find vereinigt, darunter manches bekannte, inder Mehrzahl aber Sachen, die sich im Privatbesitz befinden unddaher der Oeffentlichkeit bisher nicht zugänglich waren. Wie auchsonst oft in solchen retrospektiven Ausstellungen, sehen wir auchhier mit Erstaunen, daß die berühmten Werke, denen der Künstlerseinen Namen verdankt, weder zum Besten noch zum Charaktc-riftischsten gehören, was er-geschaffen hat. Es sind das geradedie Arbeiten, in denen Schadow dem Geschmack seiner ZeitgenossenKonzessionen machte und darauf verzichtete, lediglich der Stimmedes eigenen künstlerischen Gewissens zu folgen. Zu dieser Gruppeschwächlicher Kompromißwerk« gehören die Reliefbilder römischerFahnenträger aus einem Saal des Berliner Schlosses, die alle-gorischen Statuen(.Die Hoffnung" u. a.). ein Teil der Denk-mäler(„Blücher" in Rostock) und meines Erachtens auch das viel-gepriesene Grabmal des jugendlichen Grafen vonder Mark(Dorotheenstädtische Kirche in Berlin). Das letzt-genannte pflegt noch heute als SchadowS Meisterwerk zu gelten.Man läßt sich durch die zweifellos virtuose und sehr effektvolleHauptfigur des schlafenden Knaben bestechen und empfindet nicht,wie wenig„monumental", wie kleinlich, rührselig, fade und gcnrc-Haft das Ganze in Auffassung und Ausführung ist. Die dreiParzen im oberen Halbrund konnte ein Eberlein nicht süßlichergemacht haben. Schadow lehnte sich in dieser wie in einzelnenanderen Arbeiten an die Antike an; er brachte gegen seine Ueber-zeugung dem herrschenden Klassizismus ein Opfer. M-an hat denEindruck, als wollte er den Gegnern zeigen, daß er auch nach derMode arbeiten könne. Aber er täuschte sich: er konnte es nicht.Die Vergewaltigung seiner angeborenen und durch llare theo-rctische Erwägungen gefestigten Künstlernatur mißlang ihm stets,so oft er sie auch versuchte. Der antikisierende Stil widerstrebteihm durchaus. Sobald er im Sinne der klassischen Vorbilder zustilisieren anfängt, wird er von allen guten Geistern verlassen.Man erkennt das am deutlichsten in seinen Denkmalentwürfen.wo die Hauptfigur in der Regel eine eigenartige, ruhige und kraft-volle Porträtstatue ist. während ans den Eockelreliefs die unge-heuerlichsten Mißgebilde antiken Stils ihre Orgien feiern.Aber alle diese gelegentlichen Verirrungen und Entgleisungendes Künstlers vergißt man, sobald man sich in die intimen Schön-hcitcn seiner Porträtbüsten vertieft, von denen die Aus-stcllung einige dreißig enthält. Diese äußerlich unscheinbaren,redlichen und sauberen Arbeiten wirken zunächst wie Abgüsse nachdem lebenden Modell. Alle zufälligen Details, jedes Fältchcn undjede Warze sind sorgfältig wiedergegeben. Man ist von der Pein-liehen und unbestechlichen Wahrheitsliebe des Künstlers von vorn-herein unbedingt überzeugt und glaubt ihm, ohne eidliche Be-kräftigung, daß er nichts verschwiegen und nichts hinzugesetzt hat.Und doch fehlen den Werken alle eigentlich realistischen Mätzchen,und doch sind sie nichts weniger als bloße exakte Mvmentauf»nahmen. Bei nähcrem Zusehen erkennt man. daß diese Köpfekeineswegs sklavisch der Natur nachgeformt wurden. Obwohl derKünstler den vollkommenen Eindruck des frischesten Lebens zuwahren wußte, hat er sich doch nicht ängstlich an daS Modell geklammert. Er hat vielmehr ziemlich stark„idealisiert", aber ftei-lich auf andere Art. als die damaligen Klaffizisten es zu tunpflegten. Er gestaltet, wie alle großen Porträtistcn, die äußereErscheinung des Individuums zum charakteristischen Spiegelbildedes Innern. Er prüft die Bildnismodelle auf Herz und Nierenund schreibt ihnen feinen Befund ins Antlitz. Er zeichnet rück-sichtSloS und unerbittlich alles auf, was er gesehen hat. Aber frei-lich: er sieht nicht alles. Aus seiner Goethebüste spricht fast nurdie feierlich steife Exzellenz, und sein Wieland könnte irgend einlebenslustiger alter Abbe sein. Den ganz Großen wird SchadowsBildniskunst nicht gerecht— darüber dürfen wir uns nichttäuschen. Um sg wunderbarer aber ist in der Wiedergabe derhausbackenen Alltäglichkeit, mag es sich um die breite Spießer-fratze des grobschlächtigen Friedrich Nicolai handeln oder um densüffisanten Aristokratenkopf der spitznäsigen Charlotte v. Hochberg,um den ausgemergelten Rasseschadel des Salomon Veit oder umdie fette Behäbigkeit der königlich preußischen Hofhure Gräfin vonLichtenau.' Was Schadow auf diesem Gebiete schafft, sind durch-weg Meisterwerke allerersten Ranges. M»t einem gewissen grim»migen Humor scheint er sich in die Psychologie d«S Berliner Philistertums vertieft zu haben, und mit unverkennbarer Schaden-freude verewigt er ihre charakteristischen Dokumente. Zwar gibter feiner Neigung zum Karikieren immer nur in sehr diskreterWeise nach, ober sie verläßt ihn niemals ganz. Namentlich dieForm und den Ausdruck des Mundes benutzt er als Mittel schärf-