Nachdem daS erste lähmende Entsetzen vorbei war. beeilten sichdie Sklavinnen, Dilistan in ihr Bett zu bringen. Der eilig her-beigerufene Arzt untersuchte die noch immer wie leblos Daliegendeund erklärte, daß es nuz ein Nervenanfall wäre, weiter nichtsals Hysterie.Dasselbe Lager, auf dem sie wenige Nächte vorher ihreseligsten Träume gesponnen, war nun Zeuge ihrer bitteren Tränenund Qualen. Während der drei Tage, die sie an ihr Bett fesselten,hatte sich Bechtsched Beh nicht ein einziges Mal nach ihr erkundigt.... Als sie nach weiteren drei Tagen mit schneeweißem Gesichtvnd großen traurigen Augen über die Korridore schlich, sagte siemit schwacher Stimme zu einer ihrer Gefährtinnen:„Ich fühlemich wieder ganz wohl. Alle Arbeiten zum Verlobungsfeste werdeich übernehmen... und am Hochzeitstage werde ich die jungeFrau bedienen..."Es war, als ob der in ihm tobende Sturm das junge Geschöpfaus seinem Traumzustande herausgerüttelt habe. Hoffnungen,heiße Wünsche, Liebe, Angst und Schrecken, Bechtsched Bey....alles war für Dilistan ein Reigen körperloser Schatten geworden,sie hatte nur noch Sinn für ihre Arbeit.Ach, diese Hysterie, dieser Feind des Willens, dieser Tyrann,der einem die Kraft raubt und das Blut aus den Adern saugt, hatteleichtes Spiel mit der armen Dilistan. Irgendein Gedanke, einWunsch, ein kleiner Schreck, ein heftiges Wort bot die Veranlassungzu einem Ohnmachtsanfall. Trotz alledem»hatte sie, ihrem Wortegetreu, sämtliche Arbeiten zum Feste übernommen, sie war einfachbewunderungswürdig in ihrer Entsagung. Mit todesblassemGesicht, mit starrem Lächeln auf den farblosen Lippen bemühte siesich, überall zu gleicher Zeit zu sein: wurde unten zugeschnitten,eilte sie herbei, um in fieberhafter Hast die Stoffe zu zerschneiden,rief man oben nach Kaffee, so kam sie allen anderen zuvor, umdann die Kaffeetäßchen aus den zitternden Händen fallen zu lassen.Wenn sie sich darauf, um auszuruhen, in irgendeine Ecke setzte,wurde sie von Lachkrämpfen befallen....Auf jeden Fall wollte sie mit zur Verlobungsfeierl An demMorgen erhob sie sich in aller Frühe. In der Hoffnung, ihreLeichenblässe damit etwas weniger auffallend zu machen, zog siesich ein rosa, hinten langgcschnittenes seidenes Gewand an undwartete im Hausflur auf ihre Herrinnen. Trotzdem diese cnt-schlössen gewesen waren, Dilistan nicht mitzunehmen, brachte diesees mit ihrer steinerweichenden Schönheit doch dahin, daß sie mit-gehen durfte. Obgleich sie nicht dazu verpflichtet war, legte sieüberall mit Hand an, und erst nachdem die feierliche Handlungvorüber und der Scherbet herumgereicht worden war, zog sie sichhinter das Gitter, das die Musik verbarg, zurück. Wie in denletzten Tagen ihre Nerven aufs höchste gespannt waren, so empfind-lich waren ihre Sinne für alle Eindrücke geworden. Das Klingenund Tönen der Saiten, die helle Stimme eines Tenors, die wieder Strahl eines Springbrunnens immer höher und höher wurde,alles stürmte mächtig auf Dilistans armes, gequältes Herz ein, undals gar diese ausdrucksvolle, mitleidlose Stimme das Lied begann:„Ungehört verhallt dein Todesschrei, o wundes Herz,Einsam vergehst in Asche du, in brennendem Schmerz—"da war sie mit ihrer Kraft zu Ende: mit heftigem Schluchzen brachsie zusammen. Damit die frohe Stimmung nicht getrübt werde,brachte man Dilistan schnell in einem Wagen nach Hause. Nacheinigen Tagen schien sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden zuhaben, sie konnte auch lachen, ohne daß ein besonderer Grund vor-handen war, nur klagte sie während des Lachens über Stiche in derBrust und im Rücken.Tage, Wochen, Monate vergingen, bis sie endlich einmal demihr stets aus dem Wege gehenden Bechtsched Bey begegnete; da siemit gesenktem Kopfe vorüberging, war es ihr nur so gewesen, alsob ein Schatten, aber ein furchteinflößcndcr Schatten an ihr vor-überglitt. Ein anderes Mal stand Bechtsched Bey in schwarzemBeinkleid und Gehrock auf dem düsteren Korridor, als Dilistanmit einer Gefährtin vorbeikam. Sie schien ihn nicht zu erkennen,denn furchtsam fragte sie, wer der schwarze Mann da wäre....Gegen Ende des Sommers, als durch die tiefsten Gründe derWälder die letzten Seufzer des sterbenden Lebens zogen, rauheWinde den Bäumen ihren letzten Schmuck entrissen und die Vögelscharenweise zum warmen Süden flohen, fühlte Dilistan eine großeSchwäche von ihrem von trockenem Husten geschüttelten KörperBesitz ergreifen. Tie den jungen Leuten und besonders denen vomStamme Dilistans so gefährliche tückische Krankheit machte rascheFortschritte in dem zarten Körper der jungen Sklavin. Das sichjeden Abend einstellende Fieber zehrte rastlos an ihr, jeden Morgenstand sie bläffer, kraftloser auf. Die schmaler gewordene Oberlippeihres kleinen Mundes ließ die weißen Zähne sehen, tvas den An-schein eines steten Lächelns erweckte. Das bleiche, dann und wannvon Tränen benetzte, von goldigen Locken umrahmte Gesicht er-innerte an einen stillen, von weißem Mondlicht besluteten, glhzinen-überhangen«« See. Das tiefe Blau der früher so lachenden, nunso traurigen Augen war Heller geworden—: das Bild einer vonHerl ftstürmen entblätterten Rose.Zu Beginn des Winters faßte Bechtsched Bah, um späterenKlatschereien zu entgehen und wohl auch um die Kosten der Hoch-zcitsfeicrlichkeitcn herauszuschlagen, den Entschluß, Dilistan zuverkaufen. Leider kam er zu spät— denn seiner früheren Ge-liebten fehlte die Hälfte ihrer Lunge.... die Hustenanfälle in derNacht wurden immer furchtbarer, so daß alle Hausbewohner, be-sonders Bechtsched Bey, in der Nachtruhe gestört wurde». Deshalbbrachte man Dilistan in den Seitenflügel, der wegen seiner Bcrchlifälligkeit und Feuchtigkeit unbenutzt lag. Selbstverständlich wavdie Folge hiervon, daß die Krankheit noch rapidere Fortschrittsmachte. u»Als Djewrefelek Kalfa sich träumenden Auges über dfe mibdem Todesengel den letzten vergeblichen Kampf auskämpfendeDilistan beugte, drang der Schall der Hochzcitsmusik und das frohöGelächter der Gäste klar und deutlich bis in das Sterbezimmcr.Klcuilcbewefen und Krankheiten/)Es ist ein langer mühsamer Weg, der hinaufführt zu denGipfeln der modernen Bakteriologie, der Lehre von den mikroskopischenKleinlebewesen: vom holländischen Naturforscher L e e u w en h o ek.der im Jahre 1g7ö als erster Bakterien in einem Tropfen Regenwasserbeobachtete, bis zu den planmäßigen Forschungen eines RobertKoch. Lange Zeit wurden die Bakterien zu den Tieren gerechnetund mit den Infusorien zusaminengeworfeir. In der Mitte desXIX. Jahrhunderts gewann nian schließlich die Ueberzeugung, daßdie Bakterien nicht zu den Tieren und nicht zu den Pflanzen ge»hören, sondern eine Klasse für sich darstellen und sden Pilzen ver-wandt seien. Dann kamen die grundlegenden Forschungen vonPasteur und Cohn. Pasteur war es gelungen, die verschiedenenGärungen(von Bier, Zucker usw.) auf Lebewesen, auf verschiedeneArten von Hefepilzen zurückzuführen. Dann» wies Pasteur nach,daß die Fäulnis durch verschiedene Bakterien-arten veranlaßt werde. Und schließlich sei noch seiner Ent«deckung gedacht, daß die Bakterien nur aus überall vorhandenenKeimen entstehen— nicht aus leblosem Material—, die mandurch Erhitzen abtöten kann.Auf Pasteurs Forschungen baute Li st er seine antiscptischcWundbehandlung aus: wenn Fäulnis auf Bakterienwirkung beruhe,so müsse man die Fäulnis am Lebenden, den Hospitalbrand, dieWundeiterung, die zu jener Zeit jeden operierten Patienten mit demTode bedrohte, durch Abtöten der Fäulnisbakterien bekämpfenkönnen. Lister wandte Karbolsäure zur Abtötung der Bakterien anund wurde der Begründer der Wundbehandlung, wie sie von derChirurgie mit so großem Erfolge heute geübt wird.Schon früher— in den dreißiger Jahren— wurde die Ent»deckung gemacht, daß eine epidemische sseuchenartige) Krankheitder Seidenraupen durch einen Pilz veranlaßt werde. Späterwurden im Blute von Tieren, die an Milzbrand gestorbenwaren, mikroskopisch kleine Stäbchen gefunden, die inaNfür Bazillen halten mußte, und man vermutete in ihnenden Erreger des Milzbrandes. Nachdem nun noch der berühmteBotaniker Cohn das ganze Gebiet der Bakterien zusammengefaßtund ein System der Bakterien aufgestellt hatte und damit de» Nach»weis geführt hatte, daß man auch unter den Bakterien mannigfacheArten unterscheiden müsse, mußte die alte Vorstellung von den be-lebten Erregern der verschiedenen Seuchen, die schon vor zweitausendJahren geahnt wurde, viel gewinnen. Aber ihre Anhänger hattennoch keinen einzigen unmittelbaren Beweis dafür erbracht,daß in einem bestimmten Falle ein mikroskopisches Klein»lebewesen als der Erreger einer Krankheit anzusehen sei. Und sokonnte noch in den siebziger Jahren B i I l r o t h, einer der bester,Aerztc und Gelehrten jener Zeit, gegen die Annahme von belebte»Krankheitserregern seine Stimme erheben: es gäbe gar keine ver»schicdenen Bakterienarten, es seien stets ein und dieselben Bakterien«arten, die man bei den verschiedenen Krankheiten in den Körper»geweben antreffe, die Bakterien seien nur zufällige Begleiter beiKrankheiten.Jedoch nur drei Jahre druerte es und Robert Koch wies 1876durch Tierversuche einwandsfrei die ursächliche Bedeutung deSBazillus für den Milzbrand nach. Es begann ein neues Zeitalterin der Bakteriologie. Die Entdeckungen überstürzten sich: es folgt»die Entdeckung des Bazillus**) der Lepra, der Tuberkulose, derLungenentzündung, der Cholera, des Typhus, der Tripper- undEiterkokken*), des Bazillus des Starrkrampfes, der Diphtherie unddes Kokkus der Genickstarre. Alle sind sie in den 80 er Jahren alsdie Erreger der betreffenden Krankheiten nachgewiesen worden. Inden 90 er Jahren kamen jJnfluenza, Pest und Dysenterie hinzu. I»unser Jahrhundert fällt die Entdeckung des SyPhiliS-Erregers.Mit der Erkenntnis, daß wir in den Bakterien die Erreger be»stimmter Krankheiten vor uns haben, war nicht nur den Anforde-rungen strenger wissenschaftlicher Forschung genügt: es war damitauch ein großer Anlauf zur wirksamen Bekämpfung verheerenderSeuchen getan. Man mußte sich jetzt die Lebensbedingungen dereinzelnen Bakterienarten vorhalten, um sie anzngreisen, sie unschäd«lich zu machen. Die„Desinfektion", die Abtötung von Bakterienund ihren Keimen, spielt von nun an eine ganz hervorragende Rolly*)Prof. Ernst Schwalbe: Kleinlebewesen undKrankheiten. Sechs volkswissenschastliche Vorträge über Balte«riologie und Hygiene. Mit 2 Karten und 07 Abbildungen im Text�.(Verlag von Gustav Fischer in Jena. 187 Seiten. Preis 1,80 M.)—) Bakterie heißt griechisch„Stäbchen", B a z i l l u s— dasselbe lateinisch, Kokkus— lateinisch Korn, Kügelchen. Diese Be»Nennungen entsprechen den Formen der verschiedenen Klein-lebewesen, wobei wir die Bazillen und Kolken als Bakterienzusammenfassen. Natürlich liegt darin ein Widerspruch, da ja„Bakterie" und„Kokkus" das Gegenteil von einander bedeuten.