„Sieh mal einer... sie ist richtig taubi" dachte derKramer.„Na— um so besser! Ein feines Mädchen!"Er unterzog ihren Körper, der weich und zart in dieschlanken Beine, die unter dem dünnen Rock deutlich zu sehenwaren, auslief, einer neuerlichen Prüfung.„Ich fragte: womit beliebten Sie sich zu zerstreuen?"„Ich? Mit nichts..." antwortete Oljenra ängstlich,während sie mit dem ganzen Körper empfand, daß sie vondiesen schamlosen kleinen Augen entkleidet und beleckt wurde.(Fortsetzung folgt-IZr)ev\yegk9 Merke.Ten Heinrich Heine die„eiserne Lerche" genannt, der, gleichFreiligrath, den schwülen Atem seiner Zeit in brausenden Sturmverwandelte: er bleibt dem proletarischen Volke, dem er ja selbstentstammte und dem er treu blieb bis zum Grabe, allezeit teuerund unvergessen. Und das Volk tut wohl daran; denn die Machtder gebundenen Rede auf die Gemüter kann kein noch so frostigerDenker und Politiker wegleugnen, wie überlegen er auch tue. Eineinziges Gedicht vermag mehr Zündstoff in die Masse zu werfen,weit gewaltigere Wunder zu wirken als noch so viele gelehrte Ab-Handlungen oder wohlgesetzte Reden zusammengenommen. Wir wärenwirklich arm zu nennen, wenn wir im proletarischen Klaneukampfeauf die anfeuernde Kraft des dichterischen Wortes verzichten wollten.Darum bildet aber auch die revolutionäre Lyrik unser Arsenal, ausdem wir in Kämpfen und Streiten die besten Waffen holen. Unddarum halten wir die Namen aller Poeten, die jemals ein un-erschrocken freies Wort gewagt, jemals gegen Despotie und Knecht-schaffeuheit ihr zornflammendeS Auathema geschleudert, in heiligenEhren.Am 7. April sind 3t Jahre seit dem Ableben Herweghs dahin-gegangen. Nun ist auch in der schnell bekannt gewordenen„Goldenen Klassiker-Bibliothek" des deutschenVerlagshauseS Bong u. Co., Berlin, eine Gesamtausgabe seinerWerke erschienen, deren gediegene Ausstattung mit einem billigenPreise wetteifert. Der alles in allem 69V Seiten umfassende Bandkostet geschmackvoll gebunden nur 2 M. Jetzt, meinen wir, ist derZeitpunkt gekommen, wo in jedes Arbeiters Bücherei auch HerweghsWerke ihren Ehrenplatz behaupten sollten. Diese Ausgabe empfiehltsich ferner dadurch, dag sie mit Ausbietung des ganzen literar-wissenschaftlichen Apparates(ausführliches Lebensbild, kritische Ein-leitungen der einzelnen Abteilungen, Literaturnachweise, An-merkungen, alphabetisches Verzeichnis usw.) besorgt wurde. Außer-dem ist ein Bildnis nebst einem faksimilierten Briefe des Dichtersdem Bande beigegeben. Es sind darin alle Gedichte aufgenommen,die Herwegh geschrieben hat.Seine Leyer, das läßt sich nunmehr klar erkennen, ist zeitlebensauf den politischen Ton gestimmt gewesen. Poesie der Liebefehlt fast gänzlich. Höher als sie stand ihm das Volk, die Mensch-heit. Selbst die Natur: Wald, Heide, Meer, Gebirge, spielt nureine nebensächliche Rolle, allenfalls verknüpft er sie mit dem all-gemeinen Symbol der Freiheit oder des Kampflebens. Aber schonum der wenigen reinen Klänge willen, die dem Herzen desDichters entströmt sind, müssen wir ihn lieben; denn sie sichernseinem Namen Unsterblichkeit. Ein ähnliches Schicksal läßt sich beieiner obwohl beschränkten Anzahl seiner politischen Kampf-gedichte stellen. Ihr künstlerischer Gehalt verspricht Dauer.Warum? Weil Herwegh doch ein Auserwählter unter denDichtern ist.Wer erinnert sich nicht an das Goethesche:„Politisch Lied, welchgarstig Lied I" Nun, das Zeitalter Goethes war nicht das ZeitalterHerweghs, Freiligraths und HeineS. Seit der Julirevolution, be-ginnt auch in Deutschland politisches Leben sich zu regen. DieLiteratur wird demokratisch.„Eigentlich ist jeder echte DichterDemokrat", sagt Herwegh sehr treffend. Jeder echte Dichtersteht aber auch in Opposition mit denr Staat. Manbraucht dabei nicht gleich an„offene Angriffe" oder an„gewalt-same Mittel" zu denken, hingegen„an die friedlicheOpposition des Herzens, dem ehernen Geist der Gesetzeund Staatsformen gegenüber". Die Verpflichtung dieserneueren Literatur, zum Unterschied von der klassischen, ist eineandere. Sie hat den Menschen in uns frei zu machen. Dannmuß sie freilich die Gegenwart begleiten. Dementsprechend ver«langt Herwegh vom Dichter, daß er politisch denke.„Tendenz-Poesie I" rufen alle Angstmeier und Rückwärtser verächtlich aus.Ja, was heißt Tendenz, wo doch alles„Ewige"— und das ist ent-schieden auch die Bestimmung des Menschen zur Freiheit— immer„Tendenz" ist. Daraus folgt allerdings nicht, daß nun auch jederDichter, der einen„politischen Glauben" hat, Zeitstoffe behandle;denn nicht das„Was", sondern das„W i e" entscheidet.„Der poli-tische Glaube entschuldigt einen ästhetischen Fehler nur halb". Soaber einer imstande ist. seinen Dichtungen„die glühende Färbungdes Moments zu geben, ohne darum der Schönheit irgendEintrag zu tun", mit anderen Worten, wenn er ein echterDichter ist, dann wird der Begriff.Tendenz"poesie bedeutungslos.«Das Volk der Hütte hat so gut seine Poesie als der Faulenzerim Palast, so gut seine geheimen Schmerzen und Freuden,als die Leute, welche sich zu den Gebildeten zählen". Es hat aberauch„für echte Poesie immer einen glücklichen Sinn; man versuchenur. ihm direkt gegenüber zu treten, sich direkt an die Massen zuwenden, im Volkslieds, im nationalen Drama. Es ist freilich auchder strengste Richter und wird sich nie von abgestandenen Ideen be-tören lassen, an welche die Menschheit den Glauben verloren hat".Herwegh sagt hierin zugleich, daß sowohl die soziale als diepolitische Poesie gerechtfertigt ist. Er selbst gibt ja beideGattungen. Sein„Bundcslied ftir den Allgemeinen deutschenArbeiterverein" mit der Kampfparole darin:Mann der Arbeit, aufgewacht lUnd erkenne deine Macht!Alle Räder stehen still,Wenn dein starker Arm es will.sowie die Gedichte von der„Kranken Life" und dem„ArmenJakob"„sichern Herwegh einen Platz unter den sozialen Lyrikerndes Jahrhunderts", bemerkt der Herausgeber, nein aller Zeiten,dürfen wir sagen.Die erst nach Herweghs Tode erschienenen„Neuen Gedichte",die den dritten Abschnitt des Sammelbandes darstellen, wollen diebürgerlichen Aestheten, auch deren nunmehriger Herausgeber, nichtmehr gelten lassen. Waruin? Weil hier die politische Betätigungder Dichtkunst„noch rücksichtsloser und siegesbewußter verkündetwird", weil der Dichter revolutionärem Republikanismns huldigt undweil er überwiegenderweise die Wandlung vom pathetischen Kampf--lyriker zum„thcrsiteischen" Satiriker in sich vollzogen habe.Soviel ist ja richtig: Herwegh machte keinerlei Entwickelung mehrdurch; er blieb der radikale Demokrat von 1843 und vermochteweder mit der neuen politischen noch sozialen Wendung der Dingesich abzufinden; dies um so weniger, als er im Ausland lebte,mithin gar nicht in die Lage kam, die vom Bürgertum sichlösende Bewegung des sozialistischen Proletariats ihrem innerenWesen nach zu begreifen. Psychologisch läßt sich die Ernüchterung,die sich nach dem kläglichen Scheitern der Revolution aller Demo-kraten, auch Herweghs, bemächtigte, sehr wohl rechtfertigen. Siewurde aber noch rascher herbeigeführt durch den völligen Umschwungder politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. An Stelleromantischer Tatcnträume trat die Politik der Tatsachen, diepraktische Arbeit. Eine neue Klasse rang sich vom siechen Körperdes Bürgertums empor: die Arbeiterklasse. Die Mission desideologischen Kampfdichters war erfüllt, seitdem er sich vor eineWelt realer Erscheinungen gestellt sah. Wollte oder konnte er nichtschweigen, so mußte er wohl oder übel zum konkreten Mittel derSatire greifen. Allerdings besaß er nickt jene Heinesche Ironie,die sich mit sieghafter lleberlegenheit zu entäußern vermochte: aberman wird nicht leugnen können, daß Herwegh doch einen sicherenInstinkt für Politik' besessen hat und daß er scharfe Beobachtungmit zumeist trefflicher Beurteilung aller Borgänge verbindet. Indieser Hinsicht find denn auch schon manche seiner kritische» Aufsätzeaus den Jahren 1839 und 1849, die den zweiten Teil des Bandesausmachen, höchst bemerkenswert, obgleich sie nur mehr oder wenigernoch ein historisches Interesse beanspruchen, wie seine satirischenRandglossen zur neueren Zeitgeschichte überhaupt. Doch wäre esungerecht, einen Teil dieser Gedichte als„Ausfluß einer politischenIdiosynkrasie und das nationale Empfinden verletzend" abtunzu wollen.Wieder posierte ja das grobpreußische Bürgertum in derBedientenrolle, die ihm noch aus vormärzlichcn Zeiten her so vor-trefflich zu Gesicht stand; nur daß es jetzt seine Jämmerlichkeithinter dem dreifarbigen ReichSzipfel verbergen konnte. Wer ver-möchte es Herwegh verübeln, wenn er seinerseits mit dieserSedanfestrummelnden„neudeutschen" Knechtsseligkeit nichts zuschaffen haben wollte! Im Gegenteil: es ehrt den Mann undDichter. Der Vorwurf: daß er von der geflissentlich mit der„deutschen Volksseele" verwechselten„Seele" des bourgeoisenHaufens— auf den ja selbst noch heute Herweghs satirischeStrafepisteln„überaus peinlich" wirken—„keinen Hauch mehr ver-spürte".Wahr ist, daß das Bürgertum den Dichter schon bei Lebzeitenverleugnete.Dagegen Haidas sozialistische Arbeiterproletariatseiner zu keiner Stunde vergessen I Beweis dessen ist das schöneDenkmal, welches ihm„Vaterlands lose Gesellen" aufdem Grabe zu Licstal in Bafelland errichtet haben! Warum— sofrage ich— verschweigt Hermann Tardel, der Herausgeber vonHerweghs Werken— diese für die richtige Einschätzung der modernenbürgerlichen Gesellschaft nicht ganz unwichtige Tatsache?Zwar hat er, was willig anerkannt sei, alles getan, um demLeser ein möglichst objektives Lebensbild des Dichters zu geben.Unsere Arbeiterschaft— die doch von vornherein als Käufer dieserGesamtausgabe in Betracht kommt— wird aber nicht umhin können,an einzelnen„Voreingenommenheiten" Tardels Anstoß zu nehmen.Es klingt doch ein wenig anmaßend, wenn da gesagt wird: Herweghsei„ans dem Milieu der unteren Volksklassen hervorgegangen undhat sich durch Anlage, Schule und Selbststudium diejenigenfähigkeiten erworben, die nötig find, um sich durch eigenesönnen in eine höhere soziale Gesellschaftsschicht empor-zuHeben". Anderenorts, wo die Entstehung des Herwcghschen„Bundesliedes" behandelt ist, konnte sichs der Herausgebernicht versagen zu bemerken, daß jetzt„in den Kreisen der Sozial-