Ein Dutzend kleine und große Schuljungen kamen auf dem Heimweg auf die Brücke, die die alte Stadt mit der Geschäfts« Pratze verbindet. Getrost gingen sie auf die Menschenmauer zu. Ms sie dicht herangekommen waren, rief plötzlich eine wilde und gurgelnde Stimme: Schlagt sie nieder! Schlagt sie nieder!" und die Mauer tvälzte sich vornüber. Es sah aus, als hätte sie gestanden, mit dem Gleichgewicht gekämpft und plötzlich den entscheidenden Stotz bekommen. (Fortsetzung folgt.) En der Mege der)VIark« Brandenburg an der Havel , diealte Chnr- und Hauptstadt", wie sie von ihren eingesessenen Bewohnern heute noch nicht ohne heimlichen Stolz genannt ivird, teilt mit anderen alten Städten der Mark das Los, nach einer bedeutsamen Vergangenheit nun schon lange im Schatten der neuen Reichshauptstadt zu stehen, die allen Glanz an sich gezogen hat. Wer heute Brandenburg vom Staatsbahnhof her betritt, fühlt sich zunächst ganz in eine Kleinstadt versetzt, und erst wenn man einige hundert Schritte weiter den Gleisen der auch echt kleinstädtisch anmutenden Pferdebahn ge- folgt ist, wird man durch die ausgedehnten Fabrikanlagen der Brennaborwerke daran erinnert, daß man sich in einer nicht unbedeutenden Industriestadt befindet. Besuchenswert ist aber Brandenburg von der landschaftlich zum Teil recht reizvollen Umgebung abgesehen heute doch hauptsächlich nur noch wegen seiner Baudenkmäler aus jener Zeit, wo die Spreestädte Berlin -Cölln noch respektvoll vor der älteren Schwester an der Havel zurücktraten. Zunächst wird freilich das Auge des Besuchers, wenn er der er- Wähnten Pferdebahnlinie weiter folgt, durch einige moderne Bauten angezogen, von denen ein bei der Annenbrücke dicht am Stadtkanal stehendes Wohnhaus, eine Schöpfung Schultze-Naumburgs, sich durch seine harmonische, der Lage prächtig angepaßte Architektur auszeichnet. Die von der Brücke bis zum Rathaus führende breite St. Annenstratze weiß neben meist älteren nüchternen Bürgerhäusern noch einige bemerkenswerte öffentliche Bauten iPost, Bankvercinshaus) auf, sowie verschiedene neuzeitliche Geschäfts« Häuser, zwischen denen das ehemalige Kurfür st enhaus, daS mit seinem reichverzierten Giebel einst gewiß recht.fürnehm" auf die umliegenden Bürgerhäuser herabgeschaut hat, nun zusammen- geduckt steht. DaS gegenüberstehende Rathaus selbst hat vielfache Um- und Anbauten erfahren, die seine ursprüngliche Gestalt kaum noch er« kennen lassen. Nur daS mächtige steilansteigende Dach, zu dem der nachträglich angebrachte Turm, ein sog..Dachreiter", nicht recht paßt, und die breitausladenden Giebel der Ostfront geben noch eine Vorstellung der einstigen charaktervollen Bauart deS Gebäudes, desien Vorderseite übrigens zuerst dort gewesen sein soll, wo jetzt sich die Rückfront befindet. Der gotische Backsteingiebel, der dort über daS Dächergewirr der den ehemaligen Rathaushof bedeckenden Bürger» Häuser emporragt, gibt noch Kunde von den Schildbürgerstreichen, über die noch der alte Z r e g l e r, Brandenburgs demokratischer Oberbürgermeister in der völkermärzlichen Zeit, die Schale seines Zornes ausgoß. Unangetastet aber steht seit Jahrhunderten vor dem Rathause der massige, mit primitiver Kunst aus Stein gehauene Roland, dessen Nachbild jetzt auch den Eingang zum Markischen Museum in Berlin hütet. Er gilt als Wahrzeichen der eigenen Gerichtsbarkeit, die Brandenburg bereits 1324 in seinem weitberühmten Schöppen- stuhl verliehen ward mit der Maßgabe, daß hier.alle Städte der Mark als in oberster Stätte Recht mchen sollten." Vom anderen Ende der Steinstraße, die hier am Rathaus ihren Anfang nimmt, grüßt ein nicht minder ehrwürdiger Zeuge des Mittelalters herauf: der Steintorturm, einer jener dicken, runden Burschen, wie fie dem Wanderer in der Mark häufig in alten Städten begegnen, wenn auch nicht immer in so gut konservierter Saltung wie dieser hier. DaS Weichbild der Stadt, zu besten chutze er einst errichtet ward, ist jetzt weit hinauSgerückt, und der Turm dient nun als Altertumsmuseum. Von Fremden wenig und von Einheimischen noch seltener besucht, pflegt sich um die Sonntags- Mittagszeit, wenn seine Pforte geöffnet ist, die Brandenburger Schuljugend bei dem altersgrauen blinden Turme zum Besuche ein» zufinden, denn seine dunklen Stiegen und Gänge bieten die schönsten Schlupfwinkel. In den kreisrunden Ge- mächern der oberen Stockwerke hat der Historische Verein Brandenburgs mit seinen Lktenbündeln und Schweinsleder- bänden sein Domizil aufgeschlagen, und in den Nischen ringsherum wimmelt eS in dieiem Eulennest historischer Gelehrsamkeit von mehr oder minder intereffanten, auch kunstgewerblichen Altertümern. Von der Zinne des TurmS bietet sich eine hübsche Rundstcht auf die Stadt dar. An den Steintorturm stoßen noch Reste der alten Stadtmauer , die gleichfalls pietätvoll erhalten werden. Die Stadt selbst hat sich, wie schon erwähnt, über diese Grenze bettächtlich hinauSgedehnt, und bei der Fortführung der in dieser Richtung verlaufenden Jakob« stratze stieß man auf ein weiteres Stück Mittelalter: die kleine St. Jakobs-Kapelle. Als Verkehrshindernis hätte sie eigent- lich verschwinden müffen, wenn man fie nicht liebevoll einige Schritte beiseite gerückt hätte. Da steht fie nun behutsam aufbewahrt in ihrer Ecke, wo sie die moderne Welt nicht mehr stört, und eine Ja« schrift kündet den klugen Streich, den man mit ihr vollführt. Kehren«vir nun zum Rathaus zurück und schlagen wir dabei den an der alten Stadtmauer entlang führenden Weg durch die Grabenpromenade ein. die den früheren schlammgefüllten Stadt- graben in üppig grünende Rasen- und Blumenflächen verwandelt hat, so kommen wir an einem der schönsten Baudenkmäler der Mark, der prächtigen St. Katharinenkirche, vorüber. Sie steht ziemlich versteckt an einem mit hoben alten Bäumen bestandenen Platze. Der erst später als Ersatz für seinen eingestürzten Vorgänger angebaute Turm stört mit seiner plumpen Gestalt etwas den har« manischen Eindruck, den das herrliche Bauwerk sonst durch seine reichverzierten Fassaden macht, die wahre Meisterwerke der Backstein» gotik darstellen. Auch das Innere der Kirche ist sehenswert. Um zu jenem Teile Brandenburgs zu gelangen, der als ältester gilt und daher auch als die eigentliche Wiege der Mark bezeichnet werden kann, gehen wir nun am Rathaus vorbei, über den Molken« markt, wieder au einem altertümlichen Torturm vorüber und kommen über den Mühlendamm nach Dom-Brandenburg , dai heute noch einen besonderen Gemeindcbezirk fiir sich bildet. Die beiden Dämme, die jetzt die Stadt mit der Dominsel verbinden, find Menschenwerk: einst flutete hier die Havel , deren Gewässer nun in daS Joch von Mühlenrädern gebeugt find, frei um das Stück Land, von dem die Mark ihren Namen trägt. Denn bicr stand die Brennaburg, das wendische Brennabor, um dessen Besitz vor tausend Jahren Deutsche und Wenden fanatische Kämpfe geführt haben, bis das wechselvolle Kriegsglück die Deutschen dauernd zu Siegern machte. Wer heute den von einem Hauche mittelalterlicher Romantik umwehten Platz betritt, spürt nichts mehr von Er« inneruugen an blutige Schlachten. So still und friedsam ist eS hier, daß kaum der Lärm der nahen Fabrikstadt in diesem Stück traumversunkener Poesie hereintönt. Eine grünumsponncne Mauer umschließt den eigentlichen Dombezirk, in dem die ehemalige Dom- dekanei(jetzt Generalswohnung), die Ritterakademie und die Dom- kirche sich befinden. So unansehnlich die letztere von außen scheint, so sehr überrascht ihr Inneres durch Reichtum an kunstgeschichtlichen Altertümern. Ein kundiger Küster besorgt die Führung. In der Mitte des Hauptschiffes führen einige zwanzig Stufen zu dem Altar« räum hinan, in dem sich die mit heraldischen Schmuck überreich ge« zierten Stühle der zwölf Donihcrrcn befinden, zu denen bekanntlich auch Fürst Bülow gehört. Alljährlich zu Michaelis findet hier eine Zusammenkunft dieser pfründengesegncten Würden« träger statt, wobei auch eine Sitzung unter dem ganz mittelalterlich anmutenden Gewölbe derbunten Kapelle' abgehalten wird. Hier wie in der Krypta wird das Deckengewölbe von Säulen mit künstlerisch gemeißelten Kapitälen getragen, die symbolisch auf den Schwancnorden, den einstigen Verweser des Stifts, hindeuten. Unter den zahlreichen Reliquien aus katholischer Zeit, die in dem Dome aufbewahrt werden, befindet sich ein Modell der Marienkirche. von der noch au anderer Stelle gesprochen werden soll. ErwähnenS- wert ist schließlich noch ein kleiner Architektensch crz, der sich am Domportal befindet. ES ist die in Stein gemeißelte Fabel vom Fuchs, der den Gänsen predigt, um sie am Ende zu erwürgen, womit offenbar die Rolle der Geistlichkeit im Mittelalter satirisch behandelt ist. Beinahe wäre der Brandenburger Dom übrigens noch in neuerer Zeit einmal zum politischei, Schau« Platz geworden, wenn die aus dem rebellischen Berlin verjagte preutzische Nationalversammlung, die hier vom 27. November bis 5. De » zember 1848 ihre Sitzungen abhielt, einer Aktion überhaupt fähig gewesen wäre. Vom Dom führt der Grillendamm hinüber nach Altstadt» Brandenburg , in welcher als altertümliche Bauwerke das NichthauS und die St. Gotthardskirche hervorragen. Auch zwei alten Tor» türmen begegnen wir hier noch. Zwischen beiden zieht sich die Wall» Promenade hin, deren Mittelweg auf dem ehemaligen Stadtwall hinführt, während die beiden Seitenwege, von uralten Bäumen be» schattet, den früheren Wallgräben folgen. Vom Ende der Promenade führt, amVolksgarten"(dem Versammlungslokal der Brandenburger Parteigenossen) vorbei, ein Weg zur.Bismarck» höhe", wie dieser Teil des alten Harlunger- oder Marien» bergeS nun getauft ist, hinan. Zur Zeit der Wendenherrschast hat da oben'das Triglafheiligtum gestanden, später, im katholischen Mittelalter, entstand die Marienkirche, deren Modell noch im Dom aufbewahrt ist, von der selbst aber kein Stein mehr auf dem ehemaligen Standort sich befindet. Dieses Münster muß eine Pracht» volle Zierde des Berges gewesen sein, nicht nur wegen der weithin fichtbaren Lage, sondern auch weil der Bau selbst ein architektonisches Meisterstück war;«ein seltsamer Uebergang von spätromanischem Rundbogenstil zu stüher Gotik, wie er sich nach dem erhaltenen Modell noch leicht vorstellen läßt. Die Geschichte des Verfalls diefeS Bauwerks ist ein drastischer Beleg für den bekanntenKunst» sinn", den die Hohenzollern in der Mark allezeit bewiesen haben sollen. Die Marienkirche war nämlich trotz der baulichen Verwahrlosung, in die sie nach der Reformation geriet, noch bis ins 13. Jahrhundert hinein so gut erhalten, daß sie wahrscheinlich bis heute den Unbilden der Zeit getrotzt hätte und mindestens eine fchöne Ruine geblieben wäre, wenn nicht der preußische Soldaten- könig Bausteine für einen Potsdamer Garnisonbau gebraucht hätte, wofür ihm die Brandenburger Marienkirche als Steinbruch gerade gut genug erschien. So wurde das unersetzliche Bauwerk ab- gebrochen, das Baumaterial fortgeschleppt und die verödete Höhe