Auch die drei Männer dereinigte angesichts CorJmdetS ein PSatserhaltender Instinkt; fie sprachen über Geldfragen in einem gewiffen Ton der Geringschätzung für die Armen. Graf Hubert berichtete über die Schäden, die er von den Preußen erlitten hatte, von den Verlusten an gestohlenem Vieh und verlorenen Ernten, mit dem Selbstbewußtsein eines großen Herrn und zehnfachen Millionärs, den diese Verwüstungen kaum ein Jahr belasten. Herr Carrv-Lamadon, der in Baumwolle stark mitgenommen war, hatte vorsorglich sechshundertausend Franks nach England geschickt, einen Notgroschen für alle Fälle. Loiseau hingegen hatte es fertig ge- bracht, an die franzosische Heeresverwaltung all die ordinären Weine zu verkaufen, die ihm im Keller geblieben waren, so daß der Staat ihm eine gewaltige Summe schuldete, die er, wie er sicher erwartete, in Havre einkassieren würde. Alle drei wechselten rasche und vertraute Blicke. Trotz ihrer verschiedenen Lage fühlten fie sich Brüder dnrch das Geld, Glieder der großen Freimaurerloge der Befitzenden, denen es von Gold klingt, wenn fie die Hand in die Hosentasche stecken. Der Wagen fuhr so langsam, daß man um zehn Uhr morgens noch keine vier Meilen hinter sich hatte. Die Männer stiegen drei- mal aus, um bergan zu Fuß zu geben. Man begann unruhig zu werden, denn man sollte in Totes Mittag essen und vor Einbruch der Nacht konnte man schwerlich eintreffen. Alles hielt Ausschau nach einem Wirtshaus an der Straße, als auf einmal die Kutsche in einer Schneewehe versank; man brauchte zwei Stunden, um sie herauszuholen,, X Fortsetzung folgLJ] Hus dem Tagebuch eines pariser Lumpenproletamrs. Unier dem seltsamen TitelsEine Hand im Genick" ist kürzlich in dem Pariser Verlag von Tassel ein Buch erschienen, das es ver- dient, aus den unzähligen Neuerscheinungen herausgegriffen zu werden. Um der achtzig Seiten willen, die darin als.Tagebuch eines Paria" stehen. Pierre Mille , der imTcmps" zuerst darauf aufmerksam machte, bemerkte mit Recht, daß man diesen achtzig Seiten lobend nachsagen könne, daß sie nicht den Stempel der Literatur trügen. Hätte Gorki als Verfasser gezeichnet, so würde alle Welt schon davon sprechen. Ein ähnliches Buch gäbe es in der französischen Literatur noch nicht. Milles Urteil ist nicht über- trieben. Dieses Tagebuch, dessen Aufzeichnungen uns nie vergessen lassen, daß sich alles in der Lichtstad? Paris abspielt, gehört zu dem Erschütterndsten, was zu dem Kapitel Großstadtelend beige-' steuert wurde. Aber es ist mehr als nurGroßstadtelend", was darin seinen plastischen Ausdruck findet es ist das Elend der ganzrn Welt, wie es heute zu den selbstverständlichen Erscheinungen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung gehört. Dieses Elend, das sich da zusammenfindet, stammt nicht nur aus Paris , sondern aus allen Erdteilen. Und wenn auch die darin vorkommenden Menschen zum größten Teil nicht mehr fähig find zu arbeiten, trotzdem sie rwch derHLIhuZmüßig jung sind, ja, die den Willen zur Arbeit gar nicht mehr in sich fühlen, wenn es auch echte Lumpenproletarier sind, die sich scheinbar mit dem Geschick und selbst mit der herrschenden Gesellschaft ausgesöhnt haben(wie Pierre Mille zu seinem eigenen Trost anzunehmen geneigt ist), nur weil fie von ihrer Mitmensch- heit nicht zur Arbeit gezwungen werden: aus hunderttausend Ein- zelheiten geht trotzdem hervor, daß fie Opfer der Zufälle wurden, die aus den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse» heraus- wachse», weil diese Gesellschaft die Sonderlichkeiten ihres Wesens damit quittierte, daß fie fie in das vertierendste Elend stieß. Das Tagebuch wurde von einem Provinzjournalisten nieder- geschrieben, der seine Stellung verlor und infolgedessen nach Paris verschlagen wurde. Seine Geldmittel erschöpfen sich sehr rasch und seine Empfehlungsbriefe nützen ihm nichts. Unglücklicherweise gehört er zu den Menschen, die in ihrer Energielosigkeit sich vor jeder Entscheidung fürchten und ganz unfähig sind, im Kampf auS- zuHarren. Ein kleiner Fall genügt bei ihnen, um ihren unvcrmeid- liehen Untergang herbeizuführen, kraft der edlen Struktur unserer heutigen Klassengesellschaft, in der sich nur die Rücksichtslosen. Hartknochigen und vom Zufall Begünstigten auf den höheren Sprossen der sozialen Leiter halten können, während die Schwächeren wie überflüsfiger Ballast zum Schutt abgestoßen werden. Der Paria, der in dem Tagebuch seine Geschichte erzählt, erhält an dem Tag den entscheidenden Stoß, an dem er seinen besseren Anzug verliert. Er schreibt:.Eine traurige Neber- raschung harrte meiner, als ich ins Hotel zurückkehrte. Ich hatte aus all meinen alten Kleidungsstücken ein Paket gemacht, das der Gareon, als ich wegging, in ein feuchtes Schuttloch warf. Jetzt war es nur noch ein Haufen Schimmel . Eine Jacke und eine Hose, die fast neu waren, ein Rock, ein dickes Trikot, eine Weste, Flanells, drei schöne Hemden und zwei Dutzend Taschentücher, einfach meine ganze Garderobe, verfault, endgültig verloren. Der Gareon brach in ein dummes und grausames Lachen aus, als er diesem Aus- packen beiwohnte.... Soll ich es gestehen? Ich weiß nicht, ob mich der Perlust, den ich soeben erlitten hatte, oder die Bosheit dieses Menschen schmerzlicher berührte, der so frei von allen Ge- Wissensbissen war. Es schien mir. als ob mein Schmerz gemikderi worden wäre, wenn ihn der Anblick meines Leidens bewegt, wenn er etwas Mitleid gefühlt hätte.... Ich habe keine Wäsche, nichts Sauberes mehr. Ich wage das Bild, da? ich in de« Schaufenstern von mir sehe, nicht anzublicken.... Ich sehe aus wie ein Bettler. Jedesmal, wenn ich wieder zu jemandem gehe, fühle ich mich zuerst! verpflichtet, die Gründe für die Aermlichkeit meines Aussehens zw erklären.... Und die Einzelheiten, die ich geben muß, erscheinen denen, die mir zuhören, so verlegen und lang, daß ich unweigerlich unterbrochen und höflichst abgewiesen werde, ehe ich meine Erzählung beendigt habe." Danach geht es schnell abwärts mit ihm. Zuerst ist er gezwungen, die Wohnung zu wechseln. Als er in Paris ankam, wohnte er anfänglich i« einemangehenden" Hotel in der Rue de Bertbois. Ein Schreiner gibt ihm den Rat, sich in einem Hotel meublee in der Rue de Seine einzumieten, das sich� durch feine mäßigen Preise auszeichnet und ganz respektable" Personen, wie er sich ausdrückt, beherbergt. Da ist Madame Grondin, eine feine alte Dame, die eins Nackenhaube trägt; aber man sieht auch einen Neger, der sich den Unterhalt seines Lebens damit verdient, daß er auf dei, Terrassen vtit_ den Cafes Niggermelodien zum Banjo singt Ein BKhine, der für zwanzig Sous pro Stunde in öffentlichen Biblio- theken einem sucht, was mau braucht. Und da ist endlich noch ein be-> moofteS Haupt aus der medizinischen Fakultät, das sich wie ein« Apotheker in der alten Komödie anzieht. Ter Exstudent lebt mit einer großen mageren� Frau zusammen, die sich Apolline nennt und ein Typiis_ außergewöhnlicher Resignation ist. Sie sagt:Man! muß sich mit wenig zu begnügen wissen, was brauchen wir?" Dann bricht fie in ein Lachen aus. Wer weiß, wie lange der Paria in der Rue de Seine geblieben wäre, wenn man ihm seine Stiefel nicht gestohlen hätte. Darüber erzählte er:Ich wollte Gras säen heute. Ich ging also nach der Umwallung auf der Seite von Paffy und legte mich aus die Böschung. Da meine Füße vom Lausen geschwollen waren. zog ich meine Schuhe aus. Bald schlief ich unter dem Druck den Hitze ein. Als ich ertv achte, sah ich zu meinem Schrecken, daß meine Schuhe verschwunden waren.... Eine alte Frau, die sich mit ihrer Geis zankte, sagte mir, als fie meine Strümpfe sah: »Ich sehe wohl, was Ihr sucht, mein Herr. Zwei Männer find! soeben vorübergegangen. Der größere hielt ein paar Stiefel inl der Hand. Sie hatten üble Gesichter. Vielleicht erwischen Sig sie noch,- armer Herr. Ich rannte wie ein Wahnsinniger in de« bezeichneten Richtung davon. Trotz meiner Verzweiflung kannta ich es aber nicht verhindern, daß ich die entsetzlichen Beschwerden! fühlte, die es mir macht«, so zu laufen und ich stellte nicht ohne! ein gewisses Eitelkeitsgefühl fest, wie zart und wenig abgehärtet meine Füße noch waren, trotz der jammervollen Umstände meines! Daseins. Kultur fuße, dachte ich. In demselben Augenblick er-, blickte ich meine Diebe, und wandte mich cm den, der die Benta trug: Nun," sagte ich zu ihm,wo gehst Du mit meinen Schuhe» hin? Er trat auf nach zu. Ich sah voraus, daß der Streit ungleich sein würde und murmelte in einem versöhnlichen Ton:Geh doch, gib mir, was mir gehört. Und ich laß Euch alle beide gehen. Siehst Du denn nicht, daß ich ein armer Teufel bin?" Ich hatte kam» zu Ende geredet, als ich zwischen die Augen einen schmerzhaften, plötzlichen Stoß erhielt und bewußtlos zu Boden sank. Als ich' wieder zu mir kam, griff ich mit der Hand nach meiner blutige» Stirn. Der Kerl hatte mit mit dem Absatz meines Schuhes eine» fürchterlichen Hieb versetzt. Was sollte ich machen? Ich befand! mich in einer lächerlichen Lage. Ich sollte in meinen Strümpfe» über die Avenue gehen, durch die eben die Spritzwagen fuhren und nachher in dem glühenden Staub marschieren. Meine FüßS brannten. Ich konnte mich endlich in einen verlassenen Square! flüchten, wo ich die Nacht abwartete, um mein Logis aufzusuchen.' Er hat den letzten Halt verloren. Und er gibt sich allem, was! kommt, jetzt widerstandslos preis. Er scheint fast eine gewisse Wollust bei seinem Abstieg zu empfinden. Seine Bedürfnisse sind! auf das Mindestmaß herabgefchraubt. Er braucht fast gar nichts. Nachts hilft er oft in den Gemüsehallen. Manchmal geht er auch! zu einem Maler, wofür er fünf Franken pro Dag erhält. Nebenbei? bettelt er ein wenig und eines Tages darf er einem.Kollegen", einem Journalisten, die Bibliothek rangieren: für einen Franke» und ein Glas Wein. Er wohnt jetzt in der Rue Brife-Miche. Zwölf Betten giebt eS da, und die Kameraden findfast alle brave Kerls". Rudellc, der ehemals Notar war und jetzt Notizdüchlein verkaust aber sich eine reizende Art erhalten hat. Deoir, der sich Ingenieur nennt und behauptet, in der Redaktion desEdenement"-' gesessen zu haben. Ein MaZtre d'höteh der stellungslos ist; ei» Entgleister", der sein Leben auf Messen fristete, aber mit dreißig Jahren nicht mehr kann, da er ein Gceis ist, und da ist vor allen» Papa Sollet. Papa Collet verteilt aus der Straße Prospekte füll einen Optiker. Er zeichnet sich durch seine fabelhafte Sauberkeit! aus und einen überlangen Nagel am kleinen Finger, den er mib außergewöhnlicher Liebe pflegt. Er braucht jeden Morgen� eine Stunde für seine Toi'etie. Er wichst seine Schuhe bis zur Sohle, ins Zahnfleisch setzt er einen falschen Zahn, den er selbst aus einen, Kuachehheu schnitzte, er rasiert sich vor einem Glassplitter, schmiert sich die Haare mit einer Art von ihm selbst zubereiteten Ochsen, fett ein und geht weg, strahlend und geputzt.... Unser Paria hat die Kraft schon verloren, auf sein Aeußeres so diel Wert z» legen. Zuweilen gibt es flpcherhabene Momente". So zum