Anlerhaltungsblatt des Horwärts Nr. 161. Freitag, den 20. August. 1909 1........e 1 1............. a» .(Nachdruck VerVoten.) e] Der Vorzugsrchüler» Von Marie v. Ebner-Eschenbach . Primus der Sohn des Schlossers. Pfanner hatte Plötz- lich einen gallbitteren Geschmack im Munde, und das Essen Widerstand ihm. Sein Georg war nur in der ersten Klasse Primus gewesen, in der zweiten zweiter Vorzugsschüler, und nun in der dritten konnte ers allem Anschein nach gar nur zum Vierten, dem letzten Vorzugsschüler, bringen. Er hatte ein Genügend" gehabt in Griechisch und einBefriedigend" in Geometrie. Wohin kam er, wenn er es von nun an nicht zu lauter Vorzugsklassen brächte? Wohin überhaupt, wenn er in seinen Leistungen von Jahr zu Jahr zurückblieb? Pfanner sah alles schon verloren, alle Mühe umsonst angewendet, alle Opfer umsonst gebracht. Der Sohn würde am Ende auch nichts anderes werden als der Vater, ein armseliger, kleiner Beamter. Dieser Sohn, dem alle Hilfsmittel geboten waren, der nur die Hand nach ihnen auszustrecken brauchte. Aber es ging ihm zu gut, der Hafer stach ihn, und er überließ sich seinem Leichtsinn und seiner Faulheit. Von Erbitterung er- füllt, mit dem Vorsatz, die Zügel schärfer anzuziehen, war Pfanner nach Hause gekommen. Da fand er seine Frau müßig im Zimmer sitzend und dem Vogelgesang lauschen, den sein großer Bub, im Alkoven versteckt, nachahmte. Schämst Dich nicht?" fuhr er ihn an, als Georg auf seinen Befehl hervortrat.Hast Ehr im Leib oder keine? Was trägst da in der Hand? Aufmachen die Hand!" Der Knabe gehorchte. Der Gedanke, eine Entschuldigung vorzubringen, kam ihm gar nicht. Pfanner erfuhr alles, und sein Unwillen, seine Entrüstung kannten keine Grenzen. Dieser Bub! Wirklich ein ungeratener Sohn. Spielt da, der bald Vierzehnjährige, mit einer Lockpfeife, oder was das ist. Spielt bei Tag und Nacht, ja, ja er besann sich jetzt hat noch die Eltern zum Narren gehalten. Wenn er abends lernen soll, fallen ihm die Augen zu, spielen kann er bis in die Nacht. Aber wart nur... Her mit dem Quark!" Ein fruchtloser Widerstand des Schwächeren, ein rascher Sieg des Stärkeren, ein Armschwung... Das Fenster stand offen die Nachtigall flog hinaus. Frau Agnes zuckte zusammen. Georg stand mit weit auf- gerissenen Augen: Vater, meine einzige Freud!" schrie er auf, und galt es es nun, was es mochte, die härtesten Worte, die grausamsten Schläge, er mußte weinen um seineeinzige Freud", weinen, schluchzen, sich auf den Boden werfen und sich winden in Trost- losigkeit und Verzweiflung. Daß der Vater tobte und schrie, hörte er nicht, daß der Vater einen Knoten ins Taschentuch flocht, sah er nicht, daß Hieb auf Hieb auf ihn niedersauste, fühlte er nicht. Er wußte und fühlte nur, daß er ein armes Kind war, dem immer das weggenommen wurde, woran sein Herz ihm hing. Aufstehen! Still! Augenblicklich still!" wetterte Pfanner und hatte nicht das geringste Mitleid mit dem Kinde, das sich endlich vom Boden erhob und heftige Anstrengungen machte, sein Schluchzen zu unterdrücken. Vielmehr forderte sein Zorn noch ein Haupt, sich darüber zu ergießen. Wer trug Schuld an dem frevelhaften Leichtsinn des Buben, wer unter- stützte ihn noch darin? Die Mutter, die verbrecherisch schwache. törichte Mutter! Wenn aus dem Buben nichts wird, wenn er heranwächst zu einer Last und sogar Schande der Eltern Müßiggang ist aller Laster Anfang wenn er elend unter­geht, fällt die Verantwortung dafür auf ihr Gewissen, und sie wird einst zur Rechenschaft gezogen werden. Pfanncr verstand es, seine Umgebung stumm zu machen. Es kam kein Laut über die Lippen seiner Frau. Bis zu einem gewissen Grade hatte sie sich im Laufe ihrer Ehe an sein maß- ioses Uebertreiben gewöhnt, und jetzt freute sie sich gar, daß seine Vorwürfe s i e trafen. So diente sie ihrem Jungen eine Zeitlang wenigstens als Schild. Der Mann schrie und tobte, und dabei zog er den Rock und die Weste aus und legte sie sorgfältig auf einen Sessel. Sogar in der Wut gegen seine nächsten Menschen verfuhr er schonend mit seinen Sachen. Nun entstand eine Pause, aber nur als Vorbereitung zu einem neuen Schrecknis, zu der Frage: Sind die Aufgaben gemacht?" Ich werd sie morgen machen," erwiderte Georg bang und zögernd.Morgen ist Sonntag..." Ja so. Bring die Aufgaben!" Pfanner sah sie durch. Eine Fabel aus Deutsch in Latein übersetzen. Griechische Grammatik zu lernen: Unregelmäßigkeit der Deklination. Geometrie: Drei Aufgaben. Geschichte: Wiederholung, von den Kreuzzügcn bis zu Rudolf von Habsburg . Und von alle- dem nichts gemacht? Nichts? Das alles soll morgen bewäl- tigt werden?" Er dekretierte:Geschichte heute noch wieder- holen, aufmerksam durchlesen. Wenn man am Abend etwas aufmerksam durchliest, weiß man es am nächsten Morgen wörtlich." Es sind sechsundzwanzig Seiten," wagte Georg einzu- wenden. Zweiundzwanzig, vier Seiten nehmen die Illustrationen ein." Er legte das Buch vor ihn hin:Setz Dich, lern!" Der Knabe tat, wie ihm geheißen worden. Gut also, gut, so setzt er sich denn hin und lernt. Daß er müd und schläfrig ist, was liegt daran, ihm ist alles recht, er lernt. Wenn er sich nur zu Tode lernen könnte, das wäre ihm das allerliebste. Wenn er tot wäre, hätte er Ruhe, und seine Mutter hätte Ruhe, brauchte sich seinetwegen nicht beschimpfen lassen. So begann er denn zu lesen:Schon in den ersten Jahrhunderten trieben Andacht und Glaubensinnigkeit die Christen zu den heiligen Stätten..." * An schönen Sonntagnachmittagen unternahm Pfanner regelmäßig einen Spaziergang, und Georg durfte ihn be- gleiten. Ein Vergnügen, auf das die Mutter längst frei- willig verzichtet hatte, und von dem das Kind trauriger heimkehrte, als es ausgewandert war. Mit dem Vater spa- zieren gehen bedeutete, an jeder Unterhaltung, jedem Genuß vorüber gehen. Dort drüben, im lustigen Prater, wurde nach der Scheibe geschossen, im Luftschiff, im mechanischen Ringelspiel gefahren, da gab's Theateraufführungen, Wachsfigurenkabinetts, eine Damenkapelle, Zigeunermusik. Und ein Aquarium und ein Panorama und so vieles schöne noch, von dem Georgs Mitschüler zu erzählen wußten. Wenn er eine Anspielung wagte, eine Fragte stellte:Warst Du schon einmal im Wurstelprater? Hast Du schon einmal die Zigeuner spielen gehört?", antwortete der Vater voll Ver- achtung: Was man im Wurstelprater zu sehen und zu hören bekäme, sei nur elendes Zeug, an dem nur ungebildete und rohe Menschen sich zu ergötzen vermöchten. Im Bogen wich er allem aus. was seine eigene Neugier hätte reizen können oder gar ihn selbst in Versuchung bringen, sich einen guten Tag zu machen. Einmal in einem Jahr, nein ein­mal in vielen Jahren. Er wollte nicht! Wollte nicht ein paar Gulden unnötig ausgeben, die ins Sparkassenbuch des Kindes gelegt werden könnten. Als sie nach Hause kamen, erwartete sie ein gutes, kräf- tiges Abendessen. Weil heute Sonntag ist," entschuldigte sich Agnes, da Pfanner ihr neuerdings Verschwendung vorwarf. Es war ein Verdacht in ihm rege geworden, den er nicht aussprach, der ihn aber quälte, und der entweder getilgt oder gerechtfertigt werden mußte. Kürzlich hatte er sich um Lebensmittelpreise erkundigt, hatte gerechnet und heraus- gebracht, daß die Ausgaben, die sich seine Frau fortgesetzt erlaubte, unmöglich mit dem ihr zur Verfügung gestellten Küchengelde bestritten werden konnten. Erarbeitet wollte sie den Ueberschuß haben? Lächerlich! Er, der Sohn einer armen Näherin, wußte, was seine Mutter verdient hatte mit täglich zwölfstündiger emsiger Arbeit. Ihm ins Gesicht sollte seine Frau, die ihren Haushalt ohne jegliche Unter- stützung bestellte, nicht behaupten, daß sie imstande sei, sich eine regelmäßige Einnahme zu verschaffen. Womit also bestritt sie die Mehrauslagen? Pfanner begnügte sich nicht lange mit den ausweichenden Antworten, die sie ihm gab. Eines Tages stellte er ein scharfes Verhör an, und sie, in die Enge getrieben, angeekelt von der erniedrigenden Pein, immer neue Ausflüchte ersinnen zu sollen gestand.