- 642—Ja denn, ja, sie verkaufte, sie versehte, sie gab ihr Letztes?er, damit das Kind, das in fortwährender geistiger An-spannung lebte, ordentlich ernährt werde, in den Jahren derEntwicklung und des stärksten Wachsens.Pfanner zürnte, höhnte' Was hatte denn er gehabt indiesen selben Jahren? Wer hatte denn gefragt, wie er sichnährte? Georg wuchs auf wie ein Hofratssohn im Vergleichzu ihm. Er, zu vierzehn Jahren, hatte sich fein Brot.selbstverdienen müssen, sein Brot im Sinne des Wortes I Undnicht etwa ein frisch gebackenes. Die Entbehrungen hattenihm sehr gut angeschlagen, er war immer gesund geblieben.Warum sollte sein Bub anders geartet sein als er, und wieein Weichling behandelt werden, den man aufpäppeln muß?Agnes beharrte zum ersten Male während ihrer langenEhe im Widerstand gegen den Mann. Der Augenblick, densie so sehr gefürchtet hatte, war gekommen und fand siestärker, als sie geglaubt hatte, sein zu können. Ruhig ließ siedie Anklagen Pfanners über sich ergehen, und indes er ihrvorwarf, ihn hintergangen zu haben, grübelte sie nach übereine Möglichkeit, ihn noch weiter zu hintergehen. Es mußtesein um des Kindes willen.So widerstandsfähig wie sein Vater gewesen, war ebender blasse, hochaufgeschossene Junge nicht, der jetzt mit einem:«Guten Abend, Vater und Mutter!" eintrat und schlver-atmend an der Tür stehen blieb, als ob die gewitterschwüleAtmosphäre, die im Zimmer herrschte, ihm auf die Brust«fallen wäre.(Fortsetzung folgt.)!(Nachdruck»ertöten.}Die Ziege,Von Carl Busse.(Schluß.)Aber gleich wird er stumpf. Es ist ja Unsinn, was er da phantasiert. Das Gymnasium brennt nicht— er wird nicht lachen,sondern lachen werden die Schüler, werden sich aufstellen, wennder Gendarm ihn holt. Wohin? Ins Gefängnis? In die Klipp-schule?Nein, nein— den Spaß verdirbt er ihnen! Lieber sterben!Sterben wie Wladek Sikorski voriges Jahr starb!Da schwankte der Sarg hoch über allen Häuptern— fast sohoch wie Väterchen damals auf den Schultern der Menge—und das Silber blitzte dran— fast wie die silbernen Taler imrötlichen Fackelschein—, und ein Riesenzug wogte hinter demSarge her— alle Gymnasiasten, von der Prima bis zur Sexta—alle Lehrer— eine schwarze ungeheure Masse, fast so groß wie die,welche damals ums Haus toste. Und der kleine Sikorski, um densich sonst niemand gekümmert hatte, war mit einem Male eineHauptperson, um die sich alles drehte. Nur weil er tot war!Ein triumphierendes Lächeln glitt über das Gesicht desSchneiderjungen. Höhnisch zuckten seine Lippen.„Rache! Rache! Rache!" dachte er. Es berauschte ihn. Undseltsam mischte sich in das Bild immer das andre, wie sie den Vatergeehrt und nach Haus gebracht hatten. Da war die Königsscheibenoch— die Königsscheibe—Und im Winkel lag Zuckerschnur.Aber die eiserne Kramme war zu hoch; er langte nicht hinan.Vielleicht, wenn er sich irgendwo'raufstelltc....Doch es war nichts hier. Nichts? In der Ecke stand ja nochder alte Feuereimer. Wenn man ihn umdrehte, sich'raufstellte— dann ging es vielleicht.... Und alle, alle hinter ihm drein... hinter ihm, den sieverhöhnt, verachtet, gemieden hatten... alle ihm zu Ehren schwarz!Er lächelte... lachte. Mit seinen langen Knochen machte ereine Bewegung, als nehme er wie ein König den ganzen Zug ab.Aber plötzlich schrak er auf. In furchtbarer Angst verzerrtesich sein Gesicht.Was war das? Wer sprach da?Sein eigener Atem keuchte so, daß er nicht hören konnte!Doch jetzt vernahm er es deutlich.Das war der lange Modlin— das war seine Stimme— erkam ins HauS— zeigte ihn an— jetzt würden sie ihn suchen— ihn abführen—Ohne Atem zu ho�en, ohne sich zu besinnen, raste er in dieEcke, knüpfte die Schlinge, schleppte den Feuereimer heran, stelltesich herauf...Es reichte! Er war groß genug! Er kam gerade an dieSframme, an der die mächtige Scheibe hing.Und mit Händen, die in fiebernder Hast nicht schnell genugwaren, warf er die Schnur darüber, steckte das käsige, spitznasigeGesicht, das jetzt die Erregung leicht gerötet hatte, durch dieSchlinge und horchte.Nichts... nichts! Nur das eigne Herz... und das Blut...Aber da.». das war Modlin, der lange Modlin. Er sprach... man hörte cS ganz deutlich. Alle seine Sinne spannten sich.„Suchen... suchen"— daS eine Wort kam wieder hoch— er der-stand es.»Und wie Lachen und Hohn blitzte eS in seinen Augen auf—glücklich fast— und mit einer wilden, triumphierenden Bewegung.als stoße er damit die ganze verächtliche Welt von sich, schleuderteer mit einem Fußtritt den Feucrcimer, der ihm Stand und Haltgab, zur Seite...Polternd kollerte er über die rohen Dielen.—Sie hatten es drunten gehört.«Ach so," sagte die Schneiderfrau und blickte die Treppe hinan—„er steckt wieder auf dem Boden." Und mit ihrer hartenStimme:„Philipp Philipp!"Auch der lange Modlin starrte mit einem ratlosen, halb ve»ängstigten Gesichte empor. Er hatte gerade wieder gehen wollen—weiter suchen.— so lange suchen, bis er die Ziege gefunden hatte.Denn immer schwerer hatte sich eine dumpfe Last und Schamauf ihn gesenkt, hatte ihm die Kehle geschnürt, daß er an seinemMittagessen würgte, hatte ihn endlich hierher getrieben in dasärmliche Haus.Er war ganz fassungslos gewesen, als auch hier niemandvon dem Verbleib lles Jungen wußte. Bis im letzten Momentneue Hoffnung wach ward.„Könnt' ich vielleicht mal nachsehn?" fragte er fast bettelndund wies nach dem Boden.Die Schneiderfrau wunderte sich: es kam doch sonst kein Schul-kamerad zu ihrem Jungen. Aber sie hatte mehr auf dem Köpftsie nickte nur. Und hastig, immer drei Stufen auf einmalnehmend, flog der langx Modlin die Treppen eigpor.Er sah es sofort trotzdem es hier oben dämmriger Kar undnur eine Dachluke schwaches Licht spendete. Als könnten ihn dieKnie nicht mehr tragen, knickte er zusammen. Doch dann, mitersticktem Laut, flog er auf die hängende, noch von dem Schwüngehin und her pendelnde Gestalt zu, hob sie, als gälte es, sein Lieb-stes zu retten, machte die Schlinge los, schwang und wiegte wiesinnlos den hageren Körper einen Moment in seinen Armen undlegte ihn dann nieder. Er hatte mal gesehen, wie an einem Er-trunkenen Wiederbelebungsversu.che gemacht wurden. Und wieein Verzweifelter griff er nach den knochigen Armen der Ziegeund führte sie rastlos auf und nieder.Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er sah nicht, hörkSnicht— immer nur die mechanischen Bewegungen«,. auf, ab.,»auf. ab.Doch plötzlich war eS ihm, als ob er Widerstand fände, als obsich der Junge bewegte, als ob durch einen halben Liderspalt digAugen sichtbar würden.Eine übermächtige Freude, die ihn fast betäubte, überkamihn. Er hob den Körper, preßte ihn, schüttelte ihn wild wie einenjungen Hund.„Majcwski!,.. Majewski!"Und beim dritten Ruf öffneten sich die Augen ganz undstarrten verständnislos, als kämen sie auS fremden Landen undkönnten sich noch nicht zurechtfinden, in das übergeneigte Gesicht.Dann erst erkannten sie. Und mit einer Grimasse der Ver-zweiflung bäumte sich der Schneiderjunge auf, als wollt' er sichnoch einmal gegen den langen Modlin werfen, ihn noch einmal zurSeite stoßen, ihm noch einmal entfliehen— aber betäubt, kraftlossank er zurück.Er konnte nicht... eS war alles vorbei. Und fast, alswollte er nichts mehr sehen, als wollte er sie nie wieder auf-machen, drückte er die Augen zu...Der lange Miodlin machte lange keine Bewegung. Dannstrich er mechanisch mit dem Handrücken den kalten Schweiß vonder Stirn.„Majewski!" Es klang heiser.„Majewski— mach' dochkeinen Unsinn!"Er fand immer nur wieder dasselbe Wort wie auf dem Schul-Hof:„Mach' doch keinen Unsinn!"Und hinterher, rasch, sprudelnd, wie in der plötzlichen Angst,es könnte sonst zu spät sein:„Es war doch alles nur'n Scherz— warum bist Du denn gleich ausgerissen? Du bist immergleich so... so wütend. Ich hab's doch keinem gesagt... Du.Majewski, mein Ehrenwort drauf: keinem einzigen! Es war dochüberhaupt nichts! Und wenn Du morgen in die Schule kommst,kannst Du ja sagen: Dir ist plötzlich so schlecht geworden, daß Dugleich nach Hause gegangen bist! Und wenn Dich einer schiefansieht— wahrhaft'gen Gott,'runterhauen tu' ich ihn...'runter-haun!" i.'>->Er ballte die harten Fäuste, und als ob sich in dieser Wutgegen die Feinde und Verhöhner der Ziege all die dumpfe Er-rcgung der letzten Stunden auslöse, wiederholte er immer vonneuem, daß er jeden niederschlagen wolle, der sich eine Bemerkungerlaube.Jäh kam die Erschöpfung über ihn— eine Abspannung, inder er zitterte. Er kniete noch immer— jetzt fühlte er, wie seineKnie schmerzten. Da holte er sich den Feuereimer heran undsetzte sich darauf.Philipp Majewski lag ganz still. Halb im Traume hörte erden andern sprechen. Das Blut brauste noch immer so seltsam,und er war so merkwürdig erschöpft... Langsam erst begann er zu verstehen.