Mnterhallungsblatt des VorwärtsNr. 167.Sonnabend, den 28. August.1909�Nachdruck becänUn.)Ita Fjaine»2]Novelle von S. Juschkewitsch.*)Autorisierte Uebersetzung aus dem Russischen von A. L a m P e r t.Sie schälte das Kind geschickt aus den Lumpen, in die esgehüllt war, und Rose geriet außer sich vor Entzücken, als siees sah. Fest an die Brust gedrückt, so daß nur sein rosigesKinderköpfchen, ganz in Falten zu sehen war, drehte und wandes sich wie ein Gummipüppchen, während Rose entzückt seinKöpfchen betastete und seine dicken Beinchen und Aermchenin der Hand abwog. Es war ganz gleichmäßg rösig, ohne auchnur das kleinste Fleckchen, ganz in Grübchen und Fältchen,warm und glatt, wie ein kleines Kätzchen. Rose war be-geistert vom Anblick des Kindes, kniff und streichelte es mitihrer runzeligen Hand und sagte immerzi; lachend:„Wo hast ihn nur her? Gewiß hast Du ihn irgendwobei reichen Leuten gestohlen. Sag's nur gerade heraus."Ita lachte vor Freude, und ihr Gesicht wurde wieder gut-mütig.„Ich sage Ihnen doch, daß ich so eine Milch habe. Sieist einmal so. da ist nichts zu machen. Und so viel Hab ichdavon, ich glaub— ein Erwachsener könnte sich an ihr satt-trinken, wenn ich nur genug zu essen hätte."Sie wickelte das Kind wieder ein, aber so vorsichtig undaufmerksam, daß es sich nicht einmal regte.„Run gut," sagte Rose nach einigem Nachdenken„ich willDich schon unterbringen. Du bleibst hier, und ich will gehen.Ich babe viel zu tun heute."In der Stube wurde laut geredet, aber der Lärm warnicht groß: man fürchtete sich etwas vor Rose und ließ sich inihrer Gegenwart nicht so gehen. Der Stcllensuchenden wurdenindes immer mehr. Frauen, Mädchen und ganz junge Back-fische saßen und standen in Gruppen. Einige frühstücktennoch. Ein altes buckliges Weibchen, das schon seit langer ZeitStellung als Kinderfrau suchte, fegte fleißig und mit er-staunlicher Geschicklichkeit den Fußboden, indem sie sich wieein Kreise� in jedes kleinste freie Plätzchen hineinzwängte.Drei alte Frauen, sehr dick, mit schwitzenden, glänzenden Ge-sichtern, mit krummen und von Rheumatismus aufgeschwol-lenen Fingern, wichen nicht vom Ofen, und, obwohl sie vorHitze sogar die Blusen aufgemacht hatten, saßen sie immernoch da und labten sich an der Wärme. Zwei ganz junge,etwa vierzehnjährige Mädchen in schmutzigen Röcken, die sieaus irgendeinem Grunde immerfort emporrafsten, so daß diemageren und ebenfalls schmutzigen Beine zu sehen waren, saßenauf dem Fensterbrett, zeigten einander mit den Augen diedrei Alten und lachten laut mit einem so kreischenden, kurzenLachen, als ob in ihrem Halse etwas ohne ihren Willen auf-platzte. Sie hatten freche, zynische Gesichter, und alles anihnen zeugte davon, daß die harte Schule des Lebens nichtspurlos an ihnen vorübergegangen sei. In der entferntestenEcke der Stube erzählte ein hageres altes Weib mit unver-bältnismäßig dickem und langem Hals und gottergebenemGesicht ihrer Nachbarin laut von einer neuen Wunderarznei,die ihr allein gegen Atemnot helfe.„Marmer, Mutter, das ist meine Rettung. Ein bißchenMarmer, feingestoßen und mit Wasser ausgetrunken— undalles ist weg.— Mit dem Bildhauer, der die Marmergrab-steine macht, bin ich bekannt, und von ihm krieg' ich den Stein.Ohne den Marmer kann ich jetzt keine Auge zumachen.""-„Eine steinerne Kur," wackelte die Nachbarin vorStaunen.„Ach du Herr des Himmels, hat man je so wasgehört? Marmer! Wahrhaftig, mit Marmerstein kuriertIhr Euch?"Ita fand sich nach und nach in ihrer Umgebung zurecht.Eine Jüdin knüpfte mit ihr ein Gespräch an und lud sie zumSitzen neben sich ein. Das Kind schlief ruhig und lag schwerin den Armen. Rose hatte sich zum Ausgang gerüstet undging nun mit einigen Frauen, die sie sich ausgesucht hatte.Sofort wurde es lärmender in der Stube. Die Scheiben inTür und Fenstern waren endlich aufgetaut und es schien, alsob sie absichtlich mit einer trüben Flüssigkeit bespritzt wären.so daß dahinter der Schnee schmutzig und dunkel erschien. Mansah die unregelmäßigen Gestalten der Leute, die im Hofeaus und ein gingen.Ita saß schon neben ihrer neuen Nachbarin, die sofortliebenswürdig ihr Kind von allen Seiten betrachtete.„Sie suchen auch Stellung?" fragte Ita, indem sie daSKind in den anderen Arm nahm.Es stellte sich heraus, daß sie eine Stelle als DiensteMädchen suchte.„Ja, ich suche schon lange," sagte sie und fügte schlichthinzu:„Ich habe einen Fehler, und das stört mich dabei."Erst jetzt bemerkte Ita, daß das Mädchen von Zeit zuZeit einen leichten Schrei ausstieß, als ob sie erschreckt wäre.und daß sie, um ihn zu ersticken, die Hand vor den Mundhielt.„Woher haben Sie das?" fragte Ita teilnahmsvoll, aberrückte unwillkürlich etwas ab von ihr.„Sie brauchen keine Angst zu haben," sagte jene, als sieJtas Bewegung bemerkte,«ich habe nicht die„schwarzeKrankheit"."„Ich fürchte mich auch nicht," erwiderte Ita lächelnd undrückte wieder näher.„Andern ist es unangenehm, aber was tun? Das habe ichdoch nicht mit auf die Welt gebracht, das kommt vom Schrecken.Ich war in einem Gasthaus als Zimmermädchen, und es gingmir nicht schlecht. Aber da kam ein Reisender.... Als icheines Morgens fein Zimmer machte, stürzte er sich auf mich,und ich bekam so einen Schreck, daß ich nicht um Hilfe rufenkonnte... Und seitdem Hab' ich es bekommen. Jetzt scheintes ein bißchen besser. Die Aerzte sagen, es wird schon weg-gehen, und da Hab' ich ihnen so nach und nach all mein Geldhingetragen— aber ich hab's noch bis heute. Sie sagen jaimmer— es wird vergehen."Zwei- oder dreimal piepste sie halblaut, aber konnte sichdann nicht mehr beherrschen und schrie laut auf.„Da, jetzt sehen Sie's," sagte sie, nachdem sie sich wiederberuhigt hatte,„kann man mich in einem ordentlichen Hausbrauchen?"Ita blickte das Mädchen mitleidig an und fragte:„Nun, und was haben Sie getan?"„Was konnte ich denn tun? Dumm war ich: der Reisendeging fort, und ich— ich war schwanger."„Schwanger?" wiederholte Ita.„Ach Sie Aermstel"�„Na ja, schwanger. Und als das Kind da war— ob einBube oder ein Mädchen, ich weiß nicht— da Hab ich es irgend»wo vor einer Tür gelegt." �Sie erzählte alles ruhig, als ob es sich um ganz natür«liche Dinge handelte. Und setzte nach einer kleinen Weilehinzu:„Wahrscheinlich hat man das Kind noch lebend gefunden.es war ja Sommer. Aber besser wär's— es wäre gestorben."Mit immer steigendem Entsetzen lauschte Ita ihrenWorten. Die Grausamkeit der Großstadt schien dicht an sieheranzurücken und zeigte ihr alle ihre drohenden Seiten, vondenen sie, die in einem kleinen Städtchen aufgewachsen war,keine Ahnung hatte.„Wo wohnen Sie denn jetzt?" fragte sie leise, von leb-hafter Sympathie zu dem Mädchen ergriffen.„Wie's kommt. Ich bin ja aller Welt im Wege. Wennich, Gott geb's, wieder gesund bin, dann wird alles gut. Undwenn ich nicht gesund werde, dann weiß ich schon, was ich tue."Sie sagte es mit so einer finsteren Stimme, daß Itaförmlich erzitterte.„Was wollen Sie tun?" flüsterte sie.„Ich gehe auf die Straße," erwiderte einfach das Mädchenund sah Ita aufmerksam in die Augen.Aus allen Ecken des Zimmers kam jetzt das Weinen undSchreien der aufwachenden Kinder. Die Ammen unterbrachenunlustig ihre Gespräche und verließen ihre Plätze. Einehagere Frau, mit bösen Augen und heiserer Stimme, schlugihren Kleinen, der die Windel verunreinigt hatte. Sie schlugihn mit Wonne, und die Schläge sausten dicht und stark aufdas Kind nieder: aus jener Ecke aber kamen dünne und durch-dringende Schreie.Das Mädchen hörte alles gleichgültig an und flüstertedann Ita plötzlich zu: