Anterhaltungsblatt des vorwärtsNr. 169.Mittwoch, den 1. September.1909Machdru« verboten.)Xta k)aine.4]Novelle von S. I lisch kewitsch.Autorisierte Uebersetzung aus dem Russischen von A. L a m p e r t.Jta schwieg finster, Manja aber, die in der frischen Luftkeine Anfälle hatte, sagte:„Ich würde ihn in den Schnee werfen und fortgehen."„Und meint Ihr, Zirel hätte es nicht gerne getan?" er-widerte jene.„Aber ich habe Angst. Ich fürchte den Gorodowy(Schutzmann) mehr wie den Tod, und so schleppe ich das Kindmit herum. Verfluche es, aber trag' es doch. Ich fürchte mich.es zu tun. Und denken Sie auch, daß mir niemand mehrals 8 Rubel geben wird. Ich bin klein, nicht mehr jung, undhören Sie meine Stimme, wie sie heiser ist. Was für eingutes Haus wird mich nehmen? Wer mich nimmt, das sindschon arme Leute, die nicht mehr geben können. Und da warich noch froh. Und jetzt rechnen Sie mal: fürs Kind mußich doch 4 Rubel monatlich zahlen, oder auch 5? UnsereZeiten sind teure Zeiten, und nichts ist billig. Mindcl abermacht schon alles. Sie wollte 2l1 Rubel, damit ich nichts mehrvon ihm weiß, aber ich Hab' es für 15 abgemacht. Zirel istgescheiter als sie."Jta und Manja lauschten ihren Reden, ohne sie zu unter-brechen und arbeiteten sich durch den Schnee. Die Nachtsenkte sich herab und überall wurde Licht angesteckt. DieKälte nahm zu. Auf dem festgefahrenen Wege flogen dieSchlitten dahin, und ein lustiges Schellengeläute erklang. Beiden einen waren es fröhliche, bei den anderen traurige Ge-danken, die da aufkamen. Der Himmel war aber hoch undklar und wollte nichts wissen von dem, was unten vorging.Und immer tiefer sank von ihm die Nacht herab, damit füreine Zeitlang nichts zu schen und zu hören sei, damit mannicht unterscheiden könne, wem es gut und wem es schlechtgehe.Die Schlitten flogen dahin, lustiges Schellengeläuteertönte.*Eine ganze Woche ging resultatlos vorüber. Täglichbegab sich Jta zur Rose, blieb dort bis zum Abend und kamermüdet und abgeguält nach Hause, wo ihr Geliebter, Michel,gereizt wie ein wildes Tier, sie erwartete. Eigentlich wurdenJta nicht wenig Stellen angeboten, aber es kam immer nichtzum Klappen, und das hatte für sie die unangenehmstenFolgen. Jeder resultatlos verlaufene Tag brachte sie inimmer größere Gefahr, von ihrem Michel übel zugerichtetoder gar zu Tode geschlagen zu«Verden, denn er hatte fürihre Zukunft ganz andere Pläne als sie selbst. Jetzt hatteJta aber enge Freundschaft mit Manja geschlossen und warunzertrennlich von ihr, glücklich einen ihr aufrichtig wohl-wollenden Menschen gefunden zu haben. In ihrem winzigenStübchen trat sie ihr eine freie Ecke ab und an den Abenden,wo Michel keine Skandalszenen machte, blieben die beidenFrauen oft bis Mitternacht in träumerische Gespräche übereine bessere Zukunft versunken. Das schlafende Kind lagfriedlich unter dem elterlichen Kissen, das kleine Lämpchenspendete durch den trüben Zylinder ein fahlgelbes Licht, inden Tapeten raschelten die flinken Schwaben, und das Ge-spräch der Frauen floß in ruhigem Laufe dahin.Am frühen Morgen steckten sie ein Stück Brot zu sichund begaben sich eilig zu Rose, um möglichst früh zu kommen— als ob eine Pflicht sie dort erwarte— in der unklarenHoffnung, daß dieser Tag ihnen Erlösung von diesem uner-träglichen Leben bringen werde. Auf der Straße war nichtsimstande ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, und wenn es manch-mal vorkam, daß sie die Schaufenster betrachteten, den imSchlitten vorbeifahrenden oder auch vorbeigehenden fein-gekleideten Damen und Herren nachsahen, so schien dies alleskeine wirkliche Existenz zu haben, sondern eine Art not-wendigen Zubehörs zur Straße zu sein. Das einzigWirkliche, das einzig Wichtige waren sie selbst, ihre eigenenInteressen, Rose, die konkurrierenden Ammen und Dienst-mädchen. Bei Rose saßen die Beiden nebeneinander undsahen ärgerlich zu, wie vor ihren Augen ein Wechsel derFrauen stattfand. Jeden Tag griff die gierige Tatze derStadt eine Handvoll Lohnsklavinnen heraus, deren sie be-durfte, und spie kleine Häuflein derer aus, die ihr ausirgendeinem Grunde nicht gefallen hatten. Beobachtete mandieses fortwährende Auf und Ab, so konnte man die Stim-mung der Stadt verfolgen, die ebenso unbeständig war, wieder Druck der Atmosphäre auf das Quecksilber des Baro»Meters. Heute wurden die Unfähigen, Hageren, Bösen anden Strand geworfen und die Gesunden, Gescheiten, Willigenverschlungen, morgen aber taugten die Gesunden und Ge-scheiten scheinbar nicht mehr, es war, im Gegenteil, als obdie Launischen, Bösen, Kranken verlangt würden. Vor denAugen der Wartenden wechselten die Gesichter und Charak-tere der Ammen, die alten Weiber, Kinderfrauen, jungenMädchen wurden wie von einer Welle hinweggespült, aberdie Stube war immer überfüllt und ununterbrochen erscholldort die Stimme des Lebens in all ihren Tonarten: Dürstenund Lechzen, Laster und Neid, Kummer und Klatschereien.Hierher wurden alle sensationellen Neuigkeiten der Stadtgebracht, die sich da zu schauerlichen Legenden auswuchsen,und je zynischer und unflätiger eine Geschichte war, einesum so größeren Erfolges konnte sie sicher sein. Morde undEinbruchsdiebstähle, Ehescheidungen und Schlägereien, Aus-schweifung in ihren raffiniertesten und perversesten Formenwaren hier ebenso begehrt wie sentimentale, romantischeLiebesgeschichten. Die Frauen vergifteten ihren Geist damitmit derselben Gier, wie man sich in anderen Kreisen mitHazardspielen, Opium oder Morphium betäubt. Hier wurdeaufs Allergenaueste über die Dienstherrschaften Bericht er-stattet— über ihre Gesellschaftslage, ihr Vermögen, ihreGewohnheiten und Launen, über ihre Habsucht, Voshaftig-keit oder Güte, über alle Familiengeheimnisse und-lasier—kurz über alles, was den Dienstboten nicht verborgen bleibenkann. Die Ursache einer jeden Kündigung irgendeinesDienstmädchens war hier bekannt: die intimsten Angelegen-heiten jener, die bereits Stellung gefunden hatten, wurdenhier enthüllt, alles was irgendwie über das Alltägliche hinaus-ragte, wurde laut und ungeniert besprochen, und so fand hierjede eine Schule der niedrigsten Lebensweisheit, die dieleiseste gute Regung unrettbar in ihren Anfängen erstickenmußte.Dieses Haus, das Ida anfangs so lieb und behaglich er»schien, ward in ihren Augen bald zu einer Lasterhöhle, undsie wandte alle Beredsamkeit auf, um Rose zu bewegen, ihrmöglichst bald Stellung zu verschaffen. Mit unwillkürlichemNeid sah sie, wie im Rachen der Stadt die drei alten Weiber,die halberwachsenen Mädchen und alle Ammen, die sie amersten Tag hier getroffen hatte, verschwunden waren; selbstZirel war von der Stadt verschlungen worden, Jta aber saßmit ihrer neuen Freundin Tag für Tag hier, als ob niemandsie brauchte. In den langen Stunden dieses qualvollenWartens, mit einer trocknen, vom Erlös des letzten versetztenMöbel- oder Kleidungsstückes gekauften Brotschnitte in derTasche, erschöpft und entkräftet durch das Kind, das sich anihrer Brust gleichsam dafür rächte, daß sie von Tag zu Tagweniger Milch gab, erzählte Jta nach und nach, bruchstück-weise, zwischen der Hoffnung vor dem Kommen Roses undder Enttäuschung nach ihrem Gehen, der neugewonnenen Ver»trauten ihr ganzes Leben.„Sehen Sie," sagte sie ihr einmal,„es gibt Leute, diein allem Pech haben, bei denen die einfachsten Sachen ver-kehrt geraten, und wieviel sie sich auch Mühe geben, wie ge-scheit sie auch alles anfangen mögen, sie können nichts gegenibr Schicksal ausrichten. Zu diesen Leuten gehöre ich auch.Ich habe einfach Pech. Nehmen Sie mein Kind. Es istgesund und stark. Aber auch hier ist alles verkehrt. Ichhätte einen Krüppel aus die Welt bringen müssen, dann wärealles gut. Ich habe eine gute Milch, und doch hat die Zireleher eine Stellung gefunden. Sogar das Gute, das ich habe,kann ich nicht brauchen, es stört mich nur in meinem Leben."„Vielleicht ist es so," sagte Manja gedankenvoll,„aberich meine, es geht Ihnen schlecht, weil Sie ein zu weichesHerz haben. Um überhaupt leben zu können, müssen wir