Embryonen nährende Substanzen abzugeben, liegt auf der Hand; und so erscheint eS uns als eine sinnreiche Einrichtung, daß der Akt der Befruchtung sich erst im Frühling, wenn der Jnsektenfang draußen wieder beginnen kann, im Inneren des Mutterleibes voll- zieht. Warum aber— so höre ich fragen— findet dann nicht auch die Begattung erst im Lenze statt? Nun, auch die Männchen halten ja einen Winterschlaf; auch sie erwachen, wenn die laue Früh- iingsluft sie umspült, in einem arg heruntergekommenen Zustand, in welchem sie dem aufreibenden Spiele süßer Minne kaum ge- «vachsen sein dürsten. Die Mitteilungen über die Fledermäuse erinnern manchen Leser vielleicht an die merkwürdigen Verhältniffe, die über der Fortpflanzungsweife unseres Rehes obwalten. Bekanntlich liegt die Brunstzeit die>er Tiere, die sogenannte„Blattzeit", etwa im August; die Geburt der Jungen— meist sind es Zwillinge, ein Männchen und ein Weibchen— findet aber erst im Mai des kom- wenden Jahres statt. Diese Erscheinung ist auffallend genug, um die Jägersleute, die ja abenteuerlichen Erklärungen nicht selten nicht ganz abgeneigt sein sollen, zur Aufstellung der seltsamsten Behauptungen zu veranlassen. So hört man gelegentlich, daß die Ricke im Herbste, etwa zur Brunstzeit der Hirsche, nochmals be- gattet würde, und daß dann erst die eigentliche Befruchtung ein- träte. In Wirklichkeit beginnt die Schwangerschaft natürlich schon im August. Während deS Winters aber ruht die Weiterentwicke- lung der heranreifenden Frucht. Offenbar sind hier die dürftigen Ernährungsverhältnisse, wie sie die rauhe Jahreszeit mit sich bringt, mit von Einfluß, insofern als sie dem selbst oft argen Hunger leidenden Muttertiere nicht gestatten, für das in seinem Leibe ge- jborgene Embrhonenpaar Nährstoffe abzugeben. Uebrigens haben bei weitem nicht alle Säugetiere nur eine 'einzige Brunstzeit im Kreislaufe eines Jahres aufzuweisen. Bei den großen Huftieren, die viele Monate hindurch trächtig sind und alljährlich höchstens einmal Junge werfen, blüht naturgemäß auch der Liebesmai nur einmal im Jahre. Anders liegen die Dinge aber z. B. bei vielen der kleineren Nagetiere. Von tausend Feinden verfolgt, der verderblichen Wirkung widriger Witterung oft schutzlos preisgegeben, können diese schwachen Geschöpfe nur durch eine ins Ungeheuere gesteigerte Fruchtbarkeit den ihnen drohenden Gefahren begegnen, und der immer aufs neue ge- schwängerte Uterus der Weibchen ist für sie die wertvollste Waffe, mit der sie sich in dem rasenden Kampfe ums Dasein behaupten. Bekannt in dieser Beziehung sind ja die Kaninchen. Vom frühesten Borfrühling an bis tief hinein in den Herbst löst in etwa fechs- wöchentlichen Zwischenräumen ein Wochenbett das andere ab, und der„Rammler" hat während dieser Periode sozusagen eine ganze Kette von rasch aufeinanderfolgenden Brunstzeiten durchzumachen. Die Eskimos. Der Streit zwischen Pcary und Cook um den Vorrang in der Nordpolentdeckung hat die Aufmerksamkeit der ganzen Kultur- weit auf das weit entrückte Eskimovolk gelenkt, aus dessen Mitte sich die„einwandfreien Zeugen" stellen sollen. Mit einem solchen einwandfreien Zeugnis steht es nun ähnlich wie mit den Berichten, die vor nicht langer Zeit bisweilen von einem„glaubwürdigen" Herero geliefert wurden. Man weiß in den breiten Volksschichten Europas überhaupt nicht viel von jenen Enkeln einer aus den Ländern der gemäßigten Zone seit undenklich langen Zeiten ver- Fchwundenen poläolithischen laltsteinzeitlichen) Urbevölkerung, die zetzt noch in den arktischen Gegenden Hausen. Daß sie aber einem wissenschaftlick>en Kreuzverhör nicht gewachsen sein dürften, ist gleichsam gefühlsmäßig auch denen klar, die nichts oder so gut wie nichts von ihren Lebensgewohnheiten gehört haben. Heute ist das Interesse an den Eskimos ein sehr reges geworden, und jede Veröffentlichung über das seltsame Völkchen findet eifrigste Beachtung. In der Zeitschrift„Science Progreß" gibt ein hervor- ragender englischer Gelehrter, Professor Sollas, wertvolle Beiträge zur Kenntnis der„modernen Vertreter" der paläolithischen Rassen. Der Name„Eskimo " stammt, wie dies auch bei manchen schottischen Clans vorkommt, von ihren Feinden, in diesem Fall also von den Indianern, und bedeutet„Esser von rohem Fleisch". Allerdings geschieht den Eskimos mit diesem Namen Unrecht, denn sie Pflegen nur im Fall äußerster Not und um sich vor dem Verhungern zu schützen, unzubereitetes Fleisch zu genießen. Sie selbst be- zeichnen sich mit dem Namen„Jnnuit". was einfach.„Menschen" bedeutet. Die Eskimos bewohnen die arktischen Gebiete von Grön- land bis Alaska . Auch die Bleuten und der äußerste Nord-Osten Asiens bis zur Koljutschinbai ist Eskimogebiet. Nach einer von dem deutschen Geographen Professor Hassert vorgenommenen Schätzung zählen sie ungefähr vierzigtausend Köpfe. Die in Kamtschatka und im äußersten Nordosten Sibiriens ansässigen Tschuktschen und Kamtschadalen sind nicht den Eskimos zuzurechnen, fondern gehören einer anderen Rasse an. Die Eskimos sind aller- orten durch eine große Uebereinstimmung in ihren körperlichen Merkmalen gekennzeichnet. Obgleich auch die Lebensweise und die Sprache überall die gleichen sind, haben sie keinerlei staatliche Gemeinschaft ausgebildet und stellen vielmehr eine lockere Masse dar. Häuptlinge gibt es nicht, und auch die als„Angakok" be- zeichneten Medizinmänner haben keine sehr bevorrechtete Stellung. Ein Unterschied in der Art der Arbeit besteht lediglich zwischen den beiden Geschlechtern. Die Eskimosprache zerfällt in etwa funfzta verschiedene Mundarten, wovon jedoch die am stärksten verschiedenen» wie sie einerseits im östlichen Grönland und' andererseits an der asiatischen Seite der Beringstraße gesprochen werden, nicht mehr von einander abweichen als z. B. das Englische vom Deutschen , W. Thalbitzer, der jüngste Erforscher der Eskimosprache, bezeichnet sie als ganz vereinzelt dastehend. Weder in Asien noch in Amerika findet sich ein Idiom, das mit ihr irgendwie in Zusammenhang gebracht werden könnte. Ebenso wie die Sprache ist auch die körper» liche Beschaffenheit der Eskimos ganz eigentümlich. Sie sind von kleiner Statur. Die mittlere Körperhöhe der Grönländer beträgt nur 162 Zentimeter. Ihr tiefschwarzes Haar gleicht einer Pferde- mähne. Die Haut ist rötlichbraun und erinnert bei der Berührung an die der Neger. Die in großen Höhlen liegenden Augen sind dunkel, die Nase ich gleichzeitig lang und breit, der Schädel lang und hoch. Seltsamerweise ist die Schädclhöhle sehr groß. Nach Messungen von Duckworth beträgt ihr Inhalt 1550 Kubikzentimeter, also mehr als bei manchen der höchstentwickelten europäischen» Kulturvölker. Die bei beiden Geschlechtern ganz gleiche Tracht besteht aus kurzen Beinkleidern und einem Obergewand, das nach oben in eine Kapuze endigt. Die Beinkleider setzen sich bisweiler» in eine Art von Gamaschen fort. In der Herstellung von Schuhen» deren sie eine große Zahl verschiedener Arten kennen, sind sie sehr geschickt. Die Natur hat sie zu trefflichen Schustern erzogen, und sie verstehen ihr Schuhwerk für die langen Märsche über daS Eis ausgezeichnet zu besohlen. In ihrer Hausindustrie spielen die Nobbendärme eine große Rolle; sie dienen u. a. auch als Ersatz für Fensterglas. Die Kleidung wird nur im Freien getragen. In» Innern der Hütten gehen die Eskimos stets nackt, und jeder Gast wird vor allem aufgefordert, sich seiner Kleider zu entledigen. Unter Berücksichtigung der ungeheuren Schwierigkeiten, denen die Eskimos im Kampf ums Dasein gegenüberstehen, kann man sie nicht als eine sehr niedrig stehende Rasse bezeichnen. Es ist ihnen gelungen» ein Frostgebiet zu besiedeln, in dem jeder andere Mensch zugrunde gegangen wäre. Dabei sind sie von heiterer Gemütsart und besitzen mancherlei liebenswürdige Eigenschaften. Wie so vielen Natur» Völkern hat auch ihnen die Berührung mit der weißen Nasse keinen Segen gebracht. Verarmung, Selbstsucht und Hcrabmindcrung des Selbstbewußtseins kamen im Gefolge der Eindringlinge aus Europa und Amerika zu ihnen. Es scheint, daß dieser ungünstige Einfluß kaum eine Ausnahme zeigt. Rink schildert! in seinem Werke über Grönland die Missionen New-Herrenhut und Lichtenfels in recht bezeichnender Weise. Jede dieser Stationen beherbergt etwa hundert Eingeborene. Die Missionsgebäude sind hübsch, geräumig, für grönländische Verhältnisse sogar stattlich zu nennen. Aber sie werden hauptsächlich von den Missionaren bewohnt. Die Ein- geborenen Hausen in elenden Hütten ringsumher auf dem Feisem. Diese Wohnungen erinnern eigentlich mehr an die Form eines Düngerhaufens als an menschliche Wohnungen. In Grönland nimmt ihre Zahl stark ab. Mit ihrem Verschwinden wird dieser „sechste" Erdteil ein unbewohntes Land geworden sein, denn ohne den Eskimo vermag der Europäer in jenen Gegenden nicht z;» bestehen� und damit werden auch Nordpolexpeditionen immer schwieriger werden. Ob der Fuß eines Eskimo nicht längst vor Peary und Cook den Pol betreten hat, wird nie festzustellen seig. Als Möglichkeit muß man es wohl gelten- lassen, Kleines feuilleton» Literarisches. Paul Göhre , Die neueste Kirchenaustrittsbewegung aus den Landeskirchen in Deutschland. (Verlegt bei Eugen DiederichS in Jena , 1S0S.) Die Schrift versucht zum ersten Male, das Wesen der neuen Kirchcnaustrittsbewegung klar zu machen. Der Verfasser vermeidet es löblicherweise, in irgend einer Weise diese Bewegung mit der sozialdemokratischen Parteibewegung zu verknüpfen. Ueberhaupt liefert er nichts weiter als einen objektiven Bericht. Das erste Kapitel legt die Rückständigkeit gerade der deutschen Kirchen(evangelischer wie katholischer) bloß. Mit Recht wird darauf hingewiesen, daß die Reaktion nicht nur oben in der Regierung, sondern in den Herzen der Geistlichen selber sitzt, was die Beschlüsse des deutschen Pfarrertages genugsam beweisen. Während das zweite Kapitel die vielfachen Hindernisse beleuchtet. die den Austretenden in den Weg gelegt werden, sucht das dritte die Eigenart der stüheren Kirchenaustritte im Unterschied von den heutigen aufzuzeigen. Alle früheren KirchenauStritte erweisen sich alS em Auswechseln von Personen innerhalb der einzelnen Kirchen bezw. Sekten. Sehr anschaulich zeichnet der Verfasser die Gründe dieser Kirchenaustritte in den modernen Produktions« Verhältnissen mit ihrer Unzahl von Mischehen, mit ihrer rück» ständigen, das Scktenwesen begünstigenden Heimarbeit usw. Der Charakter der neuen AustrittSbewcgung liegt darin, daß hier der Austritt vollzogen wird,.um dauernd jeder Religionsgemeinschaft fernzubleiben. Die neue Bewegung ist eine ausschließlich prole» tariiche. Daß die Proletarier, die sie tragen, fast ausschließlich Sozialdemokraten sind, liegt nicht an der sozialdemokratischen Partei. sondern daran, daß die sozialdemokratischen Arbeiter es zugleich sind, die die Ergebnisse tac modernen Forschung am meisten in sich auf» ...kv
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26 (6.10.1909) 194
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