Nnterhaltungsblatt des Vorwärts f Nr. 236. Sonnabend den 4 Dezember. 1909 lNachdrua CctBotutJ 6J I�obelvolk. Eine Dorfgeschichte von Paul Jlg. ..Morgen mit dem Zehnuhrzug muß ich in die Stadt I" gestand sie über und über rot, schon auf dem Sprung, zu ent- wischen.Für jetzt will ich voraus und hinein. Es darf uns um Himmels willen niemand sehen." Dann huschte sie xhm davon. Also auf morgen I" rief er ihr nach, aber der Schmerz über ihr schnelles Entschwinden wühlte noch lange in seinem Glück. Verlangend streckte er die Arme nach ihr aus, doch gerade, als er im Uebermaß der Seligkeit aufjubeln wollte, warf es ihn nieder, und die Tränen waren schneller als dre Hände, die sie begraben. Siehst Du. Mensch, das ist die Liebe 1" sprach er zu sich selber und schluchzte, um Steine zu erweichen. TuuutI machte das Nebelhorn . Behutsam schloß Heinrich die Haustür auf und horchte eine Weile.. Aitl» liebsten wäre er ohne Gutnachtgruß die Stiege hinaus in. seine Kammer geschlichen. Stundenlang hatte er sich in Nacht und Nebel herumgetrieben, um allein zu sein, nur ja keine Gesichter sehen, keine Stimmen hören zu müssen. Das Glück war gleich einem reichbefrachteten Kaufsahrtei- schiff in der Bucht seiner guten Hoffnung erschienen, und alle Schätze des Morgenlandes führte er an Bord, vor deren selbst seine kühne Phantasie erstaunen mußte. Wohl hatte er all- zeit geglaubt, daß es einst auch an seinem Horizont auf- tauchen werde. Aber jahrelang war sein Harren unbelohnt geblieben, die Sehnsucht beinah erblindet in den schwülen Nächten der Erwartung. Er hätte sich ja, wie viele seines- gleichen, zu den Piraten schlagen, kleine Abenteuer suchen können, um die Not der verlangenden Fugend zu stillen. Ahnte er, daß die Beute selten das Wagnis aufwog, oder war er zu schwach und zaghaft, ein Räuberleben zu führen, heute in diesen, morgen in jenen Armen zu liegen? Nein, oft genug hatte er seine Schaluppe bemannt mit den frechsten Begierden hinausgesteuert in die Lebensdunkel- heit, ganze Nächte durch gelauert, aber ach! Was da für ihn in Sicht kam, waren immer und immer wieder elende Sklavenschiffe, die er dann unangefochten ziehen ließ, weil ihm die trügerische Phantasie jedesmal einen stolzeren Raub vor die Sinne stellte. Umsonst, der wurde nie zur Tat. Stets kehrte er ohne Erfolg zurück in seine Hungerhöhle, und auf den Ruderbänken saßen schlaffe Gesellen, übernächtig, halb verdurstet und verdorben zu jeglichem Tagewerk. So war seine Jugend hingeschwunden, ein Strom trüber, nie befriedigter Wünsche.... Doch jetzt, in der süßen Gewißheit naher Erfüllung, seit das glückhafte Schiff vor seinem Strande die Anker gelichtet hatte, dankte er seinem Stern, der ihn vor den entseelenden Lastern der anderen bewahrt hatte. Dafür, daß die Liebe noch ein geweihtes, nie betretenes Land für ihn war! Ja, er konnte vor diesem verschlossenen Garten noch in Andacht niederknien, während die Vorahnung kommender Freuden seine Brust mit heiligen Schauern füllte! Und morgen, wenn die Sehnsucht nach der Geliebten den leisen, spinnwebzarten Schlummer, das Netz der Träume zerriß, brach ein Tag an, so voller Frohlocken, wie er noch keinen gesehen!O. wär' er schon da!" war die einzige Klage, die ihm geblieben, und die fehlenden Stunden dräuten seiner Seele wie ein breiter See, den er durchschwimmen mußte, um in ihre Arme zu gelangen. Was hatte er denn sonst noch zu fürchten? Schon sah er sich im Geiste mit ihr vereint, Herr einer schönen, länd- lichen Häuslichkeit, weit umher geachtet und gesucht als Mensch wie als Dichter, dem nun endlich vergönnt war, aus dem klarsten Born des Erdenglücks zu schöpfen und auszuteilen. Das lange Wandern hatte seine Glieder schwer gemacht. Vielleicht erlöste ihn nun der Schlaf von den Wonnequalen der Erwartung. Aber, dachte er, weshalb sich feig in die Kammer stehlen, als hätte er irgendein Angesicht zu scheuen? Wie gewohnt, trat er zuvor in die Stube. Der Vetter Bastian war in seinem Winkel eingenickt. Er sah beinah aus, als sei er zum nächtlichen Hüter der Wäsche bestellt, die zum Trocknen rings um den mächtigen Kachelofen hing. Das schwindsüchttge Licht auf dem Tische beleuchtete kläglich die Reste einer festlichen Mahlzeit, schmierige Teller mit geschun- denen Rändern, verbogene Zinkgabeln, aus dem Heft fallende Messer, eine Literflasche, die, nach dem Bodensatz zu schließen, mit neuem Wein gefüllt war, einige Schweinsrippenknochen, etliche zart verschlungene Fäden Sauerkraut und eine Schüssel mit Pellkartoffeln alles in allem ein recht melancholischer Anblick. Die Base schien bereits zu Bett, außer dem schnarchenden Vetter niemand mehr im Zimmer, in dessen Mitte übrigens ein halbgefülltes Holzgefchirr neben einem Stuhl stand zum Zeichen, daß sich eben noch jemand die Füße gewaschen hatte. Eine unerfreuliche Hitze, wenig einladende Gerüche schlugen dem Eintretenden entgegen. Er blieb einige Sekunden stehen, im Zweifel, ob der AÜe am Ofen im Aufwachen sei, und wollte, da dies nicht der Fall, gleich wieder verschwinden, als er im Flüsterton seinen Namen rufen hörte. Heinrich fuhr zusammen wie von einem Stich in den Rücken. Erst jetzt sah er die auf dem Kanapee liegende Marei. Sie war bis auf Unterrock und Mieder ausgezogen. Die nackten Beine hatte sie flegelhaft aufgesetzt, die kurzen, massigen Arme unter den Kops geschlagen. Das schwarze Haar hing tief in die Stirn hinein, das Gesicht schaute bleich, verquollen darunter hervor, und über der Spitze des Mieders hob sich verlockend die weiße Wölbung der Brust. Er blieb wie angewurzelt stehen. Ach, Du bist's?" Unwillkürlich hatte er laut gesprochen, so daß nun auch der schaffensmüde Schläfer die Augen auf- sperrte. Ich wollte nur Gutnacht sagen!" Der Vetter guckte erstaunt nach der Schwarzwälder Uhr über ihm; es war kurz vor elfe. Ja, Zeit wär's! Woher kommst? Allweg vom Tanz- baden 1" sagte er zum Spaß, damit andeutend, daß er ihn im Ernst keineswegs dort gesucht hätte. Ha, mußt auch noch fragen, wo!" warf Marei laut spottend dazwischen, als ob sie es unfehlbar erraten würde. Sie war wütend, weil sie vergeblich gehofft hatte, mit ihm auf die Cbilbe zu wandern, ließ jedoch nicht zuviel davon merken. Dagegen schlug sie im Groll das eine Bein übers andere und schaukelte sich; Heinrich konnte erkennen, wie die rosigen Zehen sich krümmten. Herumgelaufen bin ich. Das ist alles!" stieß er un- natürlich lachend-hervor. Dabei suchte er sich jetzt eine Miene zu geben, wie wenn ihm halbnackte Weibsleute ein längst- gewohnter, nicht eben aufregender Anblick seien. Ich will wetten. Du hast den Tisch noch nicht ab- geräumt!" rief die besorgte Base durch die Türspalte.Hab' ich nickt recht, Heiri?" Doch, doch, Bas' alles in schönster Ordnung!" log er zu Mareis Gunsten, worauf die Warnerin mit einem brummigen's nimmt mich wunder!" zu Bett ging. Der Vetter nickte auch schon wieder, und Marei schaukelte immer noch das rechte Bein. Heinrich konnte sich doch nicht ent- halten, die schimmernden Blößen zuweilen mit scheuem Auge zu streifen. Wie kam die kaum Zwanzigjährige zu dieser hohn- lächelnden Preisgabe aller Schamgefühle?Vor vielleicht zwölf Jahren" fiel ihm ein.schlief ich noch unter einer Decke mit diesem Wesen und hatte keine blasse Ahnung von der tvrannischen Macht ihres Geschlechts, die mich jetzt schier zur Raserei treibt!" Die Stube fing an, sich mit ihm zu drehen. Er mußte sich setzen. Dabei machte er den Versuch, der gefährlichen Schlange den Rücken zu kehren und mit dem Vetter ein Gespräch anzufangen über die Geschichte vom alten Wcttstein, die ihm unterwegs doch nach zu denken gegeben hatte. Er wollte, wenn möglich, dessen Jugendzeit aufspüren, auskundschaften, ob hinter der hilflosen Güte und Wehr- losigkeit desPhilosophen" nicht ein Geheimnis etwa eine schwere Schuld, ein harter Schickjalsschlag verborgen