Nnterhaltimgsblatt des vorwärts Nr. 248. Mittwoch ven 22. Dezember. 1909 MaibdruS DerSsMs.) i7] X�obclvolk. Eine Dorfgeschichte von Paul I l g. Von einem Vorsprung des Hügels sah der Jüngling zurück, zuerst auf die niedrigen Tagelöhnerhütten im Tobel. wo auch seine Wiege stand, dann auf die herrschaftlichen Sommersitze zu beiden Seiten und zuletzt, langsam vor- rückend, über die Dächer des bäurischen Oberdorfs hinweg und hinaus auf die Landspitze, wo neben den zusammen- hängenden, spitzgiebeligen Fischerhäuschen das breite An- Wesen des Ratsherrn Stadler prangte. Heinrich ballte un- willkürlich die Faust und verzog den Mund zu einem frechen Lachen:„Ihr da unten! Herren und Knechte! Und alles zusammen ist nicht größer als ein Schneckenhaus, ein Brum- mein und Tuscheln für einfältige Ohren! Aber mir soll die ganze Welt noch singen und klingen!" So kam er wieder munter an die Arbeitsstätte. Er be- merkte nicht einmal, daß da und dort, wo er grüßend an den Mannen vorüberging, spöttische Blicke an ihm hängen blieben. Dagegen sah er seinen Gespanen nur ungern inmitten einer Gruppe stehen lind Kraftstücke vorführen. „Meinst Du?" sagte Jörg zu einem anderen und spuckte in die Hände. Dann packte er einen dicken Stamm, schwang ihn mit einem Ruck auf die Achsel und tvarf ihn dann wieder zu Boden.„Probier's, Du Fötzel! Dem. der mir's-nach- macht, zahl' ich einen Doppelliter!" Der andere konnte ihn kaum von der Stelle bewegen und mußte ein böses Gelächter über sich ergehen lasien. Bon allen war nur der schwarzarmige, sehnige Schinied, der sich die Leistung zutraute, und auch dem gelang sie bloß zur Hälfte. Erst als niemand mehr daran dachte, machte sich der junge Stadler, den das prächtige Wintervergnügen auch hinaufgelockt hatte, heimlich ans Werk. Er war ungefähr von gleicher Größe und Statur wie Jörg, vermutlich ein scharfer Paukbruder, der seine Muskelkraft nicht rosten lassen mochte. Wirklich, wenn auch erst nach etlichen Anläufen, ge- lang es ihm. den schweren Brocken hinaufzubringen, was um so mehr Beifall erweckte, als es nicht einer erwartet hatte. „Zahl aus, Hugentobler! Wer prahlt, bezahlt!" rief der Schreiner Frick schadenfroh. „Tha— auf die Art. mit Ach und Krach ist's keine Kunst!" tvarf der Gefoppte mit Verachtung hin und suchte in der Runde, bis er ein gut um die Hälfte schwereres Probe- stück gefunden hatte. Dieses Herrensöhnchcn war ihm ohnehin ein Dorn im Auge. „Gilt die Weit— auf entweder— oder— um einen halben Napoleon?" fragte er den Studenten, der ein weißes Wams, weiße Nebelkappe und Reitstiefel trug. „Mach keine Dummheiten! Das will mir an Dir nicht gefallen!" warnte Heinrich, schon wieder bereuend, daß er nicht lieber bei der Marei geblieben war. „Es gilt!" sagte der Herausgeforderte kurz. Er stand da wie einer, der Graftchaften zu verschenken hat. breitbeinig, die Hände hinten eingestemmt. Jörg wurde sichtlich blaß, als er, die Schultern werfend. zuerst einmal die genaue Mitte des mächtigen Klotzes maß. Dann gab es einen harten Ruck, daß all seine Gelenke knackten, der Stamm fuhr zwar in die Höhe, aber der Athlet verlor das Gleichgewicht und ließ ihn, kaum die Achseln berührend. hintenüber fallen. Der starke Bursch zitterte am ganzen Leib wie ein halbtot gehetztes Roß. sein Gesicht war ohne ein Tröpfchen Blut, schrecklich anzusehen, und alle mochten darauf warten, ihn im nächsten Augenblick von einem Knacks oder Blutsturz wanken zu sehen. Er holte jedoch langsam wieder Atem, dabei überlegend, ob die Wette für ihn gewonnen oder verspielt war. Der Student bekam fast alle Stimmen. In- dessen machte dieser dem Streit ein vorläufiges Ende, indem er großartig seine Börse zog und dem anderen ein Goldstück zuwarf. Es fiel vor Jörgs Füße platt auf den festgetretenen Schnee. „Laß es liegen— zum Teufel!" knirschte Heinrich empört, als dieser in seiner Geldgier richtig eine Bewegung machte, es aufzuheben. Zu spät empfand Jörg die ihm damit zu- gedachte Beleidigung. Es galt darum nicht mehr für voll, wie er schließlich kehrt machte und trotzig sein Handwerks- zeug ergriff. Stadler junior hingegen hatte genau auf Heinrich Anderegg acht gegeben und ging jetzt händelsuchend auf diesen zu. „Was haben denn Sie sich in diese Sache zu mischen, wenn ich fragen darf!" sagte er schroff— der aufgelegte akademische Raufbold. Man sah wohl, daß ihn keinerlei Antwort von einer Gewalttat abhalten konnte. Auch Heinrich merkte, wohin der Feind wollte. Er trat deshalb einen Schritt zurück, um seine Abneigung gegen Tat- lichkeiten offen darzutun und fragte nur ganz sachlich zurück: „Würden denn Sie im umgekehrten Fall das Geld aufge- hoben haben?" „Ich denke: nein! Aber nun sagen Sie— was kümmert Sie denn das? Das möchte ich wissen!" Da konnte sich auch Heinrich nicht mehr bezwingen, ob- wohl er das Nächstfolgende voraussah. „Somit find Sie ein frecher Protz— schamlos bis dort hinaus!" schrie er dem anderen zu und streckte zugleich ab» wehrend die Hände vor, immer noch in der Hoffnung auf eine rettende Dazwischenkunft. Worauf wartete Jörg? die Angst vor einem Schlag ins Gesicht, dessen er nicht fähig war, machte Heinrich im Nu zum erbärmlichsten Feigling.„Jörg!" wollte er rufen. Aber die Ohrfeige traf ihn noch zuvor, worauf er mehr vor Schmach und Verzweiflung als wegen dem er- haltenen Schlag über einen Stamm auf den Rücken fiel. Etliche brutale Gesellen lachten laut dazu, als gönnten sie dem Federfuchser von Herzen die Bescherung. Rachsüchtig, am Boden liegend, sah er nun dem Unver- meidlichen zu, das selbst die Stimme eines Gottes aus den Wolken nicht mehr hätte aufhalten können. Er sah wie Jörg die schnell gebildete Kette der Abwehr gleich einem Faden zerriß und den jungen Stadler, der mit einem drohenden: „Nimm Dich in acht, Kerl!" stehen blieb, förmlich in Grund und Boden rannte. Was weiter geschah, konnte Heinrich nicht verfolgen, weil nun sogleich alle drauf zustürzten, zu einem wirren Knäuel geballt. Aber kaum er selbst wieder auf den Beinen stand, da knallte ein Schuß. Die Männer fuhren aus, einander, der Student, mit der Waffe in der Hand, aus Mund und Nase blutend, sprang auf den Jörg— bei Gott ! blieb hingestreckt liegen. „Es hat mich— der Galgensiech l" stöhnte er nur mehr schwach und fiel darauf gleich in Ohnmacht. Keiner vergriff sich an dem schnöden Schützen, der doch den Streit frech be- schworen hatte. Keiner ließ auch nur ein leises Wort des Tadels fallen. Elende, feige Knechte und Duckmäuser um standen sie den überzwerchen Herrcnsohn, der sich mit Schnee Gesicht und Hände wusch, und sagten sich schlau:„Was geht es mich an? Ich will mir da keine Suppe einbrocken!" Ein geborener Schubiak und Speichellecker zeigte sogar unver- froren auf Heinrich Andcregg:„Der ist an allem schuld! Hütt' er sein Maul gehalten!" Der Beschuldigte hörte es nicht mehr. Nach einem ein- zigen Blick auf die todankündenden Züge seines treuen Rächers lief er, was der Boden gab, dem Tale zu. Die anderen machten Jörgs Schlitten zum Transport zurecht. Aber wirklichen Gewinn zog nur einer aus diesem Handel, und das war der versoffene Schreiner Frick, der einen guten Moment erpaßte und das vergessene Zehnfrankenstück schnell in einem Stiefclschaft verschwinden ließ. » Mit der Kantonsrätin ging es zu Ende. Die zunehmende Herzschwäche hatte noch die Wasiersucht im Gefolge, und in den letzten Märztagen erklärte der Arzt, daß der Tod nicht mehr aufzuhalten sei. Die Kranke fühlte es selbst am besten, denn das Atemholen wurde ihr von Tag zu Tag schwerer. Die Erstickungsanfälle wiederholten sich rasch, und endlich wünschte sie nichts sehnlicher herbei als ihr letztes Stündlcin. Am Morgen des Tages, der die Erlösung brachte, hatte sie Sohn und Tochter noch einmal allein an ihr Bett gc- rufen. Eine Menge teurer, köstlicher Erinnerungen aus deren Kindheit bestürmte die scheidende Seele. Wahrlich, sie
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26 (22.12.1909) 248
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