Anterhaltungsblatt des vorwärtsNr. 253. Mittwoch, den 29 Dezember.!.9()9(NachdruS perSote*.)21] �obelvolh.Eine Dorfgeschichte von Paul Jlg.Das war nun geschehen. Das schon sehr weit gediehenePaar bewohnte die drei Vorderräume des oberen Stocks: einehübsche Stube, die gemeinsame Kammer und ein„Studier-zimmer". wo Heinrich, dem Kinderlärm entrückt, ungestörtarbeiten konnte.In drei Tagen schon sollte die Hochzeit still, nur nach ge-setzlichem Brauch begangen werden. Es war ja auch wirklichmehr als hohe Zeit. Mareis Niederkunft konnte schon inwenigen Wochen eintreten.Heinrich sah eben dem aufziehenden Naturereignis zu.Er spürte Lust, sein in der Hitze ohnehin nicht ergiebigesStudium zu beschließen, den Rest des Tages mit der Angel-rute zuzubringen. Am Wasser verlebte er jetzt seine schönstenStunden. Ob er dann fischte oder nur faul am Rande lag—gleichviel, es war ihm unaussprechlich wohl dabei, so, alsdürfe er sich endlich einmal von Grund auf ausruhen von denSchrecknissen und Demütigungen der letzten Monde, von denverzwickten, unsicheren, bettelarmen Jugendläuften. Glückte' ihm gar ein guter Fang, so freute er sich darüber wie einKind, das zum erstenmal einen Fisch an der Angel zappelnsieht, und wenn er mit der Beute nach Hause kam, war ernoch stolz auf sein einfältiges Tagewerk. Marci hütete sichwohl, ihn Aerger und Kummer über die mit solchen Flausenvertrödelte Zeit merken zu lassen. Sie ahnte, daß seinmenschenscheues Faulenzertum die eigentliche Quelle der Ein-tracht war, die seit Wochen zwischen ihnen herrschte. Unddeshalb wies sie ihm selbst den Weg ins Schlaraffenland.„Du siehst mir zu elend aus. Schätzt Du brauchst jetztviel, viel Ruh' und Erholung. Tummle Dich, wie Dir's ge-fällt. Was willst Du Dir Sorgen machen? Haben wir hiernicht alles Nötige? Erst wenn Dich einmal so recht die Lustankommt, darfst Du mir wieder schreiben. Dann wird's auchmehr einbringen?" pflegte sie ihm zuzureden, wenn er inirgend ein gefährliches Brüten geriet.Sie hatte kaum bemerkt, wohin jetzt seine Blicke zielten,als sie ihn schon darauf ansprach:„Du, mir scheint, es ist heutgutes Fischwetter. Versuch's doch! Ich Hütt' auch gern wiederso ein paar fette Kretzer in der P saunet"Er hatte auf ihren Zuspruch gewartet, tat nun aber den-noch, wie wenn es ihn Ueberwindung koste, weil er zuweilenvor ihrer hausmütterlichen Regsamkeit erröten mußte.„Eigentlich— ich weiß nicht— ich bin da grad so schönim Zug"—„Ach bitte, tu mir doch den Gefallen! Du weißt ja. wiegern ich Fische esse, und wie gesund sie jetzt für mich sind!"Somit stand er befriedigt auf und suchte sein Zeug hervor.Eine Weile vergnügte er sich noch damit, die Hühner zunecken, indem er die Angel mit einem Klümpchen Brot versah,sie nach ihnen auswarf und schnell zuriickzoppte, wenn einsdanach pickte. Die Kinder kreischten dazu und klatschten in dieHände.„Soll ich Dir den Wettermantel und den alten Schlapp-Hut herunterholen?" Sie fragte, trotzdem sie wußte, daß erihr diesen Gang gern ersparte. Statt einer Antwort sprangHeinrich mit einem Satz an ihr vorbei und kam im Nu wiederangezogen zurück.„Aber erst mußt Du Dich noch einmal zu mir setzen, gelt!Nur ein paar Minuten!" bat sie dann im Schmeichelton mitihren Furcht, Liebe, Bewunderung spendenden, ausdrucks-vollen Nachtaugen. Sie rückte an die Wand; er ließ sich gut-mlltig neben ihr nieder, wie es nun schon lang seine Artwar: mit einem gewissen melancholischen Schickdichdrein, alstrage er recht schwer an ihrer Demut und Anhänglichkeit.„In drei Tagen"— Marei legte einen Arm um seinenHals und beugte sich vor, ihm zwei echte Glückstränen zuweisen.„Heißt das— wenn nichts dazwischen kommt!" meinte erlbeklommen, schier zerknirscht. Er dachte jetzt immer so:„Hütt'ich's nur erst hinter mir!" Seit dem Aufgebot war es ihm,als sei er der Hanswurst in allen Stuben. Auf hundertSchritte wich er jedem Menschen aus. Von seinen Bekannte»hatte er seit Monaten keinen mehr gesehen. Die zum Angel»geeigneten Stellen im Ried konnte er auf Schleichwegen er-reichen, im Wald war er vor peinlichen Begegnungen erstrecht sicher, und zu Haus traf er höchstens einmal den Post-boten oder eine alte Klatschbase der Nachbarschaft an. DieseWeltflucht geschah jedoch nicht aus Menschenhaß und Ver-achtung, sondern meist im Gefühl der eigenen Erbärmlichkeit,die sich umsonst hinter christlichen Motiven zu verbergenstrebte. Im Grunde mußte er sich doch sagen, er habe zu frühdie Waffen gestreckt. Das gemeine Behagen, zu dem ihm dieNächsten verhalfen, konnte er nicht zu einem Naturevange-lium erheben, obgleich er in solchen Schwärmereien Rettungsuchte. Auch die Umgebung kam ihm darin entgegen. SeineLaunen wurden mit größter Willfährigkeit wie die einesKranken ertragen, die kleinen Alltagswünsche las man ihmvon den Augen ab: er brauchte sich kaum zu rühren, weil alleHände ihm dienen wollten.„Meinst Du etwa wegen der Geburt?" fragte Marei leisezurück.„Ach, da sei Du nur ganz ruhig. Vor drei, vier Wochenwird wohl nichts geschehen. Aber kannst Du Dir denn garnicht vorstellen, wie froh ich darüber bin, daß unser Kind jetztdoch noch einen ehrlichen Namen bekommt? Der Vater hat esanfangs nicht glauben wollen. Der hat in diesen Tagen—sagt die Mutter— schon manchmal verstohlen geplärrt vorFreud'. Siehst Du, uns alle hast Du wieder froh gemacht,Hein! Ich kann Dir nicht sagen, wie! Und, nicht wahr. Dubereust es nicht? Oder?" Er hatte mit seinen Gedankenwieder einmal die bevorstehenden Ereignisse überflügelt. Vor-ahnend erblickte er jetzt das schadenfrohe, feiste Gesicht desVorstehers und Standesbeamten in dem Moment, wo er alsBräutigam mit der hochschwangeren Braut am Arm zurTrauung erschien. In seinem ganzen Leben, so reich an Er-niedrigungen, fand Heinrich keine, die solche Pein und Schamerweckte als dieser Gang, zu dem sich sonst nur die glücklichstenMenschen rüsten. Gab es davor wirklich keine Rettung mehr?Mußte er am hellichten Tage von Marei und den vcrpflich-teten Trauzeugen gleich einem Opfertier durchs Dorf geführtwerden, sich spießen lassen von höhnischen Blicken, lächelndenMienen?„Ueber was denkst Du nach? Du sagst jc kein Wort? IstDir etwas nicht recht?" forschte sie weiter, und in der Angstklammerte sie sich noch mehr an ihn fest, so daß er sich nur mitroher Gewalt hätte freimachen können. Ungehindert zog sieseinen Kopf an ihre heftig pochende Brust und lehnte sich rück-lings an die Mauer. So saßen sie in stummer, schmerzlicherUmarmung, Marei, gewürgt von der alten Furcht vor einerSinnesänderung, die sie ins graueste Elend zurückwarf,Heinrich, gewartet von Zweifeln der Pflicht und Schuld, dieseine Regungen der Scham und Freiheitsliebe nicht auf-kommen ließen.Inzwischen hatten die hängenden Wolken den ganzenHimmel bedeckt, die Landschaft lag verdunkelt da, Windschauerrührten die Blätter, die Blitze blendeten, und des DonnersGewalt erschütterte bereits alle bangen Gehirne. Aus demSaal kam Jörgs Frau gelaufen, die Kinder unter Dach zuschaffen. Auch die Hühner schlüpften gemach in den Stall.obwohl noch kein Tropfen gefallen war. Marei beruhigte sichzuerst. Aber sie harrte noch still, bis er von selbst aus seinerApathie erwachte. Dann beschrieb sie mit der Linken einenHalbkreis, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.„Wir haben es doch so gemütlich da oben, findest Du nichtauch? Unser Haus ist das schönste im Tobel, keins hat so eineschöne Aussicht. Und drinnen ist es jetzt doch auch nett undsauber. Können wir nicht zufrieden und glücklich sein?"Das Bild der aufgeregten Natur erfüllte auch ihn aufsneue mit der Gewißheit einer warmen Zuflucht und Häuslich-keit. Gerührt stützte er die Gesellin beim Aufstehen und ließes sich nicht nehmen, ihr den Halfen Stickware zu tragen. Inihrem Gang war nichts von der wiegenden Schlaffheit naherMutterschaft, sie schien sich noch so leicht und frei wie je zu be-wegen. Sogar die steile, dunkle Stiege erklomm sie ohneSeufzen, und nur ein blasses Lächeln verriet, als sie obenstand, die gehabte große Anstrengung.„Immer noch bin ich versucht, dahinein zu gehenl" sagte