Anterhaltungsblatt des vorwärts Nr. 1. Sonnabend den 1 Januar. 1910 (Nachdrua verbsten.l 1Z Im I>kamen des Gefctzcs. Von Hans Hyan . 1. Frau Hellwig, die wieder an ihrem Rheumatismus litt, hatte wenig geschlafen. Wie der Regulator sechs schlug, wollten ihr die Augen nochmal ein bißchen zufallen, aber nun ging's nicht mehr, sie mußte doch alle wecken!.... Der Mann neben ihr atmete mit einem Röcheln. Und ob- wohl es dunkel in der Stube war, sah sie ihn deutlich vor sich mit seinem breiten Gesicht, das der dichte, braune Bart um- rahmte, und der großen Glatze... auch die wässrigen Augen, aber das kam vom Trinken... Er war nie be» trunken, wahrscheinlich weil er so stark war, daß ihn seine Muskeln selbst dann noch aufrecht hielten... Aber ihr war er widerlich, wenn er so roch... und ihn lieb gehabt, was man so richtig lieb haben nennt, nein, das hatte sie Wohl früher auch nicht. Sie war ein lustiges, sehr hübsches Mäd- chen gewesen und, wie sie vierundzwanzig Jähre alt war, kam Anton Hellwig, der damals schon dieselbe Meistcrstelle hatte wie heute... Und da heirateten sie sich,'nen Mann muß man doch haben!... Der großen, blonden Frau, die still auf ihrem Bett lag und in der Dunkelheit das weiche, blonde Schläfenhaar durch ihre mageren Finger gleiten ließ, kamen plötzlich die Tage ihrer Jugend alle wieder: Die Wege zum Geschäft hin und zurück, wo man gar nicht soviel Herren abweisen konnte, wie einen ansprechen und begleiten wollten! Und auch die Arbeit selber, wenn's auch manchmal scharf genug herging und sie einen Sommer sogar nach Belzig gemußt hatte, in die Lungenheilstätte, wo der eine Arzt so lieb gewesen war zu ihr wie ein Bruder... Ach, das fiel ihr jetzt plötzlich alles wieder ein!... Und dann— er!... Frau Martha ward rot, sie fühlte das Blut in ihren Wangen und ein sehn- süchtiger Seufzer, der dieser vor zwanzig Jahren begrabenen Liebe galt, schwellte den welken Busen... er, der so lieb war, der der erste gewesen war, bei ihr... und um den ihr jetziger Mann so schrecklich eifersüchtig gewesen war... Was er immer für ein feines Parfüm getragen hatte, noch jetzt meinte sie. den Duft zu sich herüberwehen zu fühlen... Und wie er küssen konnte!... Kling!.. Die Uhr schlug halb sieben Um halb acht mußte Hellwig in der Fabrik sein. „Du, Mann!...'s is Zeit!... komm. Du mußt raus!..." Er knurrte böse. Sie wiederholte.„Du mußt raus!" Schließlich brummte er:„Na ja, ich weiß ja schon?... laß doch..." Sie war inzwischen draußen und hatte die Lampe an- gesteckt. In dem mittelgroßen Raum standen noch zwei Betten, rechts an der Wand eins, hinter dem grünen Schirm, darin schlief Ella, die Siebzehnjährige, die ins Geschäft ging. Und dann bei der Tür eine eiserne Bettstelle, wo der jüngste, Fritz, und Mascha, eine kleine zehnjährige Böbmin, drin lagen. Fribchen war fünf Jahre alt, ein blasser Spätling, der ewig Nasenbluten hatte und die ganze Familie tyrannisierte. Und die Mascha, die eigentlich Maruschka hieß, war eines schönen Tages aus Böhmen gekommen, als eine mit Hellwig cnt- fernt verwandte Waise. Aber wie die Mutter jetzt in die Küche ging, mußte sie vor allen Dingen ihren ältesten Solm Georg wecken, der in einer Knopffabrik arbeitete und dessen Arbeitsstelle so weit entfernt war, daß er früher fortmußte als der Vater, ob- wohl seine Arbeitszeit eine halbe Stunde später anfing. Die Frau zog dem jungen Mann zuerst die Decke über den nackten Körper, es genierte sie, daß er da so unvcrhüllt lag... und er mußte doch auch frieren in der kalten Küchel Und dann ging sie daran, ihn zu wecken, was immer ein Stück Arbeit war. „Jeorrich!... Jeorch!" ..... Ja... ja.." lallte er schlaftrunken, und dabei glitt ein flachen über sein Gesicht, das die Frau, sie wußte nicht warum, erschrecken ließ. Dann schlief er fest weiter. Frau Martha rüttelte ihn an der Schulter. „Jh. Du Aas!" sagte er im Schlaf, wieder mit dem lachenden Gesichtsausdruck und machte sich frei. Und dann sagte er etwas, was der Frau die Rite der Scham in die Wangen trieb. Er träumte cffenbar von seinem Mädel l Jetzt wurde die Mutter wütend und schimpfte laut. „Mach', daß Du raus kommst. Du großer Lümmel! jedesmal muß man'ne Stunde wecken!... Du!... schämen sollste Dich, daß Du fortwährend an sowas denkst!." Der Vater, der inzwischen auch herausgekommen war, fragte, noch ganz verschlafen und sicheilich nicht in der besten Laune: „Wat is denn los?... was?..." Nun mochte es die Frau doch nicht sagen. „Er tut immer so, als wenn er nischt hcert.. „Jeorch!" Der Alte schrie. „Na, was denn?" Der junge Mann saß mit einem Male vollständig wach im Bette auf. „Raus sollste!" „So wie icke?" „Na frage doch nich so dämlich l" ,%d frage, wie ick will!..." „So!... Na, denn werk Dir ma zeijeii, wie sich'n Sohn zu sein' Vata'n zu bcdragen hat!.. „Na, zeige doch mal!" Der junge Mensch blieb ganz kühl. Und der Vater ging schimpfend und wetternd wieder ins Schlafzimmer hinein. Der Kampf zwischen ihnen beiden war längst ausgekämpft. Und der Vater hatte ihn verloren, als Georg eines schönen Morgens die Rechte, die ihn schlagen wollte, packte und init überlegener Kraft festhielt. Drin in der Stube plätscherte es. Ella war aufge- standen und wusch sich hinter ihrem Schirm. Dann kam sie in die Küche, halb angezogen, in Rock und Taille und sagte zu ihrem Bruder, der noch im Hemde herumging und sich eben am Ausguß waschen wollte. „Altes Schwein, Du!... kannst Dir doch wenigstens 'ne Hose anzieh'n!" Er drehte den Wasserlcitungshahn auf und wusch pustend Gesicht und Hände, dann trocknete er sich an dem nicht eben sauberen Küchenhandtuch ab und zog sich, ohne im geringsten auf Mutter und Schwester Rücksicht zu nehmen, auf dem Vettrand sitzend, die Hosen a». Frau Martha stand am Herde und kochte Kaffee. Ella war am Fenster damit beschäftigt, ihre Stiefel mit Creme einzureiben. Sie machte das so geschickt, daß die kleinen, weißen Finger keinen Fleck bekamen, wie sie denn auch den Stiefel von ihrem seidenen Unterrock vorsichtig ent- fernt hielt. „Mechte bloß wissen," meinte Georg laut gähnend,„wo Du alle die feinen Sachen herkriegst, Ella?... Ick kann ma' keene seidenen Untahoosen koofen un soviel, wie Du, soviel vadien' ick doch ooch!... Un die Stiebeln, die De da hast, die kosten doch ooch ihre finfunzwanzig Märkcr, un det Korsett..." „Kummer' Dich doch um Deine Sachen!" sagte Ella, bei deren tveißer Haut man das Erröten bis in den ent- bläßten Hals hinein sehen konnte,„Du schenkst mir doch nischt!" „Nee, ich nich!" meinte t�eorg mit Betonung. Da kam Frau Martha ihrer Tochter zu Hilfe. „Wir Frauen rauchen eben nich... un trinken nich..« Daher kommt das, daß wa immer Jeld haben un uns was anschaffen könn'..." Der Sohn lachte nur kurz auf. Wie er nach der Stube hinging, hielt er seinen sehr großen, breitschultrigen Körper ziemlich nachlässig. Plötzlich drehte er um. ging zu dem Mädchen, das jetzt die zierlichen Cbevrcauxstiefcl mit einem Wollcnlappen blank rieb, heran und sagte: „Hübsch biste ja, dis muß da der Neid lassen! Aber da sollste da doch lieba'n orn'tlichen Arbeeta nehm, wie son faulen Jungen, der da erst um Deine Jungfernschaft be- driegt. und nachher läßt er Dir sitzen!..." Er kam nicht weiter, das schöne Mädchen hatte die
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27 (1.1.1910) 1
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