Mnterhaltungsblatt des Vorwärts Nr. 45. Freitag> den 4 März. 1910 (Nachdrua verboten.) 45] Im JVamen des Gcfctzeo. Von Hans Hyan . Es wurde Kurt von Solfershausen sehr, sehr schwer, an das Bett heranzugehen, in dessen rote Atlasdecke Ella ihr träilenüberströmtes Gesicht vergrub. Er hatte so gar kein Recht mehr an sie, und ihr großer Schmerz war ihm, der sie ja so gilt kannte, der beste Beweis, wie wenig würdig sie sich seiner fühlte. Die Ungewißheit, wie er sich selbst da benehmen sollte, machte ihn ganz linkisch..., denn da wieder anknüpfen, wo ihr Verkehr am Tage jener fürchterlichen Gerichtsszene mit Mieze Blankenstein aufgehört hatte, das fühlte er— ging nicht. Und wenn seine Zärtlichkeit und Güte forderte, er sollte die Aermste mit„Du" anreden und sie behandeln wie damals, so sprach dagegen ein starkes Empfinden des Los- gelöstseins von dieser Frau, die, mochte auch alles ihr zur Entschuldigung dienen, doch seither ein Geschäft aus ihrer Liebe gemacht und ihren Körper für Geld hingegeben hatte. Die Situation war peinvoll, da sagte die Mutter mit ihrer vom vielen Weinen heiseren Stimme: „Ach. Herr Rechtsanwalt, Sie kommen, als wenn der liebe Gott Sie geschickt hätte.... deswegen war ich ja gerade bei meiner Tochter!... Aber die Ella wollte partuh nich! So gut se auch is, denn davor, daß nu alles so jekomm is, davor kann se ja nichts!... un da sagte ich, weil se mir früher er- zählt hatte von Ihn', se sollte Hingehn, denn sehn Se mal, wir haben doch nu keen Menschen mehr auf de janze Jottes- Welt!... Alle jehn se von uns wech, wie wenn wa de Pest hätten... selbst de Kinder unten uff de Straße!... Ich habe so'n Kleenen, der is erst sechs Jahre, und denn ham wa ooch'ne kleene Pflejetochter... denken se, mit die spielt noch em Kind?... je schreien:„Au, die ihr Bruder det is'n Mörder!" un denn renn' se wech..." Frau Hellwig schluchzte wieder so sehr, daß ihre Worte kaum verständlich waren... Kurt von Solfershausen war, unschlüssig hin- und her- gehend, an die Gramgebeugte herangetreten und hatte, seine eigene Bewegung mühsam niederzwingend, ihr die Hand auf die magere Schulter gelegt. ..... un ich kann es nich jlaubenl", schrie die Frau auf. „er kann des nich jetan haben... ich kenn' doch von kleen uff j Un nie nich hat er was Böses jemacht!... Er war ja ojte trotzig un hat nich jehert, aber mein Mann... sehn se mein Mann, des is sone Beamtennatur l Der kann sich da nich reinfinden, des die Kinder jrößer wern und nich mehr so parieren wollen wie die janz kleenen... davon is ja bis mit unse arme Ella auch jekomm!..." Sie sahen beide zu der auf dem Bett Liegenden hin, deren Brust und Schultern heftiger zuckten, als sie ihren Namen nennen hörte... Kurt machte der Frau ein Zeichen und die begriff ihn... »Ja ja." sie schluckte und suchte ihren Faden mühsam wieder anzuknüpfen. „Für'ne Mutter is es schlimm... sehr schlimm..." Sie weinte und Kurt verstand nicht, was sie weiter sagte. Er näherte sich wieder dem Bett und flüsterte:„Ella!..." Ihn rührte es so sehr, daß sie selbst in dieser tiefen, in der bittersten Verlassenheit und Not, wo er vielleicht der ein- zige und nächste war, ihr und ihrer Familie zu helfen— daß sie selbst da zu schamhaft und zu scheu war, ihn wieder auf- zusuchen... „Ella!..." Sie wandte ihm ihr rotverweintes, von Schmerzen entstelltes Gesicht zu. Er erschrak: war die kurze Zeit des Lasters wirklich so deutlich zu lesen auf diesem Antlitz, das ihm noch vor so kurzer Zeit das Liebste und Schönste gewesen war? Sie aber hatte seine Bewegung bemerkt. Sie richtete sich auf und sah ihn mit einem unter den Tränen doppelt bitterem Lächeln an. als wollte sie sagen:„Sieh, das haben sie aus mir gemacht!" Und in überströmendem Mitleid trat er heran, nahm ihre Hände und zog sie empor... Mit gesenktem Kopf und weggewandtem Gesicht stand sie vor ihm und murmelte Worte, die er nicht verstand... Die Frau in seinem Rücken, der die Nachricht von dem blutigen Verdacht, unter dem ihr Sohn stand, in einer Nacht das Haupt mit Schnee bestreut hatte, erhob sich. „Ich jehe jetzt...", sagte sie, wie um Entschuldigung bittend, daß sie die beiden, die sich so traurig und verändert wiederfanden, störte...„ich muß wech... mein Mann.. und sie schluchzte wieder,„mein Mann hat'n Schlaganfalk jehabt..." „Um Gotteswillen, das ist ja entsetzlich!" Kurt hatte Ellas Hände losgelassen und griff in die Brusttasche. Aber das Mädchen trat zwischen ihn und die Mutter. „Nein, das will ich nich!... Ich habe ihr schon jejeben, nicht wahr, Mutter... un jebe Dir auch wieder!... nu jeh man, Mutter... jeh man!... un jrüß die Kinder!'s wird schon alles noch gut werden!... wenn.. sie sah Kurt an, „wenn Herr Rechtsanwalt..." Er machte eine unwillige Bewegung, aber sie fuhr köpf- nickend fort:„Wenn Herr von Solfershausen uns hilft... denn wird Jeorch jewiß nich..." „Nein, nein." schrie die Mutter auf. Und sich vor Kurt auf die Knie werfend, sagte sie mit einer eigentümlich lauten, gellenden, überhasteten Stimme, der das Ohr kaum zu folgen vermochte: „Bloß das nich, Herr Rechtsanwalt! Alles, bloß das nich! Er war ja doch so jut! Sie jlauben janich! Un unsere beiden Kleenen, die ham sich reenewech umjebracht nach ihn!... Un fragen jeden Tag!... Un mein Mann... un ich!... ach, Herr Rechtsanwalt, bloß das eine nich! Um Jottes Barmherzigkeit willen! Bloß das nich!..." Kurt, der Mühe hatte, seine Tränen zurückzuhalten, hob die Frau auf und versuchte, ihr Trost zusprechend, sie wieder zum Sessel hinzuführen... Aber sie wollte nicht bleiben... Sie könnte nicht... die Kinder hätten noch kein Mittag und ihr Mann läge ganz hilflos in der Wohnung...„Es is de rechte Seite, Herr Rechtsanwalt... un wird ja auch woll wieder werden... wenn bloß das... das mit Jeorch... ach, Sie jlauben ja janich!... Wenn er ooch oft so jeredet hat, er war ja doch so stolz uff'n!... Mein Gott!... mein Gott!..." Sie schien ganz wirr im Kopfe, ging schnell auf ihre Tochter zu und schloß sie in die Arme. So weinten die beiden Frauen dann noch eine Weile, dann machte sich die Mutter los und ging. Kurt von Solfershausen begleitete sie zur Tür hinaus auf den Korridor. Er hatte das Gefühl, die Wirtin würde aus irgendeinem Grunde der Frau auflauern und hatte sich auch nicht getäuscht. Draußen steckte er Ellas Mutter, nachdem das Weib im blauen Schlafrock sich bei seinem Anblick zurückgezogen hatte, trotz ihres Widerstrcbens einen Hundertmarkschein in die Hand. „Für die Kinder!" sagte er leise, dann schob er die ihn mit feuchten Augen anblickende Frau zur Tür hinaus. Ella saß, als er wieder ins Zimmer trat, auf der Kante des Sessels und hatte den blonden Kopf zwischen die auf der rotsamtenen Tischdecke verschränkten Arme gelegt. Kurt streichelte leise ihr Haar... er hätte sie küssen wollen, aber fein Gefühl sträubte sich zu heftig dagegen. Sie schaute ihn an, mit demselben trostlosen Blick wie vorhin, und sagte mit tränenumflorter Stimme: „Ich kann Sie gar nich ansehen!... Wenn ich so dran denke, wie früher alles war, denn... ach!... mit einem wilden Aufschluchzen,„es ist zu schrecklich!..." „Aber es handelt sich jetzt nur um Ihren Bruder!", sagte er leise mit ernster Stimme... „Ja, ja, aber ich bin doch noch so jung... und nu... nu is alles vorbei!..." „Nein, Ella, keineswegs!... Ihr Leben ist noch lang... Sie können und werden es ncch mal anfangen! Und ich helfe Ihnen dabei!..." Da griff sie nach seinen schönen, schlanken Händen und preßte sie an ihre fiebernden Lippen, daß es Kurt schmerzlich durchfuhr... „Nicht doch!", flüsterte er.„nicht doch!" und streichelte, sich freimachend, ihre erhitzten Wangen...„Wir dürfen
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27 (4.3.1910) 45
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