©ie hatte immer das Gefühl, als mühte sie ihn irgendwo sehen. Jeder dunkle Gegenstand nahm in ihren Augen seine Form an. Einmal glaubte sie ihn zu sehen, und als sie näher kam, fand sie eine Steinsäule. In jede Ecke blickte sie. Sie wollte sich selbst nicht arstehen. daß sie i h n dort suchte, aber sie erwartete doch jeden Bugenblick, datz sie ihn irgendwo stehen oder sitzen oder liegen sehen müsse. So träumend und taumelnd war sie ein ganz Stück weg- gekommen von dem Hause, wo sie wohnte. Sie kam erst wieder recht zur Besinnung, als sie einen Schutzmann bemerkte, der auf sie zukam. Schnell drehte sie sich um und ging wieder heimwärts. Im Hause waren schon alle zu Bett; nur bei ihr brannte noch Licht. Schon wollte sie zum Hoftor hinein, als sie sich noch einmal umdrehte und in der entgegengesetzten Richtung etwas Schwarzes am Gartenzaun lehnend zu sehen glaubte. Aengstlich ging sie darauf zu. Es war ein Mann. Ihm schien es unwohl zu sein, denn er hielt sich fest am Zaun. Bis auf ungefähr zehn Schritt ging sie an ihn heran, dann rief sie, erst leise, dann lauter: „Adolf I" Keine Antwort, aber der Körper bewegte sich. Sie sah sich um. Kein Mensch war zu sehen; auch der Polizist war verschwunden. Nochmals rief sie, lauter als vorher: „Adolf!* Der Mann gab ein paar unverständliche Laute von sich. Sie glaubte seine Stimme erkannt zu haben, halb erschrocken, halb erfreut. Jetzt ty>t sie näher. Furchtlos sah sie nach seinem Gesicht, das man so schlecht sehen konnte, weil er den Kopf hängen ließ. „Du bist'S I" kam es ihr über die Lippen. Sie zitterte. Der Mann hob den schweren Kopf und blickte nach dem Störenfried. Allerhand Zeug nuschelte er durch die Zähne. Er lies den Zaun los und wollte laufen, taummelte ein paar Schritte und fiel dann der Länge lang auf den Fußweg. Berta fing an zu weinen und wollte ihm aufhelfen. Mit ein paar Verwünschungen stieß er sie von sich. „Du kannst doch nicht hier liegen bleiben/ jammerte siel Er gab keine Antwort, suchte vielmehr seine Lage so angenehm als möglich zu gestalten, mit der zweifellosen Absicht liegen zu bleiben und die Dinge kommen zu lassen, ivie sie wollten. Sie war ratlos. Hier liegen lassen konnte sie ihn doch unmöglich. Ein Mann ging vorüber, schien sich aber nicht um die beiden zu kümmern. Gern hätte sie eS bezahlt, wenn ihn jemand in seine Wohnung gebracht hätte. Aber wer? Wen» nur jemand käme, der ihr helfen könnte. Aber eS war, als ob die Welt rein ausgestorben sei. Nur der Mond lachte grinsend auf sie herab. Fast war sie verziveifelt neben dem Regungslosen zusammengebrochen. Sie beugte sich über ihn, redete ihm freundlich zu, daß er mitkommen solle. Dann schüttelte sie ihn und versuchte ihn aufzurichte». Schwerfällig sank er aber wieder hintenüber. Sie wollte ihn init zu sich nehmen, mochten die Leute denken und sagen, was sie wollten. Wohl eine halbe Stunde kauerte sie schon neben ihm. Es fror sie bereits. Noch einmal wollte sie es versuchen. Vielleicht ging er doch endlich mit. Nach langem, freundlichem Zureden versuchte er sich aufzu- richten. Das Mädchen nahm ihre ganze Kraft zusammen und stützte ihn. Mit der einen Hand am Zaune forlgreifend, von der anderen Seite von ihr gestützt, schleppte er sich bis in den Hof. Dort hörte der Zaun auf; er fing an zu torkeln und fiel wieder um. Bis an die Haustür werde ich ihn schon bringen, dachte sie, Aber dann? Die drei Treppen hinauf, das würde vielleicht nicht gehen. Vielleicht hilft dir jemand, redete sie sich ein, du mußt rrgendjemand wecken.— Sie wußte ganz genau, man würde ihr fluchend die Tür vor der Nase zuwerfen. Also— mußte sie es chon allein versuchen. Während sie so überlegt hatte, war er wieder eingeschlafen. Sie weckte ihn. DieSnial stand er williger auf. Mühsani schleppten sie sich bis zur Haustür. Er mußte jetzt doch überzeugt sein, daß sie eS gut mit ihm meinte, denn er gab sich Mühe, eS ihr so leicht als möglich zu machen. Langsam ging es die Treppen hinauf. Mit der Rechten hielt «r sich am Geländer fest. Berta hatte ihn gleich richtig mit dem Arm umfaßt und trug ihn halb hinauf. Ost, wenn er in die Knie 'sank und sich hintenüber beugte, hatte sie die ganze schwere Last seines Körpers in ihren Armen. Und einmal fehlte nicht viel, daß sie ihn hätte fallen lassen. Doch die furchtbare Angst und Erregung gaben ihr Kräfte, die sie für gewöhnlich nicht besaß. So hatte sie den Betrunkenen bis zur Hälfte der zweiten Treppe hinausgeschleppt. Bis hierher war cS gegangen, doch jetzt war sie so erschöpft, daß ihre Kräfte sie zu verlassen drohten. Der Mann stieg nicht weiter; er knickte vollständig in sich zusammen. Verzweifelt hielt das Mädchen den Körper, aus dem alles Leben gewichen schien, in ihren Armen. Sie bebte und wollte schreien. Die furcht- bare Erkenntnis der Gefahr schnürte ihr die Kehle zu. Sie fühlte, ivie der Körper langsam, ganz langsam aus ihren Armen glitt. Entweder sie ließ los oder sie stürzten beide hinunter. Ein letztes, verzweifeltes Anstrengen der Kraft. Dann wider- hallten dumpf im Haus die Schläge eines aufschlagenden Körpers und der Aufschrei eine? zusamnicnbrechenden Weibes brach sich an den Wänden, Und alles war wieder still.-------— Vier Wochen nach diesem Vorfall wurde auf dem Friedhof ein Mann als Armenleiche beerdigt. Niemand war gekomme», um ihm das letzte Geleit zu geben. Niemand weinte um ihn. Rur ein bleiches, hageres Weib stand am Grabe und schluchzte. Es war die Einsame. Sine neue Völkerkunäe. Die Völkerkunde alten Stils rangierte als Wissenschaft vielfach auf dem Niveau des Briefmarkensammclns. Man grub Tops- scherben aus, maß die Schädel nach allen Dimensionen und handelte bei fremden Völkern bunte Gerätschaften ein, die dann in den Schränken nach irgendeiner Methode oder auch ohne diese aufge- stapelt wurden. Auch heute kann man noch ähnliche Eindrücke aus dem Berliner Völkermuscum mit fortnehmen, wenn man den Vcr- such wagt, sich dort mit Lebensgefahr zwischen den Schränken hin- durchzuquetschen. Allerdings sind hieran nicht die Gelehrten des Hauses schuld, sondern eine Regierung, die es zwar versteht, Bode- sche Wachspuppcn in lichten Prachträumen zu beherbergen, die sozial bedeutsamste aller Sammlungen aber aus Mangel an Raum zu einer Art von vollgepfropftem Fundbureau oder Produkten- »iederlage engros verkommen läßt. Vielleicht liegt eine höhere staatsmännischc Absicht darin, das ethnologische Material auf diesem Umwege der Benutzung und dem öffentlichen Studium der Besucher zu entziehen. Denn der Inhalt der gläsernen Spinden riecht eben nicht bloß nach Mottenkampfer, sondern auch nach Sozialwissen- schaft. Zur fruchtbaren Verwertung der ehemaligen Raritätenkabinette gelangte man durch das. Vergleichen der einzelnen Dinge untereinander und das Hereinbeziehen anderer Wissensgebiete. Die sogenannten Küchcnabfälle(Kjötkenmöddingerj an den däni- schen Ostseeküsten hielt man anfangs für vom Meer zurückgelassene Muschelbänkei bis man vergleichend fand, daß es genau dieselben Reste von Schaltieren und armseligen Geräten wären, die Darwin bei den Feuerländern gesehen hatte. Es lag also der Rückschluß nahe, daß wir in den Feuerländern eine ähnliche Stufe der Eni- Wickelung vor uns haben, wie sie die Menschen der Kjökkenmöddinger einst einnahmen. Wichtiger noch ist die Umkehrung dieses Er- kenntnissatzes. Denn die Feuerländcr als solche können uns un- möglich so intensiv interessieren, daß wir sie zum Mittelpunkt einer ganzen wissenschaftlichen Betrachtung machen. Sobald wir aber die Kjökkenmöddinger-Leute, das heißt die Vorfahren unserer eigenen Rasse oder zum mindesten die früheren Insassen unseres Land- strichs in den Brennpunkt der Betrachtung setzen, gewinnen wir eine unerwartete Bereicherung in der Kenntnis des Entwickelungs- ganges unserer Voreltern. Wir haben nicht mehr bloß die Küchen- abfülle vor uns, sondern gleichsam in einer lebend gebliebenen Toppelausgabe auch die Menschen, von denen sie herrühren. Man wird also auch weitere Fragen, wie etwa nach den gesellschaftlichen Zuständen der Kjötkenmöddinger-Leute, hin beantworten können, daß sie ebenso oder ähnlich wie bei den Feuerländern gewesen sein müssen. Aus diesem beliebig gewählten Beispiel erkennt man eine der grundsätzlichen Methoden, mit denen die neuere Ethnologie arbeitet. Der primitive Mensch von heute(wie man jetzt die„Wilden" besser benennt) gilt uns als ein Spiegelbild davon, wie unsere eigenen Vorfahren vor unvordenklichen Zeiten beschaffen waren; dem körperlichen Aussehen nach nur teilweise(Eiszeitmenschen=: Australier), fast ganz aber in ihrer geistigen Kultur und ihrem sozialen Dasein. Ist einmal die Richtung erkannt, die die Eni- Wickelung der Menschheit bisher genommen hat, so wird sich auch ihr zukünftiger Marsch in seinen Umrissen im voraus skizzieren lassen; und damit wird die ganze Untersuchung höchst aktuell. Es mag gleich gesagt werden, daß die..W issen schaft vom Menschen" lwie das Dreigestirn Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte zusammengefaßt bezeichnet werden kann) von diesem Erkenntnisziele vorläufig noch weit entfernt ist. Das Sammel- Material ist noch viel zu ungesichtet und bei der Vcrgleichung mit den Primitiven sind wir über zahlreiche mitwirkende Faktoren(wie geistige Fähigkeiten der Rassen, Völkerwanderungen, Tradition, Entlehnung, ursprüngliche Erfindung, Wechsel und Einfluß der geographischen, geologischen und klimatischen Verhältnisse usw.) noch zu sehr im Unklaren, als daß sich ein einfaches Schema der gc- samten Menschheitsentwickelung aufstellen ließe. Aber in der Erkenntnis von Einzelheiten sind wir bedeutend fortgeschritten. Zum Beispiel konnte Heinrich C u n o w schon 1836 den Historikern den gerechten Vorwurf machen, daß sie aus reiner Unkenntnis der Völkerkunde an einer verkehrten Auffassung unserer eigenen frühesten Agrarzustände festhielten. Wie die Menschen der Steinzeit ihre viele Tonnen schweren megalithischen Denkmäler aufrichteten, schien anfangs ein Rätsel. Man mutmaßte die Er- richtung schiefer Ebenen aus Erde zum Hinaufwälzcn der gcwalti- gen Decksteine auf die Grabkammern. Die vergleichende Unter- suchung ermittelte indessen, datz primitive indische Stämme noch heute 8 Meter hohe Monolithe nur mit Walzen, Hcbebäumen und Seilen aus Rohr bewältigen. Bei Ausgrabungen in der alten böotischen Stadt Orchomenos stieß man in den tiefsten Schichten auf vorgeschichtliche Rundbauten, unten mit runder Steinsetzung, darüber Reste einer kegelförmigen Lchmwölbung. Genauere Auf- klärung über diese Bauart ergab der Lehmhüttenbau der Kurden in Vorderafien und der Musgu ie, Jnncrafrika, die mit jenen