J�euc ßelletriftlft Der stolze Lum penkram. Roman von Annemarie V. Nathusius. Verlag Otto Janke, Berlin . Konfrontiert man diesen Anklage- und Bekenntnisroman der jungen Annemarie v. RathusiuS mit den erbaulichen Schriften ihrer Großmutter, der Familienschriftstellerin NathufinS, die frömmelnd unsere Vorfahren labte, so könnte man die Enkelin beinahe eine Revolutionärin nennen. Schon daß die Enkelin ihrem Buch einen Nietzsche-Zarathustraspruch als Motto voransetzt, würde dem piettsttschen Herzen der alten Dame einen Stich geben, im Grabe aber würde sie sich umdrehen, könnte sie noch lesen, wie der junge Sproß ihre? adeligen StanimeZ fich hier mit muttger Offenheit gegen das Junkertum auflehnt und die Ritter ohne Furcht doch reich an Tadel, jene zeitlebens sorglosen Standesherrchen, die im Jagen, Reiten, Praffen völliges Genügen finden, in der ganzen Oede ihres Schmarotzerdaseins zeigt. Die Verfafierin— man darf sie wohl mit der Heldin ihres Roman» identifizieren— ist am eigenen Schicksal der Hohlheit, der Berlotterung. der Brutalität dieses repräsentativen Junkertums inne geworden, und in einer herzlosen, wüsten Ehe mit einem solchen uniformierten Helden find ihr die Augen und die Gedanken aufgegangen. .Nicht woher ihr kommt, mache fürderhin eure Ehre, sondern wohin ihr geht", setzt Marie v. RathusiuS an den Anfang ihres Romans. Die Aristokratin sieht in den Vorrechten der Geburt, in der privilegierten StandeSehre und dem daraus entspringenden, nach außen glänzenden Leben nichts als stolzen Lumpenkram. Sie denkt darüber nach,.wohin sie gehen", diese aufgeblasenen«userwählten. Haben sie ein Ziel, es sei denn: m Wohlleben zu protzen; haben sie Ideale, diese Genüßlinge? SS könnte ein großer Umsturz über unS kommen, sagte die Tochter de» Junkertums, wie erbärmlich, wie hilflos würdet ihr Aristokraien, eurer Privilegien, Schemherrichast und Titel beraubt, dann am Boden liegen l Im übertünchten Elend ihrer Familie, die ihr gewiffenloS spekulierender Bater an den Ruin brachte, in ihrer nur durch Sinnenreiz zusammengekitteten Ehe wird es ihr offenbar, daß hinter dem täuschenden Schein und den großen Gebärden der Standesherrschaften nur Ohn- macht und Stumpfsinn verborgen find. Ihr Geist aber sehnt fich nach reinem Menschentum. Diese Sehnsucht gibt ihr die Kraft, sich aus dem herabziehenden Sumpfe der junkerlichen Titelmenschen zu retten, hinüber in jenes fteie, von Traditionen losgelöste Leben der Nur«Menschen, das eine Aufgabe und einen Sinn kennt. Sie löst die Ehe mit dem Manne, mit dem fie nur Geschlechtstaumel verband, und lernt das höchste und beseligendste: Arbeiten. In ihrem Absagebrief rekapituliert fie leidenschaftlich ihre Entdeckungen, die ihr den Ekel vor der aristokrattschen Sippe beibrachten und fie die Neberwindung des.stolzen LumpenkranrS" lehrten. In diesem Schlußbriefe erhebt fich die Verfafierin zu innerster Klarheit, und eine scheue Glut des Herzens gibt der Sprache ihren Impuls. Nicht durchweg beherrscht fie m den vorangehenden Kapiteln ihren Stoff; die Gepflogenheit der Frauen, zuviel Dinge auf einmal, und somit keines richttg zu Ende zu denken, bringt auch hier in Reflexion, Form und Stil eine Lockerung des Themas, und die GesellschaftSpsychologie wird zuweilen stark von rein weiblichen Empfindungen beeinflußt. Sieht man tiefer, so will es scheinen, als ob die Verfafierin stärker als Weib denn als sozial Fühlende enttäuscht worden wäre. Eine etwas romantische Sexualität läßt sie ihren DurchschuittSmann, der als Beweisfigur für die Unterwerttg- keit der Junker hingestellt ist, ewig mißverstehen. Phantastisch spukt im Kopf der Autorin eine Vorstellung vou ritterlicher Erotik, die sich meines Erachtens mit der herkömmlichen Natürlichkeit auf Kriegsfuß stellt. So bleibt zwischen dem Dutzendmann mit der begehrlichen Männlichkeit und dem hypersenfittven Weibe eine stete Spannung. Aus dieser Spannung keimt hauptsächlich die Revolution der Autorin; dieses Gefühl wird man nicht los. Erst am Schluß werden die Romanelemente, die vorher immer mitspuken, abgestteift, und die Verfafierin ringt fich zur Konzenttation durch. Das Buch ist um so imeressanter, als Marie v. Rathnfius eigentlich ihre innerste Verliebtheit in daS feudale Leben nicht verbergen kann, sich instinktiv gegen.Wichsstiebel und Röllchen" aufbäumt— daS Halali ist ihr die Fanfare der LcbenSfteude— und dennoch die tiefere Er- kenntnis in ihrem Herzen siegt. � Leon FrapiS: Die F i g u r a n t i n. Richard Sattlers Verlag, Leipzig . Die Geschichte des Dienstmädchens oder vielmehr die Tragik des Dieiistbotenschicksals in einem.sozialen Roman zu gestalten, hat schon Klara Viebig in ihrem Zweibänder.Das tägliche Brot" versucht. Auch die Goncourts haben in Germinie Lacerteux die Dienstmädchenpsyche der Bettacktung für wert gehalten, wenn- gleich es weder ihnen noch der Viebig gelang, in ihrer episoden- reichen Schilderung tendenziös gefärbter Einzelfälle das Problem Herrschaft und Gesinde in seiner ganzen tieferen Bedeutung aufzurollen. Auch Frapie faßt seine Aufgabe noch zu romanhast; ein bißchen Kolportagegeist hat sich in seine Ausführungen ein- geschlichen. Der Autor stellt in seinen sozialen und kulturellen Streiflichtern die Komik der Dinge zu absichtlich in den Vorder- grund, bei aller Ironie ist das ÜnterhaltungsbedürfniS der Menge zu sehr berücksichtigt, so daß sein Buch ernstlich aufzurütteln wohl kaum vermag. Mehr als die Nöte der Dienstboten spiegeln sich bei Frapiü die Herrschaften, und daS ist vielleicht nicht weniger wichtig für eine Umkehr im Barbarentum der Arbeitgeber. Suletle ist das Mädcher vom Lande, das in den Sumpf de» Großstadt gerät,»ort den Gemeinheiten kleiner galliger Bürgers- leute, später den Verführungen großer Herrensöhne ausgesetzt ist, in die Hände von Kt pplerinncn gerät, natürlich eine Schwangersthaft mit dem dazu gehörigen Martyrium unehelicher Mutterschaft auf- gebürdet bekommt, nach und nach moralischen Bankerott macht und endlich selbst Glückszerstörerin wird, indem sie mit gleichgültigem Gewiflen und der Lust an Rache für die Unbill, die ihr das Leben zufügte, deu begehrlichen Lüsten erotischer Dienstherren gefügig wird. Man nmß zwischen den Zeilen zu lese,» verstehen, um den Weckruf auch dieses Buches zu verstehen. Manch' eine Dame wird vielleicht ein wenig nachdenklicher werden, findet sie hier ihre Mitschuldigen wirklichkeitsgetreu geschildert, denen fie gleicht wie ein Ei dem anderen. Ohne Hygiene, ohne Wohlwollen, ohne Freistatt der Ge- danken findet sie das Dienstmädchen zur Sklavin erniedrigt. Darf fie fich wundern, daß das Mädchen lieber auf die Straße geht und die sprichwörtliche Dienstbotennor heraufbeschwört? Wer ist dafür verantwortlich zu machen? Züchten sich die.feinen" Herrschaften nicht selbst ihre Feinde? Ist es eine sauberere Sache, wenn ein Dienstmädchen allen Schmutz der Herrschast auftäumen, ihren Staub einatmen und hinunterschlucken nruß und dafür nur eu cauailla behandelt wird? Schlimmer jedoch noch als die großen Sklaven- Halter find die kleinen. Die armseligen Krämerseelen, die Bourgeois mit kärglicher Pension oder knappem Verdienst, die es den feinen Herrschaften nachmachen wollen und zur Wahrung des Dekorums das Dienstmädchen als Figur antin brauchen. Hier hat solch ein verlaustes Geschöpf die Hölle; alle Niedrigkeit der Gesinnung übt fich an dem armen Opfer verschämter oder richtiger unverschämter Bettelwirtschaft. DaS Kapittl, in dem Frapiü eine verhungert« brutal« Familie dieser Art zeichnet, ist wohl das verdienstvollste d«S Büches; er hat fie gut beobachtet, die Herzensroheit, den erbarm- lichen Geiz, die drapierte Schäbigkeit, und er geißelt mit ironische» Treffficherheit die Ucberhebung deö standesgemäßen ProletentumS über das machtlose Proletariat, das für Lumpenlohn ausgebeutet und schikaniert wird. Der abenteuerliche Lebenslauf seiner Sulette ist als Geschichte an fich nicht allzu feffelnd, doch was der Autor von ftanzöfischen Verhältnissen erzählt, daS gilt auch für deutsch ». In der fünften Etage des Gesindes, in der alle Leidenschaften zusammenfloffen. dem großen Ventil angesammelten Grolls, wie bei uns die Gemüsekeller und Milchläden, werden kämpferische und resignierte Gefühle ausgelöst. Dem weiblichen Dienstboten fehlt der Schutz der gewerblichen Arbeiter. Wird Frapiös Buch einen Schritt weiter führen im Kampf um die Organisation der Dienst- mädchen? Sepp Schluiferer : Fern von Europa, München, Verlag Lothar Joachim. Da wir bei den Büchern der Geißelhiebe und Weckrufe find, muß auch dieses vortreffliche Büchlein ge- nannt werden, das das schöne Land Tirol ungeschminkt zeigt und darob einen neuen Tirol« Aufstand verursachte. Ludwig Thoma und Josef Ruederer haben in diesem famosen Kulturschildcrer Sepp Schluiferer , hinter dem fich ein Kufsteiner Lehrer verbirgt, der der Steinigung durch das biedere Gebirgsvolk nahe war, einen starken Kollegen bekommen.— Das Paradies der.Schpäckchkchnedl" nennt der getreue Schilderer„Tarrol", und ebenso hart wie dies« Ramenswandlung find die Erfahrungen, die der Berfaficr in.Jnnsch- brnckch" und anderen schönen Flecken in»finsteren Breiten" gemacht hat. Völkische Eigenart wird hier mit einer geradezu genialen Be- obachtungs- und Darstellungsgabe analysiert. Auf Desregger- Bildern, in Ganghofer -Geschichteu, welch ein ftommeS, treuheriges Geschlecht lächelt, sensterlt und jodelt da heiter im glauvenS- seligen Tirolerlandel Der satirische Griffel Sepp SchluifererS aber zeigt das naive Geschlecht der ungewaschenen Deandl« und der Sommerfrischlergeier und-Gauner, den Schwindel der Bauernthealer, den Kretinismus der k. k. Beamten in der Hauptstadt Jnnschbruckch, die Moral im Schnee und auf Laubhaufen, die Schädeltypen der ehrengeachteten Männer, das wetternde Mucker« tum der Schwarzröcke, den engen Bund zwischen Bigotterie und Verbrechen, namentlich bei unehelichen Geburten, und allerlei In- ttmeS von Eharalter, Sitten und Gebräuchen des gottcsfürchtigen Bergvolkes mit einer Kraft der Offenheit und soviel ethischer Ironie, daß sie den erbarmungslosen Entlarver bäuerlicher Biederkeit Seit« an Seite mit unseren souveränsten Satirikern stellt. Kulturellen Wert besitzt namentlich das Kapitel ,D' Juda san do l", in dem die wirtschaftliche Indolenz und Verlotterung der Taroller glänzend be« leuchtet wird. Besondere Beachtung verdient auch die nachdenklich« Studie über tirolerische Borniertheit:.Der Sozi". Kein Wunder, daß eS dem Verfasser erging wie einst Klara Viebig im beleidigten Eiffelgebiet; auch die Referenten und Zeitungen, die Sepp Schluiferer lobten, wurden vom sittlich entrüsteten Tirol bedroht. Möchten doch recht viele blinde Tirolschwärmer von Schluiferers Wahrheiten und Offenbarungen profitieren, wenn diese Erkenntnis auch den Profit des Landes Tarrol schmälert. «natole France: ThaiS. München . Pieper u. Co. ES ist immer ein Genuß, in den oiitikisierenden Büchern von Anatole France heidni'chen und modernen Geist in künstlerischer Feinheit ver- schmolzen zu sehen. Das in alten Folianten eingeschlossene Leben blüht auf in einem von Grazie und Ironie vergoldeten Stil, und in einer erstaunlichen Beweglichkeit der Gedanken mischt sich Ar- chaistisches mit dem Fühlen der Gegenwart. Die ewig gleich-
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27 (9.6.1910) 110
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