Und alles klingt so eigentümlich in der Lust. Weit draußen sm Westen taucht ein Ton aus der Stille auf, ein fernes Dröhnen, das stärker und stärker wird. Und man sieht einen flackernden Feuerschein, der sich von Norden nach Süden zu bewegt. Das ist die Eisenbahn, die in der Ferne vorbeifährt. Nach und nach verliert sich das Geräusch. Einen einsamen Kiebitzschrei aus dem Sumpfe erkennt Sara sofort, ebenfalls das fern« Gebell eines Hundes aus irgendeinem Hofe; aber die Lust ist so eigentümlich. Sara ist voller Erwartung, sie lauscht nach allen Seiten, horcht und späht. Anders ist nirgends zu sehen, nicht im Osten und nicht im Westen. Sie biegt in die Allee ein, und wenn es auch still ist, so be. wegen sich doch die Blätter der hohen Pappeln leise; es klingt wie Rieseln, wie eine verborgene Quelle, die rinnt, tropft und rinnt und die Seele lauschen macht. Sie geht hinein in den Garten. Ihr Schatten gleitet über den weißen Hausgiebel. Sie setzt sich in die träumenden Büsche an einer Stelle,� wo niemand sie sehen kann, von wo aus sie selber aber den Fußsteig vom Hallumer Wäldchen zu beobachten vermag. Aber Anders kommt nicht. Wie tief die Sehnsucht eines Her- zens sein, kann. Mitten in der Nacht, als sie in ihrem Bett liegt, hört sie seinen Schritt, wenn er auch noch so leise geht. Aber sie kennt ihn aus weiter Ferne. Selbst wenn chr Auge geschlossen ist, ihr Ohr schläft nicht. Die Tür öffnet sich, und er steht in ihrer Kammer. ..Guten Abend, Sara," flüstert er, und die Lust wird heiß von seinem Atem. Aber Sara antwortet kühl:»Na, hast du sie nun nach Hause begleitet?" »Ach, ich bin mit ihr nur durch das Wäldchen gegangen." (Fortsetzung folgt.)! (Nachdruck derdoicu.Z taubstumme Klmde und menfch- Ucbes Denken. Wenn man sich klar machh waS es für einen Menschen be- deuten muß, blind zu sein und zu gleicher Zeit taub und stumm und vielleicht auch noch ohne Geruchsvermögen, wie sich dies alles mehrfach nach Infektionskrankheiten in stühester Kindheit ereignet hat, so wird man von einem schmerzlichen Schauder gepackt über die bloße Möglichkeit eines so grausamen Zusammentreffens im Geschick eines einzelnen Wesens. Ewige Nacht, in die der Ton keiner Stimme dringt, aus der keine Antwort gesprochen werden kann und die nicht mal fähig ist, den Duft der Speisen wahrzu- nehmen oder, was fast dasselbe ist, sie zu schmecken. Man möchte für den ersten Augenblick annehmen, ein derart seiner Sinne be- raubtcs Geschöpf müsse einem galvanisierten Leichnam gleichen und in tierischer Stumpfheit vegetieren wie die geborenen Idioten, die verständnislos ins Leere starren und sich unter unartikulierten Lauten das tägliche Futter hinabstopfen lassen. Kann der Mensch denn seine VerstaiÄestätigkeit anders entwickeln, kann er anders denken lernen als in den Worten der gesprochenen Sprache oder ihrem sichtbaren schriftlichen Abbild? In der Tat kann er es. Das unerhörte Experiment, das die Natur mit einzelnen Unglücklichen anstellte, hat es uns zur Ge- nüge gelehrt. Allerdings sind die genaueren Nebenumstände der Fälle von der Wissenschaft nicht so wie es zu wünschen wäre nach- kontrolliert worden. Das liegt einmal daran, daß sich eine streng biologisch vorgehende Psychologie überhaupt erst jetzt zu entwickeln beginnt: zum anderen Male untersteht die Erziehung der Blinden in der Regel Leuten, die zwar gute Praktiker des Anstaltslebens sind, aber fiir das Gebiet der experimentellen Untersuchung oft keineswegs eine mustergültige Vorschulung besitzen. Fum Beispiel erschien ihnen die feinere Empfänglichkeit des komplizierten Haut- sinns für Luftströmungen und Wärmestrahlung so rätselhaft, daß sie den Blinden allen Ernstes ein besonderes Ferngefühl als sechsten Sinn zuschrieben. Unter den tmibshimmcn Blinden ist die Amerikanerin Helen Keller , die jetzt im 80. Lebensjahre steht, wegen ihrer hohen Intelligenz und ihrer literarischen Tätigkeit zu einer Art von Weltberühmtheit gelangt� In Amerika wird ja alles, was sich dazu irgend eignet, zu einer Sensation gemacht. So auch der Bildung»- gang der Helen Keller . Das Publikum ist förmlich lüstern danach, zu wissen, wie dieses oder jenes Werk eines Poeten oder irgendein Weltercignis sich in der Seele der taubstummen Blinden malt. Das öffentliche Mitleid reist mit ihr a la Bornum umher, und die Schaustellung des Unglücks wird zum Geschäft. Gerade im Fall der reichbegabten Helen Keller ist es zu bedauern, daß die wissen- schaftliche Forschung zu kurz gekommen-ist. Schlägt man das Buch auf, das sie unter dem Titel»Geschichte meines Lebens" auch in deutscher Sprache veröffentlicht hat, so erfährt man eine arge Enttäuschung. Es ist ein durcheinander gewürfelter Haufen von Erinnerungsbildern, untermischt mit wenig originellen Urteilen über alle möglichen Dinge, wie sie Leute von sich zu geben pflegen, die ihreBildung" zeigen wollen Eine systematische Erörterung der Mittel und Wege, durch die eS gelang, Licht in diesen leiblichen Kerker dringen zu lassen, gibt weder Helen Kellers eigene Er» Zählung noch die ihrer Beobachter. Etwas gründlicher ist ein früherer Fall untersucht worden: der der La u r a B r i dg ma n, die 1883 im Alter von 60 Jahren zu Boston starb. Bald nach Vollendung ihres ersten Lebensjahres erkrankte sie nebst ihren Geschwistern am Scharlach Zwei ältere Schwestern starben; sie selber genas, büßte aber die Fähigkeit des Gesichts, Gehörs und Geruchs ein. Es verblieb ihr also nur das Tastgefühl, um mit der Außenwelt in Verkehr� zu treten. Die Eindrücke, die sie während des ersten, normalsiimigen Lebensjahres empfangen hatte, sind sicherlich in der Folgezeit zu einem be, deutungslosen Rest zufammengeblaßt. Welcher Mensch vermöchte sich je in sein erstes Jahr zurückzuerinnern, wo die Sinnesorgane noch alles stumpf und ohne vernünftige Ordnung aufnehmen und die Begriffe erst eben keimen wollen! Im achten Jahre kam Laura in die Behandlung einer Anstalt. Bis dahin war sie also ganz auf sich selber angewiesen. Sie er» zählte später von dieser Zeit, daß sie sich im Hause der Eltern ganz sicher umherbewegte; sie wußte von den einzelnen Jim- mern, von den Teppichen, die auf dem Fußboden lagen, von der Ritze in einer Wand, durch die die Katze ein,- und ausschlüpfte. Ihre Mutter hatte, wie sie berichtete, zwei Krämpelbänke, zwischen denen sieetwas ganz Weickes wie Baumtvolle" zu reiben pflegte. Das sind ihre späteren Erklärungen. Damals kannte sie keinerlei Bezeichnung für die Dinge. Dennoch war eine gewisse Verständi- gung möglich. Wenn sie zu essen begehrte, streckte sie die Hand aus. und sie machte die Belvegung des Streichens, sobald sie Butter aufs Brot wünschte. Es handelt sich hier um nachahmende Gesten, deren Wiederholung in der Erinnerung haftete und die dadurch zum Symbol wurden. Aehnlich vermittelte man ihr den Ausdruck der Unzufriedenheit, indem man ihr einen Schlag auf den Rücken gab. Dagegen bedeutete die Berührung ihres Kopfes, daß man mit ihr zufrieden war. Alles dies steht noch auf einer Stufe mit der Dressur eines Hundes. Ter nun folgende Unterricht mußte Laura Bridgman die Möglichkeit eröffnen, erstens sich selber verständlich zu machen und zweitens die Gedanken der anderen verstehen zu können. Hierfür gab es wieder zwei Wege. Man konnte das kleine, eben geschil- derte Zeichensystem weiter ausbilden, b. h. neue Ausdrucksbcwegun» gen und Berührungen als Bezeichnung für alle möglichen Dinge» Handlungen und Wünsche erfinden und ihr beizubringen suchen. Aber dies Verftändigungsmittel hätte Lauras Isolierung von der Mitwelt nicht aufgehoben; einzig ihr Lehrer hätte sich dann mühsam mit ihr unterhalten können. Es mußte ihr also irgend- wie der Zugang zu dem vorhandenen Zeichensystem der gewöhn» lichen Sprache erschlossen werden. Aber wie? Sie war völlig taub, konnte daher nichts hören und mar auch zu der Stummheit der Tauben verurteilt. Andererseits konnte sie kein Schriftzeichen sehen. Dr. Howe, der den Unterricht leitete, verfuhr folgender- maßen: Er fertigte in je zwei Exemplaren Papierstreifen an, auf denen die Namen häufig vorkommender Gegenstände(wie Messer» Löffel, Stuhl usw.) in erhabenen Buchstaben gedruckt waren. Immer einer der Zettel wurde auf den betreffenden Gegenstand ge» klebt, der andere blieb lose. Nun mußte Laura z. B. das Messer mit dem Streifen darauf befühlen, dann bekam sie den losen Streifen mit dem WortMesser" in die Hand und muhte ihn wieder befühlen. Hierauf machte man ihr das Zeichen der Gleich» heit, indem man ihre beiden Zeigefinger genau nebeneinander legte. Laura begriff bald, daß die Zeichen auf den beiden Streifen stets gleich waren; aber weiter noch nichts. Am dritten Unter- richtstage ging ihr aber das Verständnis dafür auf, daß die Zeichen auf den Streifen die Dinge bedeutete», auf die sie geklebt waren. Sie legte nämlich den Streifen mit dem WortStuhl" von selber auf einen Stuhl und danach wieder auf einen anderen Stuhl, wo- bei ihr bis dahin verdutztes Gesicht von einem glücklichen Lächeln überzogen wurde. Hier Ivar der Scheidepunkt, wo die Dressur auf- hörte und die dem Menschen eigentümliche Vernunft zu wirken begann. Ein fast feierlicher Moment der Erkenntnis auch für den Lehrerl Nun erkannte Laura allerdings die Zeichen für die Dinge, oder sagen wir die Namen der Dinge. Sie war damit bereits in das Wesen des sprachlichen Denkens eingedrungen; denn dieses besteht eben darin, daß ein Vorstellungsinhalt mit einem bloß äußeren, nach Uebereinkunst geschaffenen Zeichen verknüpft wird. einem Zeichen, das selbständig für sich nichts bedeutet, sondern bloß Zeichen ist. Aber Laura hatte die Namen vermittelst des Tastgefühls nur als ein zusammenhängendes Ganzes kennen ge- lernt. Dr. Howe lehrte sie nun das Betasten einzelner Metall- typen und brachte sie bald so weit, daß sie z. B. die Buchstaben e"m"r"s" aus dem Kasten beraussuchte und richtig zu dem WortMesser" zusammensetzte, sobald man ihr ein solches in die Haich gab. Nachdem so das Alphabet erfaßt war. konnte man zu einer neuen Methode übergehen. Es war siic Laura viel zu umständlich. den Namen eines Dinges, wenn sie ihn ausdrücken wollte, immer erst aus den Meialltypen zusammenzusetzen, weshalb sie ihre Zu- flucht stets noch immer zu Gebärden nahm, die in der Regel natür- lich unklar wirkten. Man lehrte ihr jetzt, daher das Fingeralphabet der Taubstummen, das heißt: mar. brachte ihr bei, wie sich die Be- deutung jeder einzelnen Metalltyjr durch eine bestimmte Stellung