631 sondern rät, tSen man soeben, gesund und voll strotzender Kräfte, zum offenen Grabe geführt... Zuweilen hören die Gefangenen während des Spazierengehens von irgendwo, wie aus der Erde, Stimmen, die laut miteinander sprechen oder streiten. Zuweilen, namentlich in der Hälfte des Jahres, über welches wir Material besitzen, erschallte aus den Zellen der Todeskandidaten Gesang. Dann geriet der Wachtposten am Turm in Erregung, klopfte mit dem Gewehr und schrie: Heda, ihr Leute im Turm, hört auf zu singenl Heda, man sagt euch, aufgehört! Wenn dieser Befehl nichts fruchtete, erschien der Direktors- gehilfe auf der Bildfläche, und irgendeiner von den Leuten, die rhrer Hinrichtung entgegensahen, wurde außerdem noch in den Karzer gesteckt... Der Karzer war ein dunkles Loch, direkt unter der Gefängnis- kirche, niedrig, feucht, kalt, mit abscheulicher Lust. Viele wurden nach drei, vier Tagen Karzerhaft auf Matten direkt ins Spital ge- tragen. In diesen Türmen erwarten zuweilen einzelne, zuweilen ganze Gruppen von Menschen tage-, Wochen-, zuweilen monatelang ihr Todesurteil oder die Vollstreckung desselben und stagen sich jeden Abend, ob sie noch den morgigen Tag erblicken werden. Vor kurzem noch, rn dervorkonstitutionellen" Zeit, sagte mir ein Militär- richter, daß ein langer Aufschub der Hinrichtung eine ungeheure Chance für ihre Aufhebung bedeute: man dürfe keinen Menschen hinrichten, der eine so entsetzliche Zeit durchgemacht, die ärger sei als der Tod. Jetzt kümmert man sich offenbar nicht mehr um solche pshchologischenFeinheiten",,. De�r Alltag der Todeskandidaten. Alle entsinnen sich noch der Begeisterung, mit welcher die zum Tode Verurteilten oder zur Füsilierung bestimmten Gefangenen in der ersten Periode unserer Revolution dem Tode entgegengingen. Es starben so Intellektuelle, junge Mädchen, Eisenbahnarbeitec, Matrosen. Eine Gruppe von Matrosen, die mit dem Leutnant Schmidt gemeutert hatten, gingen zur Hinrichtung in geschlossenen Reihen und sangen das bekannte Rekrutenlicd: Heut bin ich noch mit Euch, Ihr Freunds. Doch ist's der letzte frohe Tag für mich, Denn in der ersten Morgenstunde Weint meine Mutter bitterlich Es war so viel Begeisterung!, so viel Lebensmut vor dem Antlitz des unvermeidlichen Todes in diesen Szenen, daß dieses Lied, wie man sagt, in Südrußland dieselbe Bedeutung gewann, wie die Marseillaise  . Jetzt hat sich vieles geändert, und in dem Maße, wie die Todesstrafe sich in eineAlltagserscheinung" ver- wandelt hat, schwindet auch die Begeisterung, die sie stüher mit einer Aureole umgab. Es ist wahrscheinlich schwerer dafür zu sterben, wofür die Menschen jetzt so oft ihr Leben lassen. Uebrigens konstatiert unser Korrespondent, daß viele Todes- kandidaten sich einige Tage nach dem Urteil verhältnismäßig gut fühlen. In ihre finsteren Turmzellen tragen sie die Erregung des kürzlichen Kampfes hinein, der, wenn auch nicht von erhabenen, so doch von starken Empfindungen und äußerster Nervenanspannung erfüllt war. Die Gerichtsverhandlung und das Urteil bilden nur den letzten Schwung derselben Welle. In den meisten Briefen, die in den'ersten Tagen nach der Urteilsfällung geschrieben sind, klingt noch ein eigenartiger Mut, selbst eine Art Ironie. Einige dieser Briefe sind ungemein charakteristisch, und wir veröffentlichen nach- folgend die Bruchstücke, die unser Korrespondent stellte. uns zur Verfügung lFortsetzung folgt. Deutfcbe Zvcuc. 'i'Jit mutz wirklich staunen, mit wie jammervollen Mätzchen die Leute, die mit ihremechten Deutschtum" prunken und auf alles, was nicht deutsch ist, mit verächllichem Lächeln herabblicken, sich und ihresgleichen den Kopf verkeilen. Erschien da neulich in derDeutschen Tageszeitung" ein Aufsatz unter der stolzen Ueberschrist.EntWickelung germanischer Stammcsart in der Völkerwanderung". Abgesehen da- von, daß man von diesem Thema in dem Aufsatz überhaupt kein Wort findet, werden darin unter einem gelehrt scheinenden Getue dem Leser eine Reihe entsetzlicher Plattheiten vorgesetzt. So z. B. der Satz: Gewisse Rasseneigenschaften, wie Freiheitssinn, Sittenreinheit, Ordnungs- und Gliederungsvermögen, Wehrhaftigkeit, Stolz waren allen germanischen Stämmen gemeinsam. Ebenso allgemein ver- breitet waren Eigenbrödelel, Starrsinn, Eifersucht, Kurzfichtigkeit." Da die Verfasser solchen Geschreibsels doch vermutlich eine höhere Schule besucht haben, so mutz man annehmen, daß sie sogar das, was ihnen in ihrer Jugend über die Germanen gesagt worden ist, rein vergessen haben müssen, trotzdem sie mit Litcraturzitaten um sich werfen, die den Anschein höchster Gelehrsamkeit erwecken sollen. Zu Nutz und Frommen unserer Leser wollen wir einiges von dem, was über diese.Rasseneigenschaften" der Germanen be- kannt ist in der Volksschule aber wohl kaum gelehrt wird hier kurz zusammenstellen. Ueber die Urzeit des deutschen Volkes, d. h. etwa die Zeit bis zum Beginn des 3. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, wissen wir sehr wenig. Das bedeutsamste Ereignis seiner Geschichte ist dann die allmähliche Zusammenfassung der verschiedenen deutschen Stämme zu einem großen Gesamtreich. Sie geschah unter der Führung des fränkischen Stammes'und wird von den bürgerlichen Historikern als das Verdienst der fränkischen Könige angesehen. Nach bürgerlicher Geschichtsauffassung sind also die Frankenkonige die hervorragendsten Vertreter, die edelste Blüte des damaligen Germanentunis. Sehen wir uns diese Frankenkönige im Hinblick auf ihre.Rasseneigenschaften" etwas näher an. Zuerst war es die Familie der M e r o w i n g e r, die etwa zwei Jahrhunderte lang<in runden Zahlen vom Jahre 475 bis zum Jahre 675) die Franken   regierte, dann die Familie der K a r o l i n g e r. Der erste Merowinger, dem von der bürgerlichen Geschichtsschreibung eine hervorragende Bedeutung für die Gründung des Frankenreiches beigemessen wird, war C h l o d w i g I.(481511). Er war ur- sprünglich noch nicht einmal König aller Franken, sondern der fränkische Stamm war in mehrere Teile gespalten, die ihre be- sonderen Könige hatten.Mit roher Gewalt," schreibt Professor Lamprecht in seiner Deutschen   Geschichte,wurden die Herrscher- aeschlechter dieser Völker beseitigt.... Kann man sich ent- schließen, von den vielfach brutalen Mitteln abzusehen, welche zu diesem Ziele verHelsen mußten: das Ergebnis war für die deutsche EntWickelung von größter Bedeutung." Und in Schlossers Weltgeschichte wird dieser Germanenfürst, der am Anfang der laugen Reihe deutscher Helden steht, in seinerSittenreinheit" undTreue" wie folgt abgemalt:Chlodwig I.   war ein habgieriger und herrschsüchtiger Mann". Der römische Teilfürst ShagriuS, dessen Land er erobert hatte, wurde ihm ausgeliefert.Chlodwig   ließ ihn in der Stille umbringen. Er war durch diese Eroberung Herr eines beträchtlichen Landes geworden, und vermählte sich nun zunächst, obgleich er schon verHeirat war, mit der Tochter eine? burgundischen Königs." Nebenbei erfährt man an dieser Stelle noch einiges über die Sittenreinheit" anderer Germanenfürsten:Die Burgunder wurden um jene Zeit von vier Brüdern beherrscht, von denen zwei im Bruderkampf fielen. Einer der letzteren hinterließ eine Tochtev Chlotilde, welche von ihrem Oheim Gundobald, nachdem derselbe ihre beiden Brüder ermordet hatte, in einer Art von Gefangen» schaft gehalten wurde". Diese wurde von Chlodwig   befreit und ge- heiratet. Später ließ sich Chlodlvig taufen. Aberer blieb so roh und grausan», als er vorher gewesen war." Und nun ein Kapitel von der deutschen Treue: Chlodwig   trat mit Godepistl, einem burgundi- schen König, der sich der Oberherrschaft seines Bruders Gundobald zu entziehen strebte,insgeheim in Verbindung, lieferte dem letzteren bei Dijon   ein Treffen und siegte durch die Verräterei GodepifilS". Jedochschon im folgenden Jahr fiel Gundobald über seinen Bruder her, überrumpelte ihn in der Stadt Vienne   und tötete ihn und seine Ratgeber". Der Brudermord, die Ermordung der nächsten Verwandten spielt überhaupt eine große Rolle in den Sitten der deutschenEdlen" aus jener Zeit. Schlosser erzählt weiter:Bisher war Chlodwig  zwar Oberanführer, nicht aber Herrscher aller Frankenstämine ge­wesen; jetzt gab ihm das Glück den Gedanken ein, sich selbst dazu zu machen. Heuchelei, Hinterlist und Mord waren die Mittel, deren er sich zur Erreichung dieses Zweckes bediente. Er wandte sich zuerst gegen Siegbert, den König der ripuarisckien Franken also seinen Verwandten). Da dieser einen herrschsüchtigen Sohn satte, dem der Vater zu lange lebte, so reizte Chlodwig   den- elben zur Ermordung Siegberts; nachher ließ er ihn selbst auf hinterlistige Weise ums Leben bringen". Das Voll der riguarischen Franken aber machte es, wie eS dieEdlen" heutzutage noch machen; es erfüllte Chlodwigs Willen und wählte ihn zum König,weil er ein mächtiger Fürst war, d. h. aus Liebedienerei, die demnach auch eine altgermanische Tugend sein muß. Der Bischof Gregor von Tours   aber, der kurz nach dieser Zeit lebte und über diese Ereignisse berichtet hat, schrieb dazu in Gollcrgeben- heit:So gab Gott   täglich Chlodwigs Feinde in seine Hand, weil er mit rechtem Herzen vor ihm wandelte". In der gleichen Weise verfuhr Chlodwig   weiter bis ans Ende eines Lebens. In unaufhörlicher Eintönigkeit wiederholen sich die Morde, Verrätereien, Heucheleien. Nur noch der folgende Fall sei nach Schlosser erzählt. Einen anderen fränkischen Teilfürsten, den König Rachnacharstürzte er durch Bestechung seiner Vasallen. Diese gingen, als Chlodwig gegen ihn zu Felde zog, in der Schlacht zum Zeinde über, und Rachnachar wurde nebst seinem Bruder gefangen zenommen. Chlodwig   erschlug den König mit eigener Hand, weil ich derselbe habe Fesseln anlegen lassen und dadurch die mero- wingische Familie erniedrigt habe; dann tötete er auch dessen Bruder, weil dieser nicht durch kräftige Unterstützung seines Bruders einen solchen Schimpf abgewendet habe. Den bestochenen Leuten Rachnachars hatte Chlodlvig, wie sich nach dem Sturz desselben zeigle, falsches Gold gegeben." Chlodwigs Nachfolger, die späteren Merowinger  . waren aus genau demselben Holze geschnitzt. Es würde ermüden, wollten wir die unaufhörliche Reihe von Treulosigkeiten und Mordtaten gegen die nächsten Verwandten, Söhne, Brüder. Väter, Ehegatten hier auf« zählen, in denen sich die merowingische Geschichte abspielt. Nun wird allerdings von den bürgerlichen Historikern gern be« hauptet, daß an dieser sittlichen Fäulnis das Geschlecht der Mero» winger zugrunde gegangen sei und der glänzenden Familie der Karolinger   habe Platz machen müssen, die dann erst das Germanen-