Mnterhaltungsblatl des Hlorwärts Nr. 142. Sonnabend, den 23. Juli. 1910 IKafWtu« here-lez.? 121 Der Entgleiste. Won Wilhelm Holzamek. Da die breiten Flächen der Wiesen, das glitzernde Silberband des Baches. Die alten, hohlen Weidenbäume mit dem verwirrten Haar, die hohen Pappeln mit den flüsternden Blättern und die Erlen mit den seltsam geformten Kronen. Wie fein die Nebel ihre Gewänder um die Eulen- mühle zogen, wie hell die Sonne über ihr stand! Im Herbste an den Rebenhänge'n die Winzerlust, im Winter die weite Eisfläche, über die man hinflog— im Fluge, rasch wie ein Vogel, leicht wie ein Reh. Dazu all die Geheimnisse der Mühle. Wohin man nur kriechen konnte, kroch man. Spuk- und Gespenstergeschichten. Und dazu das nie ruhende Werk, das sich bewegte, ohne daß man sehen konnte, wo die Kraft war, die es bewegte, denn das große Wasserrad war draußen vor dem Hause. Die Hauptgeschichte der Mühle: Ein früherer Müller übte allzusehr das„Zappeln". Wenn er mahlte, nahm er einen zu großen Anteil für sich. Ein Bauer wollte sich das nicht gefallen lassen. Der Müller behauptete, er habe dem Bauern gegeben, was ihm zukomme. Aber der Bauer forderte niehr. Sie gerieten in Streit. Und der Müller warf den Bauern oben vom Mahlkasten aus, wo das feine Mehl gemahlen wurde, über die Stufen mit solcher Gewalt, daß er das Genick brach und tot unten ins Wasser fiel, an der Stelle, wo man das Wasserrad und das Wehr von innen regulieren konnte. Man glaubte an einen Unglücksfall, und der Müller ging straflos aus. Aber oben in der Giebelluke war ein Eulennest, und eine Eule hatte die verruchte Tat gesehen. Am Tage verhielt sie sich ruhig und ließ den Müller seine Arbeit tun, aber des Nachts rief sie beständig seine Schuld. Der Müller fand keinen Schlaf mehr. Sein Haar wurde weiß. Seine Züge wurden welk. Er sah aus wie ein Gespenst. Alle Welt fürchtete sich vor ihm. Er schoß nach der Eule. Er traf sie auch. Aber sie war nicht tot. In der Nacht rief sie seine Schuld. Und nun ging noch dazu in der Nacht in der Mühle ein Licht. Des Nachts kam es an sein Bett. Es blieb da stehen, bis er aufstand und ihm folgte. Es zog ihn in die Mühle zum oberen Mahlkasten, und da mußte er stehen und ihm zusehen, wie es seinen Weg machte, ruhelos und wieder und wieder. Und oben schrie die Eule seine Schuld. Voll von Eulen war nun die Mühle. Wo oben ein Spalt, eine Luke war, da war auch ein Nest. Und alle schrien sie des Müllers Schuld. Alle. Das Volk nannte die Mühle die Eulenmühle. Eines Nachts ward das Licht stärker als der Widerstand des Müllers . Es zwang ihn auf den Weg, den er den Bauern geworfen hatte. Es zwang ihn hinab ins Wasser. Mit gebrochenem Genick kam er unten an und stürzte in das Wasser, das im gleichen Augenblick hoch aufschäumte. Er verschwand darin, und seine Leiche wurde niemals gefunden. Die Eulenmühle ward darauf leer von Eulen. Sie flogen aus ihren Nestern weg. Aber die Nester sind noch vor- handen. Nun wußte man von der Schuld des Müllers. Einige sagen, zur Mittagszeit, wenn es still im Lande ist, steige er aus dem Wasser und gehe das Besitztum der Mühle ab. Nur in die Mühle wage er sich nicht. Er sei dann ganz weiß, wie Mehl oder Schaum. Seine Augen seien ganz groß und seine Hände blutig. Die Buben genossen alle Schauer dieser Erzählungen mit wohligem Frösteln, schmückten und dehnten sie noch weiter aus und gingen selbst den Weg des Flämmchens bis hin- unter zum Wasier. Und einmal, an einem stillen Mittag, als draußen eine hohe Sonncnglut war, die in lauter blanken Säulen im Lande stand, wollte sogar einer den weißen Müller mit den großen Eulenaugen und den blutigen Händen auf dem Wasserrade haben sitzen und in den Schaum starren sehen.— Der große Tag für Philipps Erleben in der Eulennmhle war der Tag der größten Schlacht, die je draußen geliefert worden. Es hatte sich gemacht, daß die meisten gleichalterigenl Buben des Dorfes sich zum Spiele in der Eulenmühle ein, gefunden hatten. Was an Fahnen und Säbeln, Gewehren und sonstigem Kriegsrat wie Patronentaschen, Mützen» Sporen, kleinen Kanonen da draaßen vorhanden war, hatte sie so sehr angelockt, daß sie alle Feindschaft vergaßen und zn gemeinsamem Spiel herauskamen. Zwei große Heere lagen einander gegenüber. Zwei richtige Feldlager. Ausgestellte Schildwochen, eingegraben« Kessel, Wachtfeuer. Zwischen ihnen die Selz. Die Pioniere schlugen Brücken. Trompetensignal, Trommelschlag. Zur Schlacht! Umgehungen, Versuche, den Feind nach einem anderen Platze zu locken. Fünfzig Fähnlein flatterten im Winde. Fast hundert Kehlen schrien Hurra! Der Philipp rückte mit seinen Leuten im Laufschritt heran. Und nun tat er die Heldentat. Er sprang ins Wasser, das ihm bis an die Brust reichte. Die anderen stutzten. „Mir nach!" kommandierte der Philipp. Aber keiner folgte. „Tod oder Leben!" Aber noch immer folgte keiner. Da schwang der Philipp-feinen Säbel und schrie:»Es lebe das Vaterland!" Damit packte er den ersten von seinen Leuten und riß ihn herein, und riß einen nach dem andern ins Wasser zu sich, um dann mit ihnen vorzustürmen. Zehn gelbe Fähnlein zogen im Sturme durch die Selz, den Stichen und Hieben der Feinde entgegen. Und die zehn gelben Fähnlein cnt- schieden die Schlacht. Sieg! brüllte es, daß die Luft zitterte. Der Philipp war Sieger. Aber nun bemerkten die Buben, daß sie naß wie die Katzen waren, und die dachten nach Hause. Da fielen sie über ihren Führer her und prügelten ihn durch. Die Feinde mußten ihm zu Hilfe eilen. Es war ein böser Tag für ihn. Zu Hause setzte es auch noch Prügel. Drei Tage lang mußte er das Bett hüten. Nicht nur wegen der hartnäckigen Erkältung, die er sich g« holt hatte. Die blauen Male mußten auch erst heilen. Aber er hatte seinen Ruhm. Die Buben pflegten die Erinnerung an die Schlacht mit Eifer und bewahrten lange ihr Gedächtnis. Sie nannten sie: die Kaiserschlacht an der Eulenmühle, und das war nicht spöttisch gemeint. Daß sie ihren Kriegshelden durchgebläut hatten, das verlor sich später in der Geschichte. 10. Eulenmühle und die Pariser Straße nach Mainz , die Gärten nahe beini Hause und die Schule vom Krafst, das waren die Schauplätze, wo sich dem Philipp Kaiser sein junges Leben abspielte. Mit dem Dorfe hatte er nichts mehr ge- meinsam. Dem war er entfremdet wie den Leuten seiner G�sse. In der Eulennmhle das Spiel, auf der Landstraße noch Mainz Träume, Beobachtungen, kleine Erlebnisse, Be- gegnungcn und Aengstigungen, in Mainz Umschau und Er- staunen, Ueberraschunßen, in der Schule Arbeit, in den Gärten heimliche Raubzüge. Wie das Raubzeug von Hof zu Hof, so ging's manchmal von Garten zu Garten, um eine Blume, um ein bißchen Obst, um eine Traube, und manchmal auch aus purer Lust am Räubern und an der Gefahr. Nun waren sogar auch die Eulenmllllerbuben manchmal im Hause, und da war es dem Philipp immer ein Bedürfnis, etwas Be- sonderes anzustellen— und es lag ja nichts näher, als in den Gärten ein wenig zu räubern oder dem Nachbar einen Schabernack zu spielen— denn er fühlte sich unbehaglich, loenn er mit den reichen Eulenmüllerbuben in seiner ärm- lichen Stube bleiben sollte. Er genierte sich. Er spürte, daß er ihnen nachstehe. So dachte er instinktiv eine Gelegenheit zu schaffen, wo der Abstand ausgeglichen wurde und er zu seinem besseren Recht kam. An Behendigkeit, Schlauheit und bösen Anschlägen war er ihnen dann oft überlegen, in der Ausführung niindestens gleich— sie waren ja alle drei das richtige Katzenzeug— und so trug er jedesmal trotz der ärm- lichen Wohnung noch ein rechtes Stolzgefühl von den Zu- sammenkünften nach. In der Musik war der Philipp kein Held. Aber er hatte
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27 (23.7.1910) 142
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