Nnterhallungsblatt des vorwärts Nr. 147. Sonnabend den 30. Juli. 1910 (NaqdruZ verdote»? 17� Ver Entgleiste. Von Wilhelm Holzamer . Manchmal, wenn er so recht mit einem seiner Mitschüler ins Gespräch kam, erzählte er von zu Hause. Er erzählte alles ganz richtig, aber er tat es in Worten, die Raum für weitere und größere Vorstellungen ließen. Er legte mehr Gefühl hinein, er schwärmte manchmal. Nur recht eigentlich schön zu färben, wagte er nicht. Dafür lag das Dorf zu nahe. Er wollte nicht scheel angeguckt, nicht verachtet sein. So hatte er keinen Freund. Das Lernen ging ganz gut. Es war gar nichts Beson- deres dabei. Was gehörte da dazul Man paßte auf und machte seine Aufgaben oder man paßte einmal nicht so gut auf und bekam eine geringere Note aber im großen und ganzen war nicht viel dabei. Uebermäßig fleißig war der Philipp nicht. Nur einige Lehrer nahmen ihn manch- mal fester heran. Du willst ja Lehrer werden, Kaiser, da mußt Du das besonders gut wissen." Dann lachte ihn die ganze Klasse aus. Das fuchste ihn. Mit dem dummen Lehrerwerden. Wenn ihm das doch die Mutter nicht eingehängt hätte. Armes DorfschulmeisterleinI" sangen die Mainzer Buben. Und sie erzählten ihm manchmal von den Lehrerfreudvn vor wie die Bauern Schinken und Würste schicken und ihn zur Metzelsuppe einladen würden und wie er bei den Kindtaufen dabei sein dürfte und zur Kirchweih Kuchen und Wein geschenkt bekäme. Aber wenn Du da hinten in den Odenwald kommst, dann kannst Du blau pfeifen. Dann kannst Hockeln knappern wie die Eichhörnchen." Es fehlte nicht an Spott. Und immer der Refrain: Armes Dorfschulmeistierlein, armes Dorfs chulmcisterlein!" Er hatte einen Ekel vor dem ganzen Lehrerkram. Und zudem war er sich viel zu gut dazu. Die Mainzer Buben hatten wohl recht, wenn sie sagten: Dazu kann man die dümmsten Stoppelkälber gebrauchen." Aber vorläufig hieß es aushalten. Nur vorm Seminar graute dem Philipp. Da sollte es wie in einem Zuchthause sein. Eselsdrill in der Präparandenanstalt und dann der Drill fürs Schullehreramt. Ein ganz erbärmliches Leben und die Menschen, mit denen man zusammenkäme. Kein bißchen Schliff, gar nichts und Einbildung haushoch. Vielleicht übertrieb der. Aber wenn sich der Philipp die Lehrer in seinem Dorfe anguckte so von hier, von Mainz und der höheren Schule aus gesehen nein, Respekt hatte er vor denen gar keinen. Was die gelernt hatten, das konnte er heute schon. Wenn sich nur die Mutter die verrückte Idee heute schon aus dem Kopfe schlagen konnte. Aber er mußte ganz ruhig bei ihr sein. Sie geriet gleich ganz aus dem Häuschen, wenn er davon nur anfing. Eingebildeter Bub!" schimpfte sie dannStangen im Kopf zu hoch hinaus!" und Aehnliches, was nur noch grober klang. Und dann machte sie ihn darauf aufmerksam, woher er käme und wie er froh sein müsse für das und wie das gerade genug wäre. Selbst die alte Liesbeth blies fast genau so in das Horn der arme Lukas sagte nur:Es kommt nur mal darauf an, wer man ist, nit, was man ist," und das fand der Philipp sehr dumm, und der Schlüssel sagte:Man wird gar nichts, so wie sich's Vater und Mutter denken, man wird nur das, was man später einmal aus sich macht." Aber damit konnte der Philipp auch nichts anfangen und mußte eben bei der Stange bleiben, wie ein Geißbock, der eingespannt ist, wenn er auch nicht so viel mit den Hörnern stößt und den Kopf nach allen Seiten schnickt. Aber dem Philipp klang immer der Refrain:Armes Dorfschulmeistcrlein armes Dorfschulmeisterlein I" 14. Die Klar war ein paar Jahre älter geworden r immer noch robust und kräftig, aber doch nicht mehr so willens- stark und rücksichtslos geradeaus. Das heißt nicht, daß sio sich auf die faule Haut legen wollte nein, sie schaffte noch so mannhaft wie früher, aber sie ließ den Dingen mehr ihren Lauf. Sie sagte leichter ja und Amen zu etwas und brauste nicht mehr so rauh und heftig auf. Der Philipp fuhr nun schon ein paar Jahre nach Mainz in die Schule und war ein großer eitler Bengel geworden, der sich als Herr aufspielte. Der Mutter war ja dies Ge- haben lächerlich. Sie sah immer noch das Kind in ihrem Buben, während er Mann sein wollte und doch noch keiner war. Die Stimme war zwar rauher geworden, und auf der Oberlippe dunkelten ein paar Härchen, über die er beständig wohlgefällig strich, als hätte er einen Schnauzer wie ein Wachtmeister.Bist en Äff!" sagte dann die Mutter. Aber dem Philipp war's einerlei er fühlte sich. Wenn er in die Eulenmühle ging, zog er die Manschetten an, schwang sein Stöckchen, stolzierte dahin wie ein Baron von Joeden, dem das große Gut gehört. Und die Klar war auch wieder stolz auf ihn. Durch gute Freunde hatte der Philipp im Hotel Pfälzer Hof in Mainz einen Freitisch bekommen, und die gute Kost bekam ihm gut. Nachdem er so in die Höhe gewachsen war, wäre es doch nicht gut gewesen, wenn er weiter beim Pedellen sein mitgebrachtes Brot verzehrt hätte. Die Klar hatte auch schon ein paar Mal Zigaretten und Zigarettenschachteln in seinen Taschen gefunden. In ihrem Beisein hätte der Philipp doch noch nicht zu rauchen gewagt. Sie wäre ihm auch bös aufs Dach gestiegen. Und wo er das Geld her bekam? Der war ein Spitzbub, der. Jeden Abend hockte er sich hin und schrieb die Landneuigkeiten auf fünf, sechs Zettel auf einmal manchmal. Das trug er anderen Tags in aller Früh in die Zeitungen. Vom alten Mainzer Anzeiger" bekam er zehn Pfennig die Zeile, vom Mainzer Tageblatt" ebenfalls vomJournal" je nach der Wichtigkeit, vomNeuesten Anzeiger" fünf Pfennig und von denNeuesten Nachrichten" auch fünf Pfennige. Jeden Tag hatte er etwas. Manchmal log er auch etwas. Die Geschichte mit dem dreibeinigen Kalb war gelogen gewesen, und der große Brand war übertrieben gewesen, an den neuen Fabritprojekten war kein tvahrcs Wort, und die Weinaus- sichten stimmten auch nicht. Aber er hatte Glück. Kein Mensch, der ihm den Schwindel aufgedeckt und nachgewiesen hätte. Niemand wußte, wer die Gegend so eifrig bereiste und jeden Spatzenpiepser nach Mainz berichtete. Dem Philipp aber gab's Geld in die Tasche. Wenn sie ihm auch manch- mal die längsten und schönsten Berichte auf drei, fünf Zeilen zusammenstrichen, es gab doch ein paar Batzen. Und da er in jedes Blatt ein bißchen anders schrieb, so zählte sich's von den verschiedenen Blättern zu einem ganz hübschen Sümmchen zusammen. Die Redaktionen merkten nicht, daß sie den gleichen Korrespondenten hatten, sie fanden nur immer ihre Nachrichten durch die anderen Blätter bestätigt. Und so war der Philipp fein heraus. Er trug ein schwarzes Hütchen, hatte Verschiedene Schlipse, hatte Hand- schuhe für den Sonntag konnte sich auch Zigaretten kaufen und war der feinste junge Mann im ganzen Dorf. Und das ganze Dorf guckte zu ihm hinauf und auf das ganze Dorf guckte er von oben herab und auf die Schulmeister be» sonders. Er war entschlossen, keiner zu werden, und die Mutter fuhr nicht mehr so aus dem Häuschen wie früher, wenn cr's ihr sagte. Er hatte einen neuen Freund gesunden, den Sohn eines Judenlehrers in einem Nachbarorte. Sie fuhren täglich zu- sammen in die Stadt der kleine Herz dasHcrzche" wie er genannt wurde ins Gymnasium. Das Herzche war ein heller Kopf ein stiller, fleißiger Mensch. Er hinkte ein klein wenig und war vielleicht da- durch gezwungen, sich von den Mitschülern etwas zurückzu- halten. Die Folge war natürlich, daß die anderen an ihm vorbeigingen. Einmal war das Herzche gerade angehinkt kommen, als der Zugführer zur Abfahrt gepfiffen hatte. Man wollte ihn schon zurückhalten beim Einsteigen. Da nahm ihn der Philipp oben vom Coups aus unterm Arm und riß ihn mit einem