Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 158.

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Der Entgleifte.

Dienstag, den 16. Auguſt.

( Ragbrua berboten.)

Von Wilhelm Holzamer  .

Das Männlein vor ihm wuchs in die Höhe wie Hans Euler   im Gedicht. Er wippte einmal auf den Fußspißen, riß die Augen auf und zog die Brauen hoch, daß die Falten quer über die Stirne und die von drei Haaren bedeckte Glaze bis zum Wirbel liefen, wie die Wellen über einen Teich laufen, wenn der Wind sie treibt. Er machte eine ganz große, eine mächtige Armbewegung, wie Vater Beus fie macht, wenn er seinen Arm übers Weltall   ausstreckt. Ganz groß und wichtig, und Philipp, der zwei Köpfe größer war, sah auf das putige Männlein von oben herab und lächelte.

Junger Mann," sagte der Direktor, Methode ist alles. Was sind wir alle ohne Methode? Was ist all unser Denken und Fühlen ohne Methode? Sie ist das Alpha und Omega unseres Berufes. Und wenn Sie selbst keine Methode haben, werden Ihre Schüler ohne Methode bleiben und niemals in den richtigen Besitz eines Wissens kommen. Es wird im Leben nichts mit ihnen anzufangen sein. Sehen Sie, Sie haben vergessen, den Unterschied zwischen einem Eigenschafts­und einem Umstandswort klarzumachen, Sie begnügten sich einfach mit der Frage danach ganz richtig das eine Mal mit dem Verb darum Adverb- und das andere Mal mit dem Substantiv darum Adjektiv. Aber ich bitte Sie, das ist doch ein himmelweiter Unterschied! Dazwischen liegt doch eine Welt, wenn ich so sagen soll Substantiv und Berb- Adjektiv und Adverb. Sehen Sie, das ist Methode." Der Direktor machte ein triumphierend- selbstgefälliges Gesicht, wippte mit dem Fuße, hielt die Augenbrauen hoch und schob mit einer großen Bewegung sein Notizbuch in die linke Brusttasche.

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Philipp war unendlich belustigt, aber er spielte Zerknirschten. Das stimmte den Direktor wohlwollend. Sie müssen noch viel lernen, Herr Kollege." Er schlug ihm gönnerhaft auf die Schulter. ,, Wie weit sind Sie mit Ihren Studien für das pädago­gische Examen?"

Philipp log: Ich bin nun am Amos Comenius  , Herr Direktor."

Recht so, recht so. Wenn Sie irgend einen Rat und Material nötig haben, kommen Sie zu mir, sans façon et sans gêne. Sie müssen noch viel lernen."

Dem Philipp war nun aller Spott vergangen. Dieser Zon fam ihm unerwartet. Wenn er wenigstens hätte schimp­fen wollen! Nun aber so! Er schämte sich furchtbar. Und daß er gelogen hatte! Und daß er so klein und nichtig war! Wenn auch die wichtige Miene und die große Geste des Diref­tors seinen Sinn für das Komische reizten, er kam sich ihm nun doch erbärmlich und klein vor. Er stotterte etwas von Dank, und daß er gerne gelegentlich von der Liebenswürdig­keit des Herrn Direktors Gebrauch machen wolle und wurde nur verlegener und firfeuerrot dabei, wie sich die Worte so devot und förmlich geradezu von selbst ergaben. Als der Direktor fort war, stand er da wie ein begossener Pudel und sah in sein leeres Klassenzimmer. Dann ging er an das Fenster und blickte ins Land hinaus.

Graben und hacen draußen, ein freier Herr auf freiem Boden, aber nur nicht diese Unterwürfigkeit und beschämende Bevormundung. Er dachte an den Spengler Schlüssel und seine Bücher. Wo war da Methode? Der nahm auf, wie es ihm geboten wurde. Und wenn er die Kollegen und den Direktor an dem maß, was war das für ein Unterschied! Wie Klein erschienen ihm die gelehrten Herren alle, die so viel von sich hielten und so eng und verengert waren und so unper­sönlich. Und darauf ging die ganze Schulerziehung hinaus, solche Menschen heranzubilden. Alles Lernen und Lehren, das war nur dazu da, Eselsbrüden und Krüppelfrücken zu schaffen.

Aber war er denn selbst etwas anderes? Und war er denn selbst nicht auch wie sie, daß er diese Mittel notwendig hatte zum Fortkommen?-

1910

Nun, danach wollte er gar nicht fragen. Da tat sich ein ganzer Abgrund auf. Das wurde gleich ein Rattenkönig, der nicht zu entwirren war. Und ganz einerleier wehrte sich dagegen. Er wollte so nicht sein und so nicht werden. Und wenn es in alle Frren hineinginge er wollte sich nicht auf den sanktionierten Leisten schustern lassen.

Ja, aber wie denn? Mußte ers nicht?

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Das war ihm dunkel und unbestimmt. Am Ende mußte ers auch wie diese Leute alle. Die waren auch einmal jung und auftrumpfend gewesen besser wie die war er auch nicht und nun war das aus ihnen geworden, was sie sind: Krippengänger.

Der Bedell fam: Eine schöne Empfehlung vom Herrn Direktor und Sie möchten in der nächsten Pause ins Direk­torzimmer kommen."

Er dankte. Gleich darauf wurde das Glockenzeichen für die nächste Stunde gegeben.

In der Pause überreichte ihm der Direktor einen Neu­druck des Orbis pictus  " von Comenius  ( Die gemalte Welt", berühmtes Schulbuch aus dem 17. Jahrh.). Studieren Sie das eifrig und gewissenhaft- es wird Ihnen für Ihr Eramen und Ihren Unterricht nüßlich sein." Philipp war in größter Verlegenheit. Er wehrte sich gegen so viel Entgegenkommen. Er wollte hier ganz frei sein. Nur nicht verpflichtet sein, nur keine Verbindlichkeiten. Er lag nun förmlich in Streit mit sich. Der Gymnasiast mit dem Lehrer und er wollte dem Gymnasiasten alles Recht geben und den Lehrer von sich weisen. Er wollte alles zum Auftrumpfen, zur Abtrünnigkeit in sich frei halten. Und nun wurde er gebunden ganz von selbst mit leisen Schlingen, aber um so festeren. Mit Liebenswürdigkeit und Entgegenkommen. Ach, und es verlangte ihn so sehr nach Grobsein und Abgestoßenwerden. Es verlangte ihn nach Recht und Berechtigung zum Freisein und Feindsein. Das nahm sein ganzes Sinnen ein. Und so hörte er auch nicht die guten Forderungen an seine Bildung und Ausbildung, die in seinem Fühlen lagen, die dem Direktor zunächst recht gaben, die aber nach einem stärkeren Recht in ihm selber riefen. Hierzu fehlte ihm die klare Erkenntnis und die Neife.

5.

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Das Herbstfest in der Sonne  " dauerte bis in die späte Nacht. Der Onkel Wolff hatte eine lustige Begrüßungsrede gehalten, Hermann Eigner hatte ihm nach einer kurzen An­sprache das Wort dazu erteilt. Nach ihm kam Peter Lor­berger und toastete auf Hermann Eigner. In seiner Rede fnallte es von allerlei Hieben, auf Anwesende und Abwesende, auf die Zustände im Städtchen, auf die Zustände im Lande, auf die Landwirtschaft und die Landwirtschaftslehrer und auf die Blüte des gegenwärtigen Weltgeistes, der sich in Ackerbau und Viehzucht jetzt eben einen dicken Wanst anfresse und die Rafferigkeit in der Welt pflege, aber für das Schöne und eigentlich Geistige keinen Sinn mehr habe.

Philipp wußte nicht, wie er die starken Ausdrücke Lor­bergers zu nehmen habe. Es schien alles auf Schlagkraft be­rechnet, skrupellos gewählt, ohne einen feinen Sinn, ein wenig geschmacklos, aber gutes Bierredengenre, und es saß doch so etwas wie Haß und Bitterkeit hinter allem. Er fragte nach Lorberger, wer und was er sei.

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Es ist ein besonderer Kollege von Ihnen," belehrte ihn Georg der Eiferer, Gymnasialabiturient- und da oben in einem Nest in Oberhessen angestellt."

Der Onkel Wolff war immer fürs Vermitteln. Er spürte die Hiebe in Lorbergers Rede und fürchtete, sie könnten eine schweigende Verstimmung hervorrufen, wie sehr man auch ge­lacht hatte, so lange sie ausgeteilt worden waren. Drum er­hob er sich und sprach ein paar humoristische Worte so jeschmackvoll wie Peter Lorberger kann ich freilich nicht reden", fagte er, aber ein paar jeschmacklose Worte stehen mir immer zur Verfügung, und so fordere ich Sie auf, mit mir einzu­stimmen in das schöne Lied, das ich Ihnen vorsingen werde, und dessen Refrain Sie wiederholen werden." Und er sang sein Leiblied:" Schleswig- Holstein meerumschlungen".

Es wurden viele Reden geredet. Die Urpädagogen waren darauf bedacht, ihr Licht leuchten zu lassen. Georg der Eiferer schwang sich in die Sphären des reinen Gedankens empor und