öl§ die Mittelmäßigkeit. Mein Zorn ist, mein ganz großer Zorn, daß uns die Hegemonie Preußens, daß sie uns Süd» deutsche in diese Schivcine-Mittelmäßigkeit hineinererziert, in der dann das einige deutsche Reich gedeihen soll. Mir ist's um mein Kriegsblut und meine �eldzugsschmerzen leid. Die alten Achtundvierziger waren große Esel, als die 1870er Siege kamen, wir waren aber noch größere, als wir sie uns über die Köpfe wachsen ließen. Es lebe der Partikularismus I Für ihn zog ich noch einmal mit meinem kaputten Körper in den Krieg." Philipp las das herzerguickende Schreiben auf einer Bank nahe bei dem Place Pigalle. Tie Leute guckten ihn an, wie er lachte. Die Fontäne des Platzes plätscherte sanft mit ihrem kleinen Strählchen in seine Gedanken hinein. Ein weiches Fühlen durchklang ihn. Als Postskriptum stand da: „Ich habe einen Kartengruß aus Taormina erhalten. Es ist darin geschildert, wie schon das Meer sei, wie sanft die Abende, wie hübsch die Lage von Taormina und wie unbe- schreiblich es sei, die Wellenlinie der sizilianischen Küste mit dem Aetna über ihr— ferne verschwinden und ver- schwimmen zu sehen. Es gehe gut— Brust und Nerven heilten sich aus— und manchmal ertöne nun auch die Geige wieder." Es war etwas Liedhaftes für Philipp in diesen Worten. Sie klangen schön und schmeichelnd. Aber es strebte auch etwas in ihm mit aller Schärfe ihnen entgegen. Einen Augenblick lang verwirrte sich ihm alles. Er fühlte feindlich gegen Melanie, freundlich zu seiner Frau. Was hatte ihni Melanie Freiheit genannt: Verirrung und Verwirrung? Was hatte sie ihm Kenntnis seiner selbst und der Welt ge- uannt? Wenn er zurückkehrte und seinen Weg weiterginge, den Weg, der einsam ums Dorf führt, eine Strecke Dorn, eine Strecke Wald, eine Strecke Feld, ein Endchen Wiese — dann ein Garten und eine Laube, und Frühling, Sommer, Herbst und Winter, so wie es allen Menschen geschenkt, so wie es alle Menschen zufrieden genießen und sich daran ergötzen? Warum hatte er nicht behalten, was er besessen? Hatte er sich nicht durch einen vorübergehenden Eindruck von einem Menschen bestimmen lassen, und hatte er nicht unbedacht alles geopfert? Er hätte wenigstens seine Stellung behalten können. Tann wurde ihm erst klar, daß es nicht Melanie gewesen war, die ihn hinausgetrieben hatte, daß sie es nur gewesen war, die ihn ganz auf sich selbst gestellt hatte, zu einem völligen Freisein— und daß er dann Paris gewählt hatte, mehr aus Instinkt als aus klarer Erkenntnis— und nun mußte er nehmen, was kam, und tragen, wie es kam, und ringen, wie ihm die Kraft gegeben und das Ziel be- stimmt war. Unter eigener Verantwortung. Und damit hatte er wieder eine kleine Schwäche von sich gelegt. Es war der ewige Schuldbegrisf, der uns in Fleisch und Blut einge- senkt ist, der dann auch immer wieder verleitet, einem anderen Menschen aufzuladen, was man selbst tragen müßte. In seinem Leben war ein falscher Schoß gewesen, der hatte keine Krone bilden können. Einmal hatte das offenbar werden müssen. Denn darin ist das Leben unerbittlich. Niin ging er hinüber in die„Tote Ratte", wo die Deutschen tagten. Er fand sie im vollen Disput. Der kleine Doktor Söhnchen sagte beständig:„Aber wählen Sie doch ein klein wenig Ihre Ausdrücke, meine Herren"— worauf der große Heinrich Willibald immer erwiderte: �Halt's Maull" so wie ein Kutscher einen Pcitschenschlag Hirnen über seinen Wagen weg ausführt, wenn sich ihm böse Buben angehängt haben. Mirim kicherte dazu und schielte nach Söhnchcn hin, der wie ein Opferlamm, klein und geknickt, auf seinem Stuhle saß. „Ich habe heute wieder das Moreau-Museum besucht." sagte Söhnchcn.„Es ist doch sehr fein, und ich finde die ganze Idee so nett, ein Haus zu haben, darin ein Leben lang zu arbeiten und dann sein Haus und seine Werke der Stadt als Museum zu schenken, dem Publikum zur Besichtigung aufzutun. Sehr nett." „Moreau ist einfach hysterisch," sagte Herr Bender aus Mannheim .... „Historisch," verbesserte Mirim,„und das heißt ver- gangen." „Literatur!" sagte der große Heinrich Willibald.„Aber was soll uns all der Literaturguatsch? Wir brauchen Leben, Natur, Kraft. So spinnewebfeine Geister wie Du, Söhnchen, die sind nur Literatur, die sind die Schwalbennester in der gesunden Bauernkost. Und ich trau Euch nicht. Nein! Ich glaub, daß Ihr alle mehr Schwindler als ehrliche Kerle seid. Schwindler— was sagst Tu dazu. Mirim?" lForts. solgt.) �Nachdruck vnröltn.1 Oer Dieb. Von Hermann D r e ß l e r. Es war ein Testament wie jedes andere, wenigstens stand nicht mehr darin als in jedem anderen. Aber es war schöner, in braunes Leder gebunden, die Blätter waren mit Goldschnitt versehen, und die Schrift darin war so zierlich, daß man das winzige Büchlein bequem in die Tasche stecken tonnte. Herr Rektor Schreiber bediente sich dieses Büchleins, wenn er in seiner Mädchenklasse Religionsunterricht erteilte. Er legte es immer so sorgfältig zwischen die beiden Tintenfässer vor sich aus das Katheder. Heute stand auch wieder„Religion" auf dem Stundenplane. Die Hausglocke hatte eben mit schriller Stimme den Beginn des Unterrichts in die lebhaften Klassenzimmer hineingerufen. Die Mäulchen der zehnjährigen Mädchen verstummten zum Lispeln, und dieses hörte bald ganz auf, denn auf dem Korridor ertönte das be- kannte Stiefelknnrren Rektor Schreibers. Gleich darauf trat er ein, der große Herr mit den freundlichen Augen und dem väterlichen Wesen, den sie alle so gern hatten. Er schien an diesem Tage besonders gut gelaunt zu sein, wenigstens leuchteten seine Augen so freudig beim Gruße seiner Klasse. Gesang und Gebet waren vorbei. Die Mädchen setzten sich nieder. Ebenso nahm Rektor Schreiber Platz. Vorher aber griff er in die Tasche und zog sein Neues Testament hervor, an dem alle Kinderblicke mit so viel Bewunderung als an etwas ganz besonders Herrlichein hingen. Der Unterricht verlief zu seiner Zufriedenheit, ohne Störung und Aufregung. Die Augen der Schülerinnen hingen mit wahrem Eifer am Gesichte de? Lehrers. Nur zwei Augen konnten an diesem Tage nicht recht voll und froh zum Katheder einporblicken. Hin und wieder streiften sie mit scheuem Seitenblick das Neue Testament mit dem leuchtenden Gold- schnitt. Dann überzog stets ein leichtes Rot das schöne Kindergesicht. Es war Charlotte, die da hinten auf der letzten Bank saß— eine der besten Schülerinnen Rektor Schreibers— aber heute hatte sie sich noch nicht zu einer einzigen Antwort gemeldet. Die Stunde war zu Ende. Mit freundlichem Kopfnicken ver- ließ Rektor Schreiber das Zimmer, sein Neues Testament auf dem Kalbeder zurücklassend. Er hatte die nächste Stunde in derselben Klasse. Mit seinem Verschwinden begann sofort wieder das heitere und lebhafte Geplauder, jene Unruhe, die pedantische Lehrer gerne bösem Willen zuschreiben. Paarweise verließen die Mädchen das Zimmer, um die 15 Minuten Pause auf dem Schulhofe zu verbringen. Charlotte trat als letzte in die Reihe. Schweigend ging sie bis zur Türe, mit doch plötzlich kehrte sie mit einem scheuen Blicke auf ihre Klaffenschwestern um und überzeugte sich nochmals, ob ihr Ent- fernen auch nicht bemerkt worden sei. « Die Pause war zu Ende. Die nächste Stunde begann. Lebhaft gestikulierend polterte die kleine Gesellschaft ins Zimmer, bis Rektor Schreiber durch sein Erscheinen der Unruhe wieder ein Ziel setzte. Verwundert blickte er auf das Katheder und warf dann einen fragenden Blick in seine Klasse. Sein Neues Testament war ver- schwunden. Der helle Goldschnitt leuchtete nicht mehr an der ge- wohnten Stelle. Doch sagte er nichts. ES war ja möglich, daß ein Kollege sich das Büchlein während der Pause geliehen hatte. Die erregten Blicke seiner Kinder beschwichtigte er durch den Beginn der neuen Uwserrichtsstunde. Als das Glockenzeichen ihr Ende ankündigte, verließ er seiner Gewohnheit gemäß das Klassenzimmer. Kaum war das Knarren seiner Stiefeln aus dem langen Korridore ver- hallt, als die Aufregung in hellen Flammen unter der Mädchcnschar emporlohte. „Rektor Schreibers Neues Testament ist gestohlen worden! Wer ist der Dieb?"— Diese Frage wurde in allen Tonarten ventiliert.> „Das schöne Testament mit dem Goldschnitt I" „Dazu gehört aber viel Schlechtigkeit!" „Ich war's nicht, ich war aus dem Hofe, nicht wahr, Liesel? Wir haben zusammen die Tauben gefüttert!" .In!" „Und ich war auch dabei 1� „Ich auch I" „Ich auch!" So tönte eS im frohen Gefühle der Schuldlosigkeit von allen Seiten.— Nur Charlotte tat nicht mit. Sie war im Anfange sehr verlegen geworden. Jetzt nahm sie ihr Lesebuch herauf und versuchte zu lesen. Sie sah zwar nichts, aber es verschaffte ihr doch eine Ablenkung. „Wer war denn in der Pause oben?" „Lotte, warst Du denn auf dem Hose?" „Ich—? Ja!" sagte Charlotte uud sah wieder auf ihr Buch. „Ich habe Dich aber nicht gesehen! Mit wem bist Du denn gegangen?"
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27 (29.9.1910) 190
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