Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 197.
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Sonnabend den 8. Oftober.
( Nachdruck berboten.)
Der Entgleifte.
In dem einen nur war er mit Philipp nicht ganz zufrieden: er trank ihm zu viel. Es war natürlich nicht mit ihm ausgemacht, wieviel er trinken dürfe. Aber nun ward es ihm doch zu viel. Da verweigerte er ihm oft das neue Glas. Doch nun trat man für ihn ein, man sammelte für ihn. Man meinte es ja gut mit ihm und bemitleidete ihn, wenn er vor einem leeren Glase sitzen sollte. Und schließlich führte fich dieses Sammeln so ein, daß es immer und ganz von selbst geschah.
Obschon er nun mit dem niedersten Volke, das die Großstadt hervorbringt und beherbergt, lebte, wurde man nie aggressiv gegen ihn. Man ließ ihn gewähren, wie er wollte und da man ihn für einen amüsanten Narren hielt, so war das gewissermaßen die letzte Möglichkeit, wie er sich noch einen Rest von Eigenart und Persönlichkeit bewahren
fonnte.
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Er lebte dieses Leben im Grunde doch fremd. Er lebte in seiner Welt troß alledem. Nur zu dem Glasfresser 30g es ihn mit einer seltsamen Freundschaft hin. Was Trieb zum Leben in ihm gewesen war, das war nun Verlangen zum Sterben geworden, mit diesem letzten Anklammern an das Leben, daß er es nur mählich und in Rausch und Vergessen von sich werfen wollte. Er wollte es abstreifen nach und nach, bis es zu seiner legten, sacht verpulsenden Auflösung gelangt wäre.
An fich und an seinen Wert jedoch dachte er nicht mehr. Er hatte keine Forderungen mehr an sich. So hatte er auch feinen Schmerz mehr. Diesen Verlust zu zählen und zu wägen, hatte er nun die Klarheit schon verloren.
13.
Pierre, der Glasfresser, war ein Mensch von rauber und grober Schale, aber eine treue Seele. Er hatte es mit gewittem Blick bald herausgekriegt, wo sich Philipp an der Welt stieß. So half er ihm über die Ecken hinaus, bis er wieder seinen geraden Weg gehen konnte. Und er hatte Philipp eine schöne Gelegenheit verraten, Geld zu verdienen.
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Ueber die Grands Boulevards bewegten sich die Sand. wichs"( Reklameträger) der Vernügungsetablissements. Man war sie schon so gewöhnt, man ließ sie unbeachtet passieren. Dann aber gab es plößlich eine Stockung im Passantenstrom: es war eine Ansammlung entstanden, wie sie in Paris bei der kleinsten Begebenheit möglich ist. Und lachend, aber sehr langfam, bewegte sich ein Menschenfnäuel weiter und wurde größer und größer, wie eine Lawine wächst, die den Berg hinabrollt. Die äußersten Zuschauer konnten schon nicht mehr sehen, was denn zu sehen war und alle Welt anzog. Sie trennten sich vom Haufen los und liefen voraus, das Ereignis zu erwarten und so in nächster Nähe zu sein, wenn es bis zu ihnen vorgekommen wäre. Und was war zu sehen: Ein Mann, als Zimmermaler angezogen, eine rote Müge auf, einen großen Malerkittel an, falfbesprißte Schuhe, Löcher in den Strümpfen, ging gemütlich, wie in der Arbeitspause, oder als fuche er seinen Bau denn von Zeit zu Beit blieb er stehen und sah sich um, über die Boulevards hin, und hinter ihm her schritt ein zweiter, ganz genau so angezogen wie er, und malte ihm in verschiedenen Farben quer über den Rücken und den Hintern: Farben von Ripolin." Das war die Neklame dieser großen Farbfabrik, die fertige Farben in allen Tönen, in glänzender und matter Wirkung, in Blechdosen verkaufte. Die Fabrif hatte ihr Blakat lebendig gemacht: zwei wirkliche Menschen mußten ausführen, was da gezeichnet war. Ihre Malerfittel waren aus Gummi, die Schrift war in feinen, den Umstehenden nicht sichtbaren Linien schon ausgeführt, sie war nur mit den Farben auszufüllen. Das Bild, das die beiden boten, genügte eigentlich schon, aber das Publikum folgte
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ihnen dennoch nach und sah dem langsamen Werden von Buchstaben zu Buchstaben zu.
Der vorn ging, war Philipp. Der Glasfresser malte ihm die Buchstaben auf.
Sie waren am Morgen zu dem Neklamedirektor der Folies- Bergère gekommen, und er hatte sie für den Abend engagiert. Aber dem Glasfresser war der eine Frank zu So wenig, er wollte auch einen Tages verdienst haben. führte er Philipp zu einem Reklameinstitut. Hier wurden ihnen verschiedene Vorschläge gemacht, zuletzt der der Ripolinreklame. Der Glasfresser, der schon alles getrieben hatte, fagte, er fei ein Maler und darum besonders für diese Sache geeignet. Die Gummikostüme, Müßen und Schuhe lagen schon bereit. Man verlangte eine Probe. Der Glasfresser wollte den Gummifittel auf einen Tisch ausbreiten und die Firma aufmalen. Aber damit war man nicht zufrieden. Der Glasfresser setzte ihm den Malstod feft ins Kreuz und Philipp mußte ihn anziehen und langsam auf und ab gehen. malte die ersten beiden Buchstaben. Man sah, daß er's fertig brachte. Sie wurden engagiert, der Glasfresser für Fr. 50, Philipp sollte nur einen Frank erhalten, der Glasfresser trieb aber auf 1 Fr. 15 hinauf.
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So zogen sie über die Boulevards hin. Gegen fünf Uhr war diese Arbeit beendet. Sie gingen in eine Kneipe, aßen ein wenig und fanden sich dann in den Folies- Begère ein. Hier lagen wieder andere Kostüme für sie bereit. Als die Straßen beleuchtet waren, gingen still und feierlich, gravitätisch und wichtig, fünf Männer in gleichen Abständen über die Grands Boulevards. Sie hatten rotbraune Anzüge an, weite Hosen, lange Gehröcke, gelbe Samtwesten, von denen eine dicke Schnur herabhing, die in der rechten Hand endigte, braune Regenschirme in der Hand, braune Zylinderhüte auf, graue, langlockige Perücken darunter und weiße Glacéhandschuhe. Onkel Sam- fünf Onkel Sams. Grauen Spitbart, glatte Oberlippe, Monocle. So schritten der erste, der zweite, der dritte, der vierte, der fünfte. Reiner verzog eine Miene. Sie zählten ihre Schritte ab. Jeder war eine Welt.
Auf ihren Hüten erschien dann und wann eine leuchtende Schrift: Folies Bergère . Vor den Terrassen der Cafés blieben sie stehen. In gleichen Abständen hatten sie Posten gefaßt, den Gästen auf der Terrasse zugewendet. Die Schrift auf den 3ylinderhüten leuchtete auf. Dann Pause. Und, wie an der Schnur gezogen, eine gemeinsame Verbeugung. Dabei gingen mit einer langsamen, edigen Bewegung die Zylinderhüte von den Köpfen. Fünf hohe Glazen wurden sichtbar, tief den Gästen auf der Terrasse zugebeugt. Und dann erschien auf den fünf Glazen die gleiche leuchtende Schrift: Liane de Bougy. Langsam die Köpfe gehoben, langfam die Hüte aufgefeßt, noch einmal die leuchtende Schrift auf den Hüten: Folies- Bergère ; dann ein Ruck, die Fünfe stelzten weiter zum nächsten Café. Das Spiel wiederholte sich längs der Boulevards bis zur Madelaine; an der Madelaine wurde in die Rue Royale eingebogen, und dann ging es auf der anderen Seite zurück bis zum Place de la Nation. Geschlagene vier Stunden mußten fünf Menschen wie mecha nische Puppen sich anstellen und durften sich kaum einen Augenblic- nur wo die Cafés ausfettenfreier bewegen, Denn ihnen nach schritt ein Angestellter der Folies- Bergère und überwachte sie schwarzen Gehrockanzug, Zylinder, weiße Krawatte, helle Glacéhandschuhe, ein dünnes Spazier Stöckchen mit Silbergriff. Alles im Stil.
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Als die Fünfe vorm Café américain waren, saß da ein Halbweltmädchen, das seinen Abfinth trank. Sie betrachtete die Komödianten und grinste mit ihrem zurechtgemalten Gesicht.
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Blößlich schrie fie auf:„ Gott ! was ist denn das? Wahrhaftig! Mein Gott! Der arme kleine deutsche Doktor!" Philipp, der der erste von den Fünfen war, rührte sich nicht. Der Neflamedirektor hatte ihn den anderen vorausgestellt, weil er ihm der würdigste schien und das traurigste Gesicht zog.
Hinter Philipp stand jetzt der beaufsichtigende Herr im schwarzen Gehrockanzug und wartete, was tommen würde.