Nnterhaltungsblatl des HorwSrls Nr. 198. Diensteid den 11. Oktober. 1910 <Nachdrull verdoi«i.) 68] Der Entgleiste. Bon Wilhelm Holzamer  . 14. Pierre und Philipp waren gute Freunde geworden. Pierre wußte so viele Möglichkeiten und Gelegenheiten, wo man sichden Magen gut süllen konnte". Er wußte immer eine Arbeit zu finden. EZ war merkwürdig, er brauchte nur auf die Straße zu gehen, so bot sich ihm etwas. Und fand er nichts, verkaufte er Blumen und drehte den Schutzleuten eine Nase, weil er keinen Erlaubnisschein dazu hatte. Philipp und Pierre waren zusammengezogen. Sie wohnten billig und lebten nun solide. Sie ruhten des Nachts und arbeiteten des Morgens. Und jetzt war es Philipp, der wieder auf Pierre zurückwirkte. Er half ihm, sich zu begnügen und uicht zu viel in Alkohol anzulegen. Und Pierre lächelte dazu und behauptete, man fühle sich wohl dabei. DenFlotten Hasen" betrat Philipp nicht wieder. Aber Pierre ging von Zeit zu Zeit hin. Er blieb eine begehrte Nummer dort. Er hatte es eingeführt, zu sammeln, wenn er sein Glas zerkaut hatte,um das Glas zu bezahlen". Aber es blieb von diesen Abenden nichts übrig. Mit den Frauen gab er sich nicht ab.Das ist nichts für mich." sagte er zu Philipp,nicht mein Geschmack!" Und einmal entfuhr es ihm:Ich habe eine Schwester, die gehört auch dazu!" Er machte eine Handbewegung und schnitt eine'Grimasse. Philipp sah, daß es ihm weh tat. Aber er war gleich wieder ausgelassen und lustig. In Philipp hatte sich der Arzt wieder gemeldet. Da er aus seinen geraden Berufsgleisen gerissen war. versuchte er helfend und heilend einzugreifen, wo Unwissenheit und Elend oft auf ärztliche Dienste verzichtet hatten. Und weil seine Hilfe freiwillig angeboten wurde, ließ man sie sich ge- fallen. So hieß Philipp bald in diesen Kreisender Doktor". Er verband Wunden, untersuchte Kranke, heilte langwierige Krankheiten, die vernachlässigt waren. Sein alter Doktor im Hunsrück   fiel ihm ein und was er bei ihm gelernt hatte. Hier konnte er es anwenden, denn die Medikamente durften nicht teuer sein, sonst wurden sie nicht gekauft und ange- wandt. Er mußte immer aufs Einfachste und Billigste sinnen. Was er mit einem Tee oder einem Oel heilen konnte, das heilte er damit. Wenn es nicht möglich war, ging er selbst in die Apotheke und machte ohne Rezept Zu- sammenstellungen. Er hatte einen jungen Apotheker in der Rue Levic gefunden, der auf alles sehr gern einging. Sie lernten beide aneinander. Für Philipp war das eine ganz neue medizinische Schule. So hatte er eine recht ausgedehnte Armenpraxis ohne Entgelt freilich, aber mit einer warmen Erkenntlichkeit. Er sammelte Erfahrungen, und manchmal war ihm, er spüre den Finger des Lebens, der weiter weise. Die Sparsamkeit zwang zu einer Art von Homöopathie, die Philipp ursprünglich ganz fern gelegen hatte. Die Homöo- pathie zwang ihn wieder zu einer eigenen Ueberwachung der Kranken, damit Regelmäßigkeit und Dosis genau eingehalten wurden. Und das war manchmal nicht leicht. Die Armut ließ den armen Menschen meist nicht Zeit zum Kranksein vielen mußte eine sonnigere und geschützte Stelle an der Straße das Krankenlager bieten. So machte Philipp auch hier, in Luft- und Lichtwirkung, neue Studien. Ein heim- licher Armenarzt, der Helfer der Aermsten und Ausge- stoßensten des Lebens manchmal machte es ihn stolz. Er­fühlte die religiöse Seite seines Berufes, und er fühlte mehr: die hohe Mission, die er hier erfüllte, die Mission des Wohl- tuens, der verschwiegenen, interesselosen Hilfe. Und es war wie ein mystischer Schimmer, den er um sich fühlte, ein schöner, warmer Schein, den jedes Erfülltsein und Gehoben- sein in einer Aufgabe und einem Lebenszweck dem Menschen gibt, sei er, wer er sei, Handwerker oder Priester, Dichter oder Tagelöhner. Er fühlte, er schritt durchs Leben, wie der Säe» mann über den Acker, wie der Gärtner zwischen seinen Blumen und Sträuchern und Bäumen. Nie hatte er gefühlt, was sich in ihm jetzt mit aller Klarheit und Deutlichkeit auf- drängte: daß der Beruf des Arztes der schönste sei von allen Berufen vielleicht außer dem des Priesters, wenn es noch welche gäbe, nämlich des Priesters, der für die Seele geben könnte und geben wollte, was der Arzt dem Leibe gibt. Dabei war er für die übrigen Menschen ein Verkommener, ein Aus» gestoßener denn er war arm und dürftig gekleidet und hatte kaum noch einen Rest der Ordentlichkeit seiner besseren Zeit an sich. Aber wie er entbehren gelernt hatte, so hatte er auch gelernt, den Ueberfluß verachten. Er sah alles auf das Einfachste und Notwendigste hin. Er litt nicht mehr an seiner Armut, wie er in seiner Jugend an ihr gelitten hatte. Er hatte alle Eitelkeit überwunden, alles, was den Menschen äußerlich macht und ihn innerlich darben läßt. Er fing an, innerlich zu besitzen, so sehr er äußerlich auch darben mußte. Und er hatte Vertrauen. Wenn nichts von außen mehr an ihn herankam, das ihn verhinderte weiterzuschreiten oder ihn gar zurückwarf, so war wo ein Ziel in der Welt für ihn. zu dem er gelangen mußte. Ging er noch durch Schlamm? Nein! Er ging nur durch Gestrüpp. Und es war gut, daß seine Füße verwundet wurden, das machte die Füße hart und fest und widerstandskräftig, und seine Füße würden nie- mals vor Dornen und Dickicht zurückschrecken. Auf seine Füße konnte er sich jetzt verlassen. Es stieg das Bild seiner Heimat vor seinen Blicken auf, ganz in Gold und Sonne getaucht, um den Giebel der Eulen» mühle flog der blaue Rauch und auf dem Dache rucksten die Tauben. Mutter saß am Fenster in ihrer Stube und sah hinaus und weinte nicht mehr. Sie brauchte nicht mehr für ihn auszuhalten... es hatte sich alles erfüllt.... Da merkte er, daß es noch weit dahin war, und daß et geträumt und Luftschlösser gebaut hatte. Aber warum sollte er nicht träumen? Hatten Träume nicht ebensoviel Recht wie die Wirklicheit? Und er träumte weiter, mitten im lauten Getriebe er ging ihm ja abseits und er sah in einer unbekannten Gegend Melanie. Er sah sie neben der Mutter, und sie warteten, daß er käme. Und ex kam. Pierre teilte sehr oft den Verdienst mit ihm.Du bist der Doktor, Du brauchst schon etwas mehr." Philipp be- schämte das. Aber Pierre blieb bei seiner Meinung. Ich schreibe ja doch keine Doktorrechnungen." Dann kam ein großer und schöner Tag. Philipp hatte es fertig gebracht, zehn Franks zu ersparen. Noch ein weniges und es waren zebn Mark. Das war der große und schöne Tag, als die zehn Mark beisammen waren. Er schickte sie der Mutter. Sie sollte sehen, daß es ihm gut gehe. Er sei nicht reich, aber er komme weiter. Sie möge nicht traurig sein, sondern vertrauen. Eines Tages gelinge ihm ganz, was ihm jetzt nur teilweise gelingen könne. Er war so froh. Er wollte' heute feiern und ver- schwenden. Aber er ging nur hinaus ins Freie. Er genoß den schönen Apriltag, der die Welt erfüllte. Und er genoß das Alleinsein. Er umschritt den großen See des Bois de Baulogne, ging dann weiter am kleinen vorbei und wendete sich dann nach rechts, nach Saint-James zu. Hier waren nicht viele Menschen, erst von hier an geriet er unter sie. Er genoß jeden Sonnenreflex, der im Blattgrün spielte, der über den Waldesboden huschte, der ans dem Wasser schwamm. Die Wolken gingen ganz hoch, und es war weit im Blauen, wo sie zogen. Ein kleiner freundlicher Wind lief vor ihnen her, und manchmal warf er sich voller in die Kronen der Bäume, schaukelte sich eine Weile in ihnen, sprang dann wieder in die Höhe und lief über den Wald weg, der im Wiegen und Schwanken seiner Wipfel, dem Rauschen der Kronen und Flüstern der Blätter von seinen flinken Füßen erzählte. Dann aber war es einen Augenblick ganz still, wie wenn man allein zu Hause sitzt und einen Freund erwartet. Man hört draußen die Pforte gehen, und dann bleibt's still, lange still, bis es an die Türe klopft, durch die der Erwartete eintreten soll. Es ist alles Spannung und Zittern nun wird sich daS Schöne ereignen, das angekündigt worden. So war es Philipp gehoben und erwartungsvoll, Ganz still. Sollte er nicht vertrauen und träumen dürfxn? Es würde schon einmal bei ihm anklopfen, das Erwartete. Aber er wußte ja. es war dann ein Errungenes. Von seinem