Hlnterhaltungsblatt des vorwärts Nr. 204. Mittwochs den 19. Oktobet. 1910 (Nachdruck perdoteuj li] Der Entgleiste. Don Wilhelm Holzamer . 19. Der Apotheker aus der Rue Lepic hatte Philipp eine Ab- rechnung geschickt. Er schrieb ihm aus dem mit seinem Heil- mittel erzielten Gewinn einen Anteil von hundert Frank zu, die er in einem schönen neuen Schein beilegte. Philipp lächelte. Nun, er mochte reich damit werden. Er kannte seine lieben Franzosen schon. Im nächsten Jahre— oder noch in diesem— hatten die Pillen einen schönen Namen und gingen als Universalmittel, hübsch verpackt und gut empsohlen. Pierre hatte kein Geld nötig. Er war traurig. Er hatte auf einmal alles über Bord geworfen. Aber plötzlich schnellte die Lebenslust wieder in die Höhe. Philipp ängstigte sich. War's Galgenhumor? Er beobachtete Pierre. Nein, es war alles ohne Bitterkeit. Seine gesunde Natur und seine Pracht- volle Oberflächlichkeit hatten richtig den Sieg davongetragen. „Ich bin wie eine Feder in der Luft," sagte Pierre. „Weht der Wind stark, fliegt sie weit, weht er schwach, fällt sie bald wieder. Aber beim ersten Lüftchen hebt sie sich wieder auf und läßt sich davontragen. Und einmal fällt sie auf die Straße— und ein hübsches Mädel tritt mit ihrem kleinen Schuh auf sie. Ist das nicht hübsch? Vielleicht wird sie ab- gestrichen, vielleicht bleibt sie auch an den niedlichen Sohlen kleben. Ist das nicht hübsch? Sag dochl" Philipp sah ihn lange an. „Hübsch gedacht, Pierre?" „Hübsch gedacht— das macht ihr Deutschen so! Wir Franzosen , wir denken's nicht nur, wir wissen's auch zu leben. Das ist der Unterschied." „Also Du brauchst kein Geld?" „Wozu, ich verdiene ja— und wenn ich kcins verdiene, brauche ich auch keins? O, seid ihr schwerfällige Leute! Ich möchte beileibe kein Deutscher sein." Philipp schickte den hübschen, sauberen Hundertfrankschein an seine Mutter. Und schrieb ihr einen kleinen Brief dazu. Schrieb, er stehe vor einer neuen Tür des Lebens. Das könne sie nicht verstehen, aber sie möge es ruhig lesen und wieder- holt, da werde es wie die Worte in den Kirchenliedern, die sie auch nicht verstehe und doch gebrauche und lebendig habe. Es sei eine große, schwere, aber schöne Tür. Und sie möge sich nicht sorgen! Von dem Gelde aber möge sie sich eine Flasche Champagner kaufen, extra in Mainz , im„Pfälzer Hof", französischen, für fünfzehn oder zwanzig Mark und so übermütig dabei werden, wie er selbst in diesem Augenblick sei! So ganz übermütig, daß man sich selbst nicht begreifen könne. Wenn es einem schwer sei in der Seele, das verstehe man leicht. Aber das Glück, das Glück verstehe kein Mensch! Aber man müsse es leben! Und so müßte sie's auch leben. Nur einfach leben! Er fühlte, er könnte ihr tausend Bogen schreiben über das Glück und wie man es leben müsse. Er fühlte auch, es wäre der Mutter eine fremde Sprache. Aber, dachte er, es müsse sich doch etwas davon in ihr Herz finden! Es findet sich auch von dem Friihliug etwas ins Herz, vom blauen Himmel und dem' schweigenden Mittag, und kein Mensch auf der Welt hat es je begreifen und ganz verstehen können, was es sei. Dann kam der Abschied. Er verließ zusammen mit Pierre das kleine Zimmer, das sie bewohnt hatten. Sie drückten der Portierfrau die Hand. Vorm Tor rollte sich Pierre eine Zigarette, spuckte aus, wischte sich mit dem Acrmel den Mund und sagte: „Also zu Ende! Auf Wiedersehen!" Sie hielten sich die Hände. „Wir haben den gleichen Weg," sagte Philipp. „Gut," sagt« Pierre,„nehmen wir ein Gläschen zum Ab- schied— das sind wir einander noch wert." Er zerkaute seine Zigarette uni� rollte eine neue. „Gehen wir in die„goldene Schnecke"," schlug Philipp vor.„Da Hab ich angefangen, wollen wir da auch Schluß machen!" Pierre war einverstandene Der Wirt war glücklich, Philipp wiederzusehen. „O, er erinnere sich, er erinnere sich noch." Nur ein Blick— die feine Diskretion des Franzosen er» laubte keine Frage, keine weitere Bemerkung. Er spendete eine Flasche aus seinem eigenen Weinberg in seiner Heimat. Sie tranken ihn aus hohen, flachen Champagnerschalen, ob» gleich er nicht moussierte. Pierre rollte sich eine Zigarette nach der anderen. Er zerkaute sie mehr, als er sie rauchte. Und sie hielten ihm nicht Feuer. „Sie rauchen Streichhölzer!" scherzte der Wirt. Sie scherzten alle drei zusammen. Pierre stand auf und ging hinaus. Philipp, und der Wirt plauderten weiter. Dann wurde Philipp unruhig. Pierre kam nicht zurück. Er kam nicht mehr. Er war gegangen. Und Philipp wurde der Wein hart und sauer auf der Zunge. Dann ging er auch. Er ging den weiten Weg zur Ville Evrard zu Fuß. Und auf dem langen Wege nahm er langen und schmerzlichen Abschied von Pierre.— Mit einem leisen Knarren schloß sich hinter ihm das Tor der Anstalt. Er stand im Hofe— rings Mauern und Gitter. Während ihn der Portier zum Bureau führte, schickte er einen letzten Gedanken hinaus in die Welt. Tann hatte er sich ganz in der Gewalt. Er war nun nicht mehr Philipp Kaiser, er hieß Philippe Villebois und war Wärter der Irrenanstalt von Ville Evrard. Es war alles für ihn besorgt. Seine Papiere lagen bereit, er hatte nur zu unterschreiben. Er wurde eingekleidet und dem Abteilungsarzt und seinem Hilfs- arzt vorgestellt. Es ging alles mit höflichen Worten und sehr rasch ab. „Führen Sie sich gut, halten Sie sich genau an meine Anweisungen und seien Sie höflich zu den Kranken. Sie sind nicht alle unheilbar, die Sie unter den Händen haben — also hüten Sie sich— unsere Presse ist wachsam, und ich lasse nicht mit mir spaßen. Politik, lassen Sie sich das auf alle Fälle gesagt sein, gibt's hier in der Anstalt nicht! Lassen Sie Herrn Jaurös in der Kammer reden, aber lesen Sie seine Reden nicht. Es gibt keine Politik in der Anstalt!" Philipp war entlassen— und lebte nun seinem Amt und seiner Aufgabe. Er erfüllte sie, wie seine Kollegen. Es war ihm nichts anzumerken. Er hütete sich sogar, nur einen Rat zu erteilen, denn er fürchtete das kleine Glied de» Fingers, das er damit seinem Berufe reichen würde. Er hielt nur die Augen offen, diese anderen Augen, von denen kein Mensch wissen konnte. Die diese scharfe und verschwiegene Linse hatten, die alle Beobachtungen und Eindrücke auf eine andere Bewußtheit warf, wo sie ein scharfes Bild abgaben, ein Bild von den Kranken in den kleinsten Intimitäten ihrer Zustände und Behandlungen, ein Bild von den Aerztcn, ihrem Verständnis, ihren Vorkehrungen, ihrem Verhalten, ein Bild endlich von den Zuständen im Hause und allem. was sich auf die Pflege und Behandlung, auf Vorkehrung und späteres Eingreifen den allgemeinen Prinzipien nach bezog. Es entging ihm nichts, und er zog stillschweigend seine Schlüsse, so, wo gefehlt wurde, wo die Anforderungen er- weitert werden mutzten, wo eingeschlagene Wege zu verlassen und neue zu betreten wären. Und im Geiste ging er auf diesen neuen Wegen. Die Praxis lehrte ihn so viel von den Kranken selbst, schloß chm so viel Verborgenes von ihnen auf, daß es zu verwundern war, wie die Theorie hier noch unzu- länglich war. Es war eben für die Kranken, so viel auch untersucht und beobachtet wurde, doch ein anderes, ob der Arzt es tat. oder, ganz verschwiegen und ohne Inszenierung, der Wärter, der jeden Augenblick Gelegenheit hatte, mit dem Kranken in Verkehr zu treten. Der Wärter war bislang nur ein Organ des Arztes, er konnte ihm nicht geistig Helsen , weil ihm die Schulung fehlte, er konnte nur berichten über äußere Erscheinungen, über die äußeren Umstände, unter denen sie
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27 (19.10.1910) 204
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