Unterhattungsblatt des Horwärts Nr. 207. Sonnabend den 22. Oktober. 1910 (Nachdruck verboten� 771 Oer Entgleiste. Von Wilhelm Holzamer . Aber in Köln war jeglicher Uebergang vorbei. Der Deutsche war wieder in Deutschland . Er verzieh sogar dem Bahnhofs- kellner, daß er ihm den Kaffee hinstieß, als ärgere er sich, daß er überhaupt bedienen müsse. Er ging in die Stadt und trank deutschen Wein und kaufte deutsche Zigarren. E war ein heiterer Tag. Er entschloß sich, mit dem Dampfer bis Mainz zu fahren. Mit dem Dampfer auf dem Rheine I Sein Herz hüpfte. Jugend! Alles Glück und alle Liebe der Jugend! Der Himmel war rein und blau und wurde immer heller, je höher die Sonne stieg. Die Luft war ein Silberflimmer. Der Rhein war grün, hell und glitzernd. Die Städte und Berge, die Burgen und der Wald, die Türme und die Felsen waren vergoldet. Und es war ein Grüßen zu ihm und es war ein Gruß zu ihnen. Das helle Schiff furchte den grünen Rhein zu Bergen und Bingen kam, das liebliche, einzige; der Rheingau grüßte, der reiche, gesegnete, und den Türmen und Brücken des goldenen Mainz fuhr der Dampfer entgegen. Nachmittagsglanz lag auf der Stadt, und der Abend wartete schon, seinen Purpur über sie zu gießen. War die Welt schön! War das Leben ein Glück! Auf Schritt und Tritt ging die Erinnerung mit ihm. Auf Schritt und Tritt klang im Neuen das Alte. Zum Bahnhof! Er fuhr mit dem nächstn Zuge seinem Dorfe zu. Wie war das verändert! Ein anderer Bahnhof, eine andere Bahnhofstraße, neue Häuser, Fabriffchornsteine, und wo die Pappelallee die Wiesen durchschnitten hatte, glitzerte der Schienenstrang einer neuen Bahnstrecke, die von Oppen- heim nach Bingen führte. Hier war er fremd. Niemand erkannte ihn. Er war froh. Aber als er aus dem Bahnhofsgebäude heraustrat, blickte er nach links hinaus in das Wiesenland. Da war der helle Giebel der Eulenmühle, wie er immer gewesen war. Und der Rauch stieg auf. Er mußte die Zähne aufeinander beißen. Um seine Lippen zuckte es. Er fühlte seine Augen feucht werden. All dies Glück, war es Leid? All dies Leid, war es Glück? Er wußte nicht, was er mehr fühlte. Es war fo schmerzlich und so wohlig, was da aufftieg, und es machte ihm das Herz weich. Die Mutter saß auf der Treppe und blickte, den Kopf in die Hände gestützt, vor sich hin. An der Pumpe holte jemand Wasser. Nun stand er vor ihr. Sie war alt, grau und runzelig geworden. Ihre Lippen waren eingezogen, und ihr Mund schien noch größer geworden zu sein. Sie erkannte ihn, wie er sagte:Guten Tag, Mutter!" Sie schrie ganz laut auf und sprang in die Höhe. Und erst nach einer Weile fand sie ein Wort.Philipp!" rief sie. Und sie stand immer noch unbeweglich. Sie wußte nicht. waS sie tun sollte. Er küßte sie. Und plötzlich, unter Weinen und der- schluckten Tränen, rief sie:«Danz doch! Danz doch! Philipp!" Mit dem hohen A, das ihm so viel Spott eingetragen hatte. Da nahm er sie in die Arme und schwenkte sie herum und sagte, als er sie wieder frei gab: Ja. da bin ich, Mutter!" ..Äahrhaftig. da bist Du!" sagte sie. Bist Du froh?" Sie nickte nur. Wirst einen schönen Hunger haben?" fragte sie. Nein, gar keinen." Na. komm herein. Es grbt noch'was im Kllchenschrank. Weißt Du, was? Ich Hab den letzten Winterschwartenmagen grab gestern angeschnitten." Sie gingen hinein. Und die Kunde von Philipps Heim- kehr lief durchs Dorf. Nun war es eine ganze Menge Leute, die ihn schon erkannt und gesehen haben wollten. Sie saßen immer beisammen und erzählten einander, die Klar und ihr Philipp. Keinem Menschen gab sie eine Aus- kunst. Nicht einmal recht sehen ließ sie sich. Der Schlüssel war nun kaum mehr daheim. Beständig unterwegs. So gingen die ersten Tage hin. Philipp mied das Dorf« Er war hier scheu. Am Abend ging er mit der Mutter ins Freie. Und ein- mal gingen sie der Eulenmühle zu. 's ist da alles anders." Tut nichts," sagte Philipp. Die Nebel zogen durch die Erlen, die Blätter der Pappeln flüsterten, das Haar der Weiden wehte. Das ist all noch, wie eS war," meinte Philipp« Sie gingen schweigend. Hast viel ausgehalten?" fragte die Mutter. Er antwortete nicht. Durch die Bäume strich der Abendwind und lief sprung» weise über das hohe Wiesengras und glitt sachte am Ufer des Wassers hin. Was ich die Jahre immer gemeint Hab sie seufzte ich Hab Dir ein besser Leben machen wollen, als ich eines ge- habt Hab, und nun hast Du grad so schlecht eines gehabt wis ich. Aber ich Hab nit besser gewußt und hatt mich nit zu be- klagen: aber Du hättst doch besser haben können." Ja, Muter," sagte er,es ist uns beiden gleich schwer gewesen so wie es uns sein mußte. Kann Dir das Leben noch etwas tun?" Mir schon lange nit" und sie hob den Kopf und die Schulter. Sie lächelte fast. Da sah er sie stolz an. Sie sahen sich beide sehr ähnlich jetzt. Aber war's auch für Dich nötig? Was hast Du davon?" Er neigte den Kopf zu ihr und küßte sie auf die Wange. Dann flüsterte er ihr ins Ohr: Leids genug, um gut zu sein wie Du. Mutter, und Weh» mut genug aus allem, die Menschen zu verstehen und ihre Not zu begreifen und sie auch ums Uebelste nicht zu der» dämmen. Und noch etwas, Mutter, die Welt sehr gerne zu haben, wie ich Dich habe und wie Du sie hast." Ja," sagte sie,und für mein ganz schwer Leben noch mal, von a bis z noch mal, leben möcht ich doch. Schön ist'S doch, daß man lebt." Die Eisenbahn raste über den Damm. Tut's Dir nit das Herz bobbern willst Du nit wieder hinaus in die Welt, wenn Du die Bahn siehst?" Am Ende bin ich noch nit" er nahm den Dialekt auf. Aber was nun kommt, ich steh meinen Mann." Wär's nit auch anders möglich gewesen?" Er besann sich. Eine Pappel lag ihnen quer über den Weg. Er blieb stehen. Da siehst Du's, Mutter. Der eine Baum wird Bau- holz, der andere Brennholz, der eine fällt von selbst, der andere mutz gefällt werden, und wieder einer fällt nie und verfault auf seinem Platze." Hast recht," sagte sie.Und was vorbei is. is vorbei. Meinst nit! Und ich bin nur froh, daß Du gekommen bist. Sie haben immer im Dorf gesagt. Du wärst ein Lump worden." Sie gingen schweigend. Die milde Feuchte des Wiesen» grundes umkoste sie. Wie Du Bub warst, he?" fragte sie. Ja, wie ich Bub war!" Und jetzt bist Du grad wieder so, wie Du als Bub warst." Sie gingen wieder schweigend. In der Eulenmllhle ging ein Licht auf. Der Hund bellte. Gehen wir doch nicht hinein," sagte Philipp,es ist schöner so." Sie gingen über die weiße Brücke der Selz bis zu dem lebenden Zaun, der um die Eulenmühle gezogen ist, blieben einen Augenblick stehen, lauschten auf den Wasserfall, dann nahmen sie sich an der Hand und gingen langsam den stillen Weg zurück. Man sah oben am Viadukt die Lichter des Dorfes. Die Mutter mußte sich ein-n Augenblick setzen. Wei�t Du. wie tu* ich jetzt bin?"