Hlnterhaltungsblatt des vorwärts Vh. 208. Dienstag öen 25. Oktober. 1910 (Nachdruck cctOoterU 783 Der Entgleiste. Von Wilhelm Holzamer  . Eine Depesche von Professor Winter war eingetroffen. Sie lautete kurz:Sofort kommen!" Philipp depeschierte zurück, fragend, lvas denn sei. Aber es kam nur die Ant» Wort:Sofort kommen!" So fuhr er hin. Nun war er wieder in der alten Universitätsstadt. Sie war tot für ihn. Sie war so tot für ihn, daß er ihre alten Häuser hätte stu- dieren und" nach den Daten ihrer Erbauung registrieren - können, nur interessiert für ihr Alter und ihre künstlerischen Eigenschaften und Werte. Er ging ruhigen Gemütes durch die winkeligen Gassen. Er war nicht heiter, nicht traurig. Er war nur ernst und still. Nun stand er seinem Lehrer gegenüber. Sie waren beide noch nicht alt. Der Altersunterschied, der zwischen ihnen be- stand, zählte nun nicht. Sie konnten als gleichalterig an- gesehen werden. Vielleicht sogar erschien Philipp der ältere von beiden. Sein Haar war licht und an den> Schläfen er- graut. Sein Bart war meliert. Und sie standen einander gegenüber in dem Gefühl ihrer Geltung. Die Begrüßung war kurz und einfach gewesen. Dann sagte Professor Winter: Ich habe nicht geringen Groll gegen Sie gehegt, als Sie mich schmählich verlaffen hatten. Ich habe etwas erreicht hier, aber ick hatte immer das Gefühl, es wäre mehr ge- worden mit Ihnen. Aber nun ist's gut. Nun habe ich er- kannt, daß es so besser war. Man muß abwarten können. Aber wer kann das heutigentags noch? Wo die Behörde nicht drängt, drängen die Winkelschreiber. Das ganze heutige Leben ist eine ungeiunde Hetze, und die Kleinstadt ist die ungesundeste Institution, die es im heutigen Leben gibt, sie ist nicht mehr Dorf und ist noch nicht Stadt darum bringt sie einen ex- panierten Menschen um. Aber was ich sagen wollte: bei mir ist nun kein Platz mehr für Sie aber über mir wäre einer. Der richtige Platz ist für sie frei: im M i n i ste r i u in. Ihr Wirken bekommt Weite, das ganze Land hat Nutzen da- von, und Ihre Persönlichkeit garantiert dafür, daß ihre Ar- beit nicht in dem deliebten Bureaukratismus erstarrt, der allen Fortschritt unterbindet und alles auf das Schema fest- legt. Ich bin noch der alte Gegner, der ich war. Und weil ich ein Gegner bin, darum habe ich für Sie vorgearbeitet. Nehmen Sie den Posten an, dann löst sich meine Gegnerschaft in das auf, wesbalb sie existiert: in die stete, freie Arbeit der EntWickelung. Welcher Mensch von heute ertrüge noch anders das Leben? Uebrigens, mein Freund, man sieht Ihnen die Zeit an, die Sie hinter sich haben! Was denken Sie zu meinem Vorschlag?" Ist es Ihr Ernst?" Vollkommen!" Täuschen Sie sich nicht in mir!" Ich täusche mich nicht." Uebernehmen S i e das Amt?" Mein Freund, es gibt Kaufleute, die sind gute Geschäfts- / fllhrer für andere. Wenn sie sich selbständig machen, machen sie bankerott. Ich kenne mich" er lächelteund ich weiß, wo ich mein Bestes leiste. Ich schreite weiter fort und gehe weiter voraus hier auf meinem Posten, den ich mir geschaffen, als ick andere weiterführen könnte." Aber ich?" Sind Sie eitel geworden in den Jahren? Uebrigens will ich Ihnen etwas sagen: ich habe gestern an den Groß- Herzog   geschrieben und" er lächelte wiederunter uns: eine glänzende Empfehlung von Doktor Laforet mitgeschickt riebst Ihrem gemeinsamen Werk." Ich habe Feinde da oben und das ganze Land wäre gegen mich." Da werden Sie also umso deutlicher zeigen, wer Sie find!" Philipp entschied sich nicht. Sie verbracywn den Abend zusammen. Philipp erkundigte sich nach seiner geschiedenen Frau. Sie ist wieder verheiratet, an einen Fabrikdirektor bei Frankfurt  . Es soll ihr gut gehen." Philipp ward still. Sie schleppen das noch mit sich?" bemerkte Professor Winter. Philipp wurde eine Schattierung bleicher. Es vergißt sich ja doch nicht. Es bleibt eine Narbe davon. Man hat das Schicksal, man hat Leid und Schmerzen eine? Menschen auf dem Gewissen. Dann fröstelt man im Sonnen- schein, weil man an kalte Tage denkt und wenn etwas still in einem gsvorden, dann hört man auf einmal ein leises Tropfenrinnen, wie im Herbst, wenn die Feuchte von den Blättern fällt. Das gibt jedesmal ein Zucken und Brennen, und man kann sich nicht verschließen." Ja aber" wollte der Profesior einwerfen. Ich kenne alle Aber und dennoch." Ich wollte nur das eine Wer sagen, man muß das eben mit sich tragen und sich nicht davon unterkriegen lassen. ES gehört zu einem, wie zu einem Menschen ein Muttermal ge- hört. Im Gegenteil, was eil« Schwäche ist ich meine, eine schwache Stelle daraus kann eine Stärke werden. Wenn einem der eine Arm fehlt, so muß er den anderen so gut aus- bilden, daß kein Mensch daran denkt, daß er alles, was er leistet, nur mit einem Arm leistet." Am Morgen packte Philipp die Lust, alle Wege zu gehen. Und er ging sie. Die Straßen der Stadt, die Spaziergänge draußen, tiefer in den Wald hinein. Erinnerung. Wie viel war nun schon Erinnerung geworden in seinem Leben im Freudigen und im Schmerzlichen, und er sah ihm gelassen und ruhig ins Auge. Es wurde nicht mehr seiner Herr, es zwang ihn nicht unter. Er verkroch sich nicht davor und fühlte keine Unrast davon. Es lag alles als ein schöner und reicher Besitz in ihm, gegenwärtig stets, alles Frohe lind und lindernd, alles Schwere gewiß und sacht. Und wo es Rechenschaft forderte, gab er sie, und er gab sie ohne Scheu, frei und verant- wortungsvoll. Vom Hofe war die Antwort an Profesior Winter ein- getroffen. Der Großherzog erwarte den Doktor Kaiser gegen Abend imNeuen Palais  ". Philipp fuhr hin. Der Fürst empfing ihn in seinem Arbeitszimmer, das von Otto Eckmann   herrührt. Im Kamin brannte ein Scheit. Es war eine wohlige Wärme in dem Raum. Der Großherzog ging ihm entgegen und reichte ihm die Hand. Philipp ergriff sie. Und nun sah ihn der Fürst mit einem langen, schweigenden Blick an. Ein Lächeln glitt über seine Züge. Ich kenne Sie," sagte er. Dann bat er Phifipp, Platz zu nehmen. Sie sprachen zunächst nicht von der Angelegenheit. Sie sprachen Allgemeines, vom Leben, von der Kunst, von der Zeit, von Vergangenheit und Zukunft, von Zusammenhängen und Forderungen. Sie unterhielten sich angeregt. Philipp war bald ganz frei von Scfcu und abwägender Zaghaftigkeit geworden. Er fühlte den Menschen, der ihm gegenübersaß, der die Interessen und Wesentlichkeiten seiner Zeit verfolgte, zu verstehen trachtete und tausend Fühler nach ihnen aus- streckte, sie wirklich und im Kerne zu erfassen, in seine Natur hereinzuziehen und für feine Stellung fruchtbar werden zu lassen. Sie sprachen von dem Aufbau des Lebens, von dem Ausbau der Persönlichkeit. Sie sprachen vom Beruf der Zeit und ihrer Menschen und sprachen von ihren Reibungen und Trieben, um zu ihrem Hauptzuge, ihrer eigentlichen Kraft vorzudringen. Das Scheit knisterte fin Kamin. Dämmerung lag im Zimmer. Sie trank den weichen rötlichen Feuerschein weich in sich ein. Ter Großherzog saß im Sessel am Fenster, Philipp saß dem Kamin gegenüber in einem niedrigen Fauteuil. Und je nachdem er den Kopf bewegte, fiel der schein des Feuers auf fein Antlitz. Das Gesicht des Großherzogs aber war ständig von der matten Helle des verwehenden Tages be­leuchtet, die noch draußen den Garten erfüllte. Dann wurde draußen eine Laterne angezündet, und der Schein, der durch das Fenster fiel, war weiß und scharf. Aber die Züge des Fürsten   wurden nicht hart. Sie bewahrten ihren inneren Glanz, ihre bewegte Interessiertheit, ihre freudige Angeregt- Heft gegen das scharfe Licht, das sie traf. Die Augen funkelten. Philipp war in der Erregung des Sprechens auf- gestanden. «Es ist richtig," sagte er,«die barbarischen Völker haben