Unterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 209. Mittwoch 26. Oktober 1910 (Nachdruck verbolen.j m Der Entgleiste. Von Wilhelm Holzamer . (Schluß) Um Philipp wirbelt« die Welt. Es war ihm heiß ge- worden. Der Herbstabend war feucht und kühl. Er fröstelte. Rings um ihn war es wie ein Kichern. Kichern von tausend dünnen, höhnenden Stimmen. Was hatte er auch sein Herz aufgeschlossen! Was man verschlossen darin hält, bleibt reiner Besitz— was man den Menschen daraus dar» bietet, wird hintennach doch nur verhöhnt. Gegen sich selbst offen— anderen verschlossen, das ist die höchste Weisheit und Klugheit. Er verschloß gewaltsam seinen Sinn gegen alles Höhnen und Kichern. Dann sprach eine weiche Stimme ganz von ferne. Sie zog ihn weiter. Er ging wie im Traume durch die Stadt. „Auf Wiedersehen!" klang ihm im Ohre, und es löste den Gedanken aus, dieses Wiedersehen zu vermeiden und alles auszuschlagen, was so verlockend an ihn herangetreten war. Er hatte sich verlocken lassen daran würgte er nun. Es ließ ihn wie Spott und Vorwurf die ganze Fahrt nicht los. Sie schien ihm ewig. Endlich war er in Mainz und hatte gerade eine Minute Zeit, in seinen weiteren Zug zu springen. Und er kam zu Hause an— und er fand Melanie bei seiner Mutter bei der Lampe sitzen. Da war ihm aller Wider- spruch in diesem Bilde gelöst, das voll des Friedens und schönen Menschenseins war. Melanie trat auf ihn zu, und er umarmte sie, während sie sagte:„Ich danke Dir, daß Du mich gerufen hast, mein Ge- tiebter— o, ich dank Dir so sehr! Und daß ich zu Deiner Mutter habe kommen dürfen." Auf ihrer Bank hinter dem Tisch weinte die Mutter. Philipp legte ihr die Hand auf den Scheitel und sagte:„Es wird nun alles schön für Dich, Mutter, schöner als Du Dir denken kannst." Sie fragten einander, wie es ihnen gehe. Da lächelte die Mutter. „Das müßt Ihr Euch morgen sagen— dazu reicht der Abend und die Nacht nicht. Seid froh, daß Ihr Euch habt." Sie schickte Philipp hinauf in sein Stübchen. 24. Das Dorf lag in seinem Sonntagstraum. Vom Sonntag war Philipp überrascht worden. Er hatte die Tage der Woche nicht gezählt. Tief klangen die Glocken und zogen voll übers Tal hin. Im Felde draußen war es still. Die Gärten schlummerten. Drei Menschen gingen schweigend durch das Feld. Sie fanden nicht Worte, sie wußten nicht wo beginnen. Der Mutter riß die Geduld. „So redet doch— was habt Ihr denn?" Sie lachten. „Wir reden ja, Mutter," erwiderte Philipp. Und bald kam auch eine Unterhaltung in Fluß. „Wo hat Dich mein Brief gmoffen?" fragte Philipp. „In Paris selbst. Ich bereitete mich für die kommende Saison vor, ich hätte in Paris jetzt gespielt und hatte mit Astruc schon abgeschlossen." Sie sprachen von Paris . „Wird Dir's nicht schwer, nicht zu spielen?" „Wenn ich Dich habe— nein!" „Und wurde Dir die Zeit nicht schwer?" „Wie Du fragen kannst! Ja, sie wurde mir schwer. Und dennoch, ich habe so an Dich und Deine Liebe geglaubt, und ich war meiner Liebe so froh und so glücklich in ihr— ich wollte ihr jedes Opfer bringen. Ich wollte verzichten und nichts besitzen im Leben, denn ich wußte, ich hatte doch ein Glück in ihr, und es müßte von meinein Glück eine Wärme und eine Kraft zu Dir strahlen— und das müßte Dir nützen. Es war so ein wunderbarer Glaube und ein so wunderwirkendes Vertrauen! Weißt Du, wie Priester die Monstranz tragen— so trug ich meine Liebe. Und ich hatte aus meinem Herzen eine heilige Monstranz gemacht, und mein ganzes Wesen war von Heiligkeit erfüllt. Ich wurde gesund, und ich war heiter. Es ist nichts Schö»eres in der Welt, als Glauben und Vertrauen haben." Die Glocken läuteten und verkündeten die Verwandlung des Brotes in den Leib des Herrn. Melanie weinte. „Ich weiß nicht, ob ich je so glücklich sein werde im Er- reichten, wie ich es in der Erwartung war," flüsterte sie.„Und ich habe doch so viel ausgeholten. Aber ich will gut sein. Ich werde gut sein." „Und Deine Kunst?" Sie besann sich. „Ich werde sie ja nicht verlieren. Sie wird eine Stimme sein in unserem Glück, die spricht, wenn sonst keine Stimme innig genug sein könnte. Ich will sie Dir schenken und allen, die Dich lieb haben und die Du lieb hast. So besitze ich sie ja am schönsten." „Und"— er zögerte—„Deine Gesundheit?" Sie errötete tief. „Taormina hat mir geholfen— das Meer— die Ruhe — und die Kraft meiner Liebe, weil sie mir den Willen ge- geben hat, gesund zu sein und die Energie, eS zu werden. Und weißt Du, wenn ich oben in Taormina auf meinem Plätzchen faß, weißt Du. was ich gedacht habe: wenn Du da wärest! Wenn Du da vielleicht ein Krankenhaus hättest, in diesem Paradies, in dieser Schönheit, und könntest heilen. Aus der ganzen Welt müßten die Kranken hier zusammen kommen." „Die reich genug sind," warf er ein, und es klang hart. Sie sah ihn erschrocken an. „Ja, Tu hast recht. O Du Guter, daß Du gerade für die Armen da sein willst! Ich will es auch! Ich habe ihnen manchmal gespielt in Taormina — sie waren wie die Kinder, so glücklich und so dankbar. Aber sehen solltest Du dies Fleckchen Erde doch, es ist wunderbar." Er sann nach. Und er sagte: „Ob ich noch so recht glücklich fein kann, ich glaube nicht. Ich glaube, ich habe die Kunst des Glücklichseins verlernt. Oder ich habe sie nie recht besesien. Was ich aber davon be- sessen, das haben mir die Jahre zermürbt und zerrieben. Es geht nicht anders, man kommt ohne seinen Verlust nicht davon. Wenn man nur nicht ganz bankerott geworden, dann soll's schon gut sein.". Sie sah ihn lange an, und ihr Gesicht wurde immer heller und strahlender: „Ich werde Dich das Glück lehren. Das ist das Schönste und Beste an uns Frauen— wir sind dem Glück näher als ihr Männer, und ich glaub« sogar, wir sind da, daß wir es in uns tragen, um es Euch zu bereiten. Darum will ich Dir auch meinen schwersten Vorwurf sagen, an dem ich gelitten. Es ist der, daß ich mein Glück, mein gebendes Glück, nicht gleich bereit hatte für Dich und daß ich Dich ohne Besinnen einlud, an meinem Tische zu prassen. Aber siehst Du, ich wußte ja nicht, ob ich eine Tafel Dir decken könnte— und ich wußte auch nicht, ob Du prassen könntest. Ach nein, das nicht, dies war es: ob Du prassen dürftest, wußte ich nicht. Ich trug zu viel Verantwortung fiir Dich, ich fühlte zu viel Ver- antwortlichkeit." „So hätte jener Zyniker Recht, der gesagt hat, die Frau dürfe kein Verantwortungsgefühl haben?" „Ich will Dir sagen, es sollte so und nicht anders sein. Und es konnte vielleicht auch nicht anders sein. Wir sind alle als Probleme in die Welt gesetzt, ohne daß wir ihren Sinn wissen— und wir sind uns überlassen, wie wir unser Problem lösen wollen. Dem einen gelingt's leichter, dem anderen schwerer. Aber wenn es nur gelingt. Ich glaube, u n s ist's gelungen. Und wenn nicht, so werden wir einander helfen, daß es uns gelingt. Jedenfalls aber werden wir einander nicht im Wege sein." Die Mutter kam ihnen nach und rief ihnen zu: „Ich hätt gedächt, daß Ihr lustig wärt— aber Ihr geht nebeneinander her, wie die teuer Zeit. Danzt doch— Herrgott, wenn ich Euch tttfr! Gelacht Hab ich und gcdanzt Hab ich, und wenn's Mühlstein vom Himmel geregnet hat. Seid
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27 (26.10.1910) 209
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