Ein zweiter Schuß von anderem Klange tönte fast im gleichen Moment. Der Jäger war ins Herz getroffen. Seine Flinte entlud sich; er hatte den Finger am Abzüge gehabt. Er rief ein unverständliches Wort, machte einen merkwürdigen Schritt, fast einen Laufschritt vorwärts, und fiel dann schwer mit dem Gesicht in die Büsche. Adam Jtolinta vergrub den Revolver und schritt ohne Heber- fiürzung, aber mit triumphierendem Gesicht davon. Er war seit dem Tode Brüderchens zum erstenmal wieder fröhlich. Da scholl plötzlich ein Winseln herüber, das in langgezogene Hcultöne überging. Wie gebannt blieb der Vagabund stehen. Es war der Hund... der Hühnerhund, der an der Leiche seines Herrn heulte. Das fröhliche Lächeln auf den Lippen Adam Kalinkas schwand. Die Angst befiel ihn, das Grauen... er sloh über Stoppeln und Wiesen, keuchend, rastlos... immer verfolgt von dem Winseln und Heulen. Er lief auch jetzt durch drei Dörfer bis in sein Hcimatnest, wo die windschiefe Baracke stand. Und die Nacht war schrecklich. Er hatte keinen Schnaps mehr. Er wagte nicht, vor die Tür zu gehen. Er fürchtete, daß da der Hühnerhund sein würde. Den Jäger hatte er vergessen. An den dachte er nicht. Aber der Hund... der Hund! Am nächsten Morgen stellte er sich selbst dem im Dorfe stationierten Gendarmen. Der wurde zuerst gar nicht klug aus ihm, denn die beiden Hunde das Brüderchen und der Hühnerhund   spielten in seinen wirren Erzählungen die Hauptrolle. Ganz nebenbei kam heraus, daß er den Jäger erschossen hätte. Da führte der Gendarm ihn dem nächsten Gerichtsgefäng- nisse zu. Nebeneinander schritten sie die Chaussee entlang. Es war herbstliches Wetter; ein feiner Regen rieselte; die Wipfel sauften und statt der Marienfäden taumelten Blätter, grüne und gelbe, durch die Luft. .Er heult," sagte er plötzlich und blieb stehen. Er weigerte sich, weiterzugehen. Der Beamte mußte ihn beim Arme nehmen. In dem langgezogenen Sausen des Windes hörte der Vagabund nur das winselnde Heulen des Hühnerhundes. Pan Wachtmeister," sagte er stockend,»sie sind bessere Menschen wie wir. Selbst dem Mörder... halten sie Treue." Dann sank er wieder in sich zusammen und schritt neben dem Gendarm die Chaussee entlang... einer Zukunft zu, von der er sich freilich keine rechte Vorstellung machen konnte. Emanzipation dee flcifches. Zum 100. Geburtstag Karl Gutzkows(17. März). Unglückliche Jugend! DaS Feld der Tätigkeit ist dir verschlossen, im Strome der Begebenheiten kann deine wifsensmatte Seele nicht wieder neu- geboren werden; du kannst nur lächeln, seufzen, spotten, und die Frauen, wenn du liebst, Unglück- lich machen! Wally, die Zweiflerin. Die Wcimaraner des klassischen deutschen Schrifttums hatten das-, was die reaktionären Hetzer bis auf unsere Tage als die um- stürzlerische Teufelsunzucht der Emanzipation des Fleisches oder auch der freien Liebe verfchrieen haben, in der Praxis ihrer per- sönlichcn Lebensführung bereits vollendet. Wie das scheidende 18. Jahrhundert sich schon völlig losgelöst hatte von aller reli- giöscn Befangenheit, so wußte es auch nichts mehr von den as- ketischen Idealen des Christentums, und in der Ehe sah es nicht mehr als die höchst nüchterne Einrichtung bürgerlicher Zweck- Mäßigkeit. Ein Leben heidnischer Sinnlichkeit war nicht nur die Dichtung, sondern auch die Wirklichkeit Goethes. Die Ehekritik verlief sich merkwürdig häufig in das Problem der Doppelehe. Würger, Goethe, auch Schiller   beschäftigten solche Gedanken in der Dichtung wie im Leben. In dieser Auflehnung gegen das geschlechtliche Philistertum entwickelte sich die selbständige Per- sönlichkeit der Frau. Die Zeit war reich an Frauen, die in der Entfaltung ihrer Lebensschnsucht keine Grenzen mehr achteten, das Recht auf Leidenschaft und freie LiebeSwahl ward von vielen bedeutenden Frauen betätigt. Lose, illegitime Bündnisse ebenso wie hastige Eheschließungen und Scheidungen waren häufig. Schon wagt die Tochter eines deutschen Gelehrten, von Ort zu Ort pilgernd, mit allen hervorragenden Männern Beziehungen anzu- knüpfen, zu dem ausgesprochenen Zweck, die Rasse mannigfach zu veredeln. Aber die Emanzipation der Frau bleibt innerhalb der Entfaltung ihrer geistigen und geschlechtlichen Bedürfniss?. Noch denkt kaum jemand an die politische und wirtschaftliche Gleichbe- rechtigung. Und als der Königsberger   Bürgermeister Hippel, der vertraute Freund Kants, eine dämonisch verfallene Doppelnatur, in einem anonymen Büchlein zum ersten Mal die volle Gleich- berechtigung der Frau auf allen Gebieten fordert,die bürgerliche Verbesserung der Weiber", hielt man allgemein die sehr ernsthafte Schrift für eine ausgelassene Satire auf die Emanzipierten. WaS die Klassiker unbefangen wie etwas Selbstverständliches im Leben durchführten, ohne sonderlich viel darüber zu philoso- phieren, wurde der romantischen Rcektion zum tieffinnigen Pro« blem. Die befreite Sinnlichkeit verzückte sich ins Mystisch» Religiöse. Die grausen Irrungen, die ehelichen und unehelichen Abenteuer, in denen sich die Romantiker, bevor sie katholisch wurden, tummelteu entwickelten sich zu iner schwärmenden Meta-> Physik der Liebe, zu einem weltlichen Sulonmarienkult. In kecken Witzworten spottete man der bürgerlichen Ordnung, um sie dann in verschlungenem, religtös-grübelndcm Schwulst zu begründen und zu verhimmeln. Friedrich Schlegel   konstruierte in seiner! Lucinde die Religion der Wollust, und der Vater der liberalen Theologie von heute, Schlciermacher, verteidigte den angegriffenen Roman des Freundes in den inbrünstigen Sätzen seiner»ver- trauten Briefe" über die Lucinde. Je mehr die Deutschen   unter dem Druck des Polizeistaates von jeder öffentlichen Betätigung ferngehalten wurden, um sa leidenschaftlicher tauchten sie in die Fragen des persönlichen Lebens. Die Beziehung der Geschlechter, die bürgerliche Ehe usur- pierte das revolutionär drängende Interesse, das sich in der Politik nicht betätigen durfte. In der Emanzipation des Fleisches ver- barg sich die Sklaverei des öffentlichen Lebens. Mit den Fragen der geschlechtlichen Moral aber versippten sich auf das engste die religiösen Probleme, nicht nur wegen der christlichen Askese. sondern auch aus dem natürlichen Grund, daß die damalige Ehe nur in der kirchlichen Segnung möglich war. Nach der Juli- revolution, die alle Gemüter in die ungeheuerste Gärung riß und ein neues frohes Reich der Freiheit in die Möglichkeit eines nahen Tages zu rücken schien, mischt sich in die Diskussion der Geschlechts- frage bereits die Erörterung der sozialen Stellung der Frau. Saint-Simons kommunistische Ideen beschäftigten alle Geister. In Frankreich   zeichnete die Sand in Romanen die Gestalt der von aller bürgerlichen Konvention losgelösten Frau, und ihre Lclia befruchtete auch die junge deutsche Literatur. Aber die revolu, tionäre Theorie mußte sich in Deutschland   tatenlos verbluten. Gerade deshalb, weil diese tatendurstige Jugend keine Beschäftigung fand, drängte sich ihre unfruchtbare Sehnsucht wieder in die gc- schlechtliche und religiöse Theorie zusammen. Der Zerrissene wird der typische Romanhelo. der im Irrgarten der Liebe taumelnde Kavalier, der aber jedesmal, wenn er eine Blüte pflückt, grüblerisch die Staubfäden zählt mrd über die Kelchblätter philosophiert. Mit einem dieser zahlreichen Emanzipationsromane sprang auch der junge Karl Gutzkow   in die keck eroberte Unsterblich­keit dcS literarischen Skandals. 183S erschien seine..Wall y, die Z w e i f l e r i n", die seitdem in frommen Literaturgeschichten- niemals erwähnt wird, ohne daß die Verfasser sich in sittlichen! Mähungen winden. Die Bedeutung dieses Romans liegt nicht in dem, was in ihm geschrieben ist. sondern in der denunzierenden Kritik, die ihm folgte. Gutzkow   hat in der Wally sich mancherlei persönliche Erfahrungen vom Herzen geschrieben, ohne daß es ihm gelungen wäre, sie künstlerisch gestaltend so zu objektivieren, daß das Werk auch ohne Kenntnis des privaten Daseins seines Ber- fassers als Dichtung zu wirken vermöchte. Gutzkow   hat schon, vor- her sich mit der geschlechtlichen Moral und der bürgerlichen Ehe auseinandergesetzt. Als nach dem Tode Schleiermachers dessen Werke gesammelt, aber von den Frömmlern die vertrauten Briefe über die Lucinde in gottseliger Angst unterdrückt wurden, gab Gütz- iow diese Briefe neu heraus un!d begleitete sie mit einer ziemlich rücksichtslos sich bekennenden Vorrede. In der Wally versuchte ec nun dichterisch zu gestalten, was er in jener Vorrede theoretisch er- örtcrt hatte. Das Schicksal jener Charlotte Stieglitz   schwebte Gütz- kow vor, deren Selbstmord eben in dieser Zeit die tiefste Bewegung hervorgerufen hatte. Um ihren nach einem kurzen literarischen Anlauf körperlich und geistig erschlafften Mann durch ein großes tragisches Erlebnis zu erwecken, hatte sich Charlotte Stieglitz  , die sinnlos heldenhafte Erscheinung einer gespannten Zeit, selbst den Tod gegeben. Unglücklich« persönliche Liebescrfahrungcn vcrwob Gutzkow mit diesem Ereignis. Wally, eine ursprünglich gläubige, einfach natürliche Frau, verliert sich unter den Wirkungen einer hoffnungslosen Liebe zwei Menschen, die sich lieben und die sich doch, aus dem Fatum der Zerrissenheit, niemals angehören können, in Zweifel an dem überkommenen Christentum, zerfasert ihr seelisches Leben und macht endlich der dunklen Qual gewaltstmr ein Ende. Den Hauptinhalt des Romans bilden Religionsgespräche, wetzende Unterhaltungen über allerlei gesellschaftliche Fragen, auch über liierarische TageSersckeinungen. Das Ganze ist blutleer, eine sprunghaft erregte Aphorismcnsammlung, die heute ganz und gar nicht aufregend wirkt. Unmittelbar nach dem Erscheinen des Romans erhob der damals allmächtige Stuttgarter   Literatnrpapst Wolfgang Menzel   das blut- dürstige Henkerbeil. In zwei Artikeln denunzierte er Gutzkow  , den- er einige Jahre vorher in der Literatur bewundernd eingeführt hatte. der Verbrechen der Gotteslästerung und der Unzucht. Menzel- witterte in dem heraufkommenden Schriftsiellergeschlecht die Zer­störung seiner Alleinherrschaft, und er schrieb seine Artikel zu dem ausgesprochenen Zweck, sich die gefährlichen Rivalen mit Hilfe der Staatsgewalt vom Halse zu schaffen. Im Verlauf der wcitgespon- neuen literarischen Fehde appellierte er direkt a» die preußische und bundesrätliche Polizei. Preußen ließ sich nicht lange bitten, eS konfiszierte Wally und erließ dann zuerst jenes Verbot aller früheren und zukünftigen Werke des jungen Deutschland  , das dann vom Deutschen Bundestag verallgemeinert wurde. Das Ver- bot, das bis zum Jahre 1842 aufrechterhalten wurde, zerbrach die Existenz der Getroffenen. Außer Heine hat nur Karl Gutzkow