Hlnterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 67. Mittwoch öen 6. Apnl� 1911 lNachdruS verdoten.1 23 Das Gemeindckind. Erzählung v. Marie v. Ebner-Eschenbach  . 2. An den Vorstand der Gemeinde Soleschau trat nun die Kroge heran: Was geschieht mit den Kindern der Verurteil ten? Verwandte, die verpflichtet werden könnten, für sie zu sorgen, haben sie nicht, und aus Liebhaberei wird sich niemand dazu verstehen. In seiner Ratlosigkeit verfügte sich der Bürgermeister mit Pavel und Milada nach dem Schlosse und ließ die Guts frau bitten, ihm eine Audienz zu gewähren. Sobald die alte Dame erfuhr, um was es sich handelte. kam sie in den Hof geeilt, so rasch ihre Beine, von denen eins merklich kürzer als das andere war. es ihr erlaubten. Das scharf geschnittene Gesicht vorgestreckt, die Brille auf der Adlernase, die Ellbogen weit vorgeschoben, humpelte sie aus die Gruppe zu. die ihrer am Tore wartete. Der Bürger- Meister, ein stattlicher Mann in den besten Jahren, zog den Hut und machte einen umfänglichen Krabfuß. Was will Er?" sprach die Schloßfrau, indem sie ihn mit trüben Augen anblinzelte.Ich weiß, was Er will: aber da wird nichts daraus, um die Kinder der Strolche, die einen braven Pfarrer erschlagen haben, kümmr' ich mich nicht.. Da ist ja der Bub. Wie er ausschaut! Ich kenn ihn: er hat mir Kirschen gestohlen. Hat Er nicht?" wandte sie sich an Pavel, der braunrot wurde und vor Unbehagen zu schielen begann. Warum antwortet Er nicht? Warum nimmt Er die Mütze nicht ab?" Weil er keine hat." entschuldigte der Bürgermeister. So? Was sitzt ihm denn da auf dem Kopf?" Struppiges Haar, freiherrliche Gnaden." Ein helles Lachen erscholl, verstummte aber sofort, als die Greisin den dürren Zeigefinger drohend gegen die erhob, die es ausgestoßen hatte. Und da ist das Mädel. Komm her." Milada näherte sich vertrauensvoll, und der Blick, den die Gutsfrau auf dem freundlichen Gesicht des Kindes ruhen ließ, verlor immer mehr von seiner Strenge. Er glitt über die kleine Gestalt und über die Lumpen, von denen sie um- hangen war, und heftete sich auf die schlanken Füßchen, die der Staub grau gefärbt hatte. Einer der plötzlichen Stimmungswechsel, denen die alte Dame unterworfen war. trat ein. Allenfalls das Mädel," begann sie von neuem,Null  ich der Gemeinde abnehmen. Obwohl ich wirklich nicht weiß, wie ich dazu komme, etwas zu tun für die Gemeinde. Aber das weiß ich. das Kind geht zugrunde bei Euch, und wie kommt das Kind dazu, bei Euch zugrunde zu gehen?" Der Bürgermeister wollte sich eine bescheidene Erwiderung erlauben. Red Er lieber nicht," fiel die Gutsfrau ihm ins Wort, ich weiß alles. Die Kinder, für welche die Gemeinde das Schulgeld bezahlen soll, können mit zwölf Jahren das A vom Z nicht unterscheiden." Sie schüttelte unwillig den Kopf, sah wieder auf Miladas Füße nieder und setzte hinzu:Und die Kinder, für welche die Geineinde das Schuhwerk zu bestreiten hat. laufen alle barfuß. Ich kenn Euch," wies sie die abermalige Einsprache zurück, die der Bürgermeister erheben wollte,ich Hab es lang aufgegeben, an Euren Einrichtungen etwas ändern zu wollen. Nehmt den Buben nur mit und sorgt für ihn nach Eurer Weise: der ver- dient'S wohl, ein Eemeindekind zu sein. Das Mädel kann gleich da bleiben." Der Bürgermeister gehorchte ihrem entlassenden Wink, hocherfreut, die Hälfte der neuen, seinem Dorfe zugefallenen Last losgeworden zu sein. Pavel folgte ihm bis ans Ende des Hofes. Dort blieb er stehen und sah sich nach der Schwester um. Es war schon eine Dienerin herbeigeeilt, der die gnädige Frau Anordnungen in bezug auf Milada erteilte. Baden," hieß es,die Lumpen verbrennen, Kleider auS- suchen ans dem Vorrat für Weihnachten  ." Bekommt sie auch etwas zu essen? fuhr es Pavel durch den Sinn. Sie ist gewiß hungrig. Seitdem er dachte, war es seine wichtigste Obliegenheit gewesen, das Kind vor Hunger zu schützen. Kleider haben ist schon gut, baden auch nicht übel, besonders in großer Gesellschaft in der Pferdeschwemme.   Wie oft hatte Pavel die Kleine hingetragen und sie im Wasser plätschern lassen mit Händen und Füßen! Aber die Haupt­sache bleibt doch nicht hungern. Sag, daß Du hungrig bist!" rief der Junge seiner Schwester crmahnend zu. Jetzt ist der Kerl noch da! Wirst Dich trollen?" hallte es vom Schlosse herüber. Der Bürgermeister, der schon um die Ecke des Garten- zauns biegen wollte, kehrte um, faßte Pavel am Kragen und zog ihn mit sich fort. Drei Tage dauerten die Beratungen der Gemeinde- vorstände über Pavels Schicksal. Endlich kam ihnen ein guter Gedanke, den sie sich beeilten auszuführen. Eine Deputation begab sich ins Schloß und stellte an die Frau Baronin das untertänigste Ansuchen: weil sie schon so dobrotiva(allergütigst) gewesen, sich der Tochter des unglück- lichen Holub anzunehmen, möge sie sich nun auch seines Sohnes annehmen. Der Bescheid, den die Väter des Dorfes erhielten, lautete hoffnungslos verneinend, und die Beratungen wurden wieder aufgenommen. Was tun? Das in solchen Fällen gewöhnliche," meinte der Bürger- meister:der Bub geht von Haus zu Haus und findet jeden Tag bei einem anderen Bauer Vcrköstigung und Unterstand. Alle Bauern lehnten ab. Keiner wünschte den Spröß- ling der Raubmörder zum Hausgenossen der eigenen Spröß- linge zu machen, wenn auch nur einen Tag lang in vier oder fünf Wochen. Zuletzt wurde man darüber einig: Der Junge bleibt, wo er ist wo ja sein eigener Vater ihn hingegeben hat: bei dem Spitzbuben, dem Gemeindehirten. Freilich, wenn die Gemeinde sich den Luxus eines Ge- Wissens gestatten dürfte, würde es gegen dieses Auskunfts- mittel protestieren. Der Hirte(er führte den klassisckien Namen Virgil) und sein Weib gehörten samt den Häuslern, bei denen sie wohnten, zu den Verrufensten des Ortes. E r war ein Trunkenbold, sie. katzenfalsch und bösartig, hatte wiederholt wegen Kurpfuscherei vor Gericht gestanden, ohne sich dadurch in der Ausübung ihres dunkeln Gewerbes be- irren zu lassen. Ein anderes Kind diesen Leuten zu überliefern, wäre auch niemandem eingefallen: aber der Pavel, der sieht bei ihnen nichts Schlechtes, das er nicht schon zu Hause hundert- mal gesehen hat. c, So biß man denn in den sauren Apfel und bewilligte jährlich vier Metzen Korn zur Erhaltung Pavels. Der Hirt erhielt das Recht, ihn beim Austreiben und Hüten des Viehes zu verwenden, und versprach, darauf zu sehen, daß der Junge am Sonntag in die Kirche und im Winter so oft als möglich in die Schule komme. Virgil bewohnte mit den Seinen ein Stübchen in der vorletzten Schaluppe am Ende des Dorfes. Es war ein Klafter lang und ebenso breit und hatte ein Fenster mit vier Scheiben, jede so groß wie ein halber Ziegelstein. Aufgemacht wurde es nie, weil der morsche Nahmen dabei in Stücke ge- gangen wäre. Unter dem Fenster ftand eine Bank, auf der der Hirt schlief, der Bank gegenüber eine mit Stroh gefüllte Bettlade, in der Frau und Tochter schliefen. Den Zugang zur Stube bildete ein schmaler Flur, in dessen Tiefe sich der Herd befand. Er hätte zugleich als Ofen dienen follen, er- füllte aber nur selten eine oon beiden Bestimmungen, weil die Gelegenheiten, Holz zu stehlen, sich immer mehr ver- minderten. So diente er denn als Aufbewahrungsort für den mageren Vorräte an Getreide und Brot, für Virgils nie ge- reinigte Stiefel, seine Peitsche, seinen Knüttel, für ein schmutz» farbiges Durcheinander von alten Flaschen, henkellosen Kör-